Hamburg. Nach einem Schlaganfall erleidet Tomas Gerlach das Locked-in-Sydrom. Fast ein Jahr lang kann er nur die Augen bewegen.

Tomas Gerlach kennt jemanden, der dasselbe hatte wie er, und der war neulich zum Wandern im Himalaja. Tomas Gerlachs Ziele sind etwas profaner. Er würde gerne seine Hände wieder so bewegen können, dass er nicht mehr auf einen Assistenten angewiesen ist, der ihm beim Essen hilft oder einen Becher reicht. Und der 58-Jährige ist guter Dinge, dass er dieses Ziel auch erreichen wird. Schließlich hat er schon so viel geschafft. Dass er heute wieder alleine sitzen, sprechen, atmen und einen Rollstuhl bedienen kann, war vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar.

Es ist der 16. Mai 2013, der Tomas Gerlachs Leben teilt in ein Vorher und ein Nachher. Vorher, da ist Tomas Gerlach ein engagierter Intensiv- und Anästhesiepfleger am UKE, ein Mann, der voll im Leben steht. Nachher ist er ein Mann, der bis auf seine Augen keinen Muskel seines Körpers mehr ansteuern kann. Der 16. Mai ist ein normaler Arbeitstag. Der damals 52-Jährige ist gerade im Bereitschaftszimmer, als ihn eine Kollegin anruft. Er werde im OP gebraucht und solle schnell kommen.

Gerlach lernt, mit den Augen zu sprechen

Doch schon während des Gesprächs spürt Gerlach, dass etwas nicht stimmt. Ihm ist schwindelig, Arme und Beine fühlen sich schwach an. Als Gerlach nicht wie verabredet im OP erscheint, ruft die Kollegin nochmal an. Dieses Mal kann Gerlach nur noch um Hilfe schreien. Dann bricht er zusammen. Seine Kollegen eilen heran und beginnen sofort mit den Untersuchungen. Schnell ist klar: Tomas Gerlach hatte einen Schlaganfall. Einer seiner Kollegen ruft Tomas’ Frau Anja an und berichtet, was geschehen ist. „Darüber macht man doch keine Witze“, war ihre erste Reaktion. Doch es war kein Witz.

Als Anja im Krankenhaus ankommt, scheint die ganz große Aufregung verflogen. Tomas ist ansprechbar, kann alles bewegen. Es war „nur“ ein kleiner Schlaganfall, sagen die Ärzte. Anja soll am besten über Nacht nach Hause fahren, ein paar Sachen zusammenpacken und am nächsten Tag wiederkommen. Das tut Anja Gerlach auch, aber sie hat ein ungutes Gefühl. „Mein Mann war ganz anders als sonst, sehr aufgewühlt und aufgeregt, so kannte ich ihn gar nicht.“ Wenige Stunden später klingelt wieder ihr Telefon. Sie solle sofort wiederkommen. Ihrem Mann gehe es sehr schlecht. Anja kann sich nicht mehr an die Fahrt ins Krankenhaus erinnern, sie weiß nur noch, wie da überall Geräte und Schläuche waren. Und dass Tomas nicht mehr ansprechbar war.

Seltene Folge eines Schlaganfalls

Nach erneuten Untersuchungen ist klar: Tomas hatte einen zweiten Schlaganfall. Dieses Mal in einem hochsensiblen Bereich im Stammhirn, dem sogenannten „Pons“, über den alle Bewegungsabläufe gesteuert werden. Die nächsten Tage und Nächte wacht Anja Gerlach am Bett ihres Mannes und hat gleichzeitig ein Auge auf die Vitalfunktionen auf den Displays. Anja Gerlach ist selbst vom Fach und weiß die Kurven und Linien zu lesen und zu deuten. Schnell ist sie sicher: „Mein Mann ist bei Bewusstsein. Er kann sich nur nicht mitteilen.“ Jede noch so kleine Beobachtung notiert sie und gibt sie an die Ärzte und Pflegenden weiter.

Weitere Untersuchungen bestätigen den Verdacht. Tomas Gerlach leidet an dem sogenannten Locked-in-Syndrom. Das ist eine höchst seltene Folge eines Schlaganfalls, bei der der Patient trotz vollständiger Lähmung bei vollem Bewusstsein ist. „Zu Beginn ist meist unklar, ob dieser Zustand reversibel ist oder nicht“, erklärt UKE-Neurologin Dr. Julia Hoppe. „Nerven beziehungsweise das Gehirn können sich teilweise regenerieren, das geht aber sehr langsam.“

Spezialklinik für Frührehabilitation

Wichtig ist nun, dass sofort mit der Therapie begonnen wird. Tomas Gerlach wird in eine Spezialklinik für Frührehabilitation verlegt. Der erste Meilenstein folgt prompt: Tomas Gerlach öffnet zum ersten Mal nach dem zweiten Schlaganfall seine Augen – und damit öffnet sich auch eine neue Welt. Per Buchstabentafel kann er sich fortan mit seiner Frau und dem Personal verständigen. Zuerst dauert es Minuten, bis ein Drei-Worte-Satz formuliert ist. Nach einiger Zeit sind die Gerlachs ein eingespieltes Team. Die Satzstrukturen werden komplexer. Rund drei Monate nach dem Schlaganfall übermittelt Gerlach etwa: „Das zweistündige Lagern ist mir wichtig, da ich keinen Muskeltonus habe, schmerzt es sehr schnell und führt zu Verspannungen in den Beinen und Gelenken.“

Dennoch gibt es weiterhin viele Stunden, die Gerlach damit verbringt, auf eine weiße Wand zu starren. „Am Schlimmsten war es, wenn es irgendwo gejuckt hat und ich mich nicht kratzen konnte“, sagt er heute. „Aber ich habe gelernt, dass auch das vorbei geht. Ich habe gelernt, geduldig zu sein.“ Worüber man nachdenkt, wenn die Gedanken das Einzige sind, was man noch steuern kann? „Über alles. Ich war oft sauer darüber, dass die Zeit nicht schneller verging, dass ich unbequem lag, dass mich irgendwer falsch verstanden hat und ich mich nicht erklären konnte.“

Atmen, Sprechen und Schlucken lernen

Und dann, wie aus dem Nichts, gelingt es Tomas Gerlach plötzlich, den Zeigefinger seiner linken Hand anzusteuern. Es sind nur wenige Millimeter. Aber die reichen aus dafür, dass Anja vor Freude durchs Zimmer hüpft und die ganze Welt umarmen möchte. Weitere kleine Meilensteine folgen, der größte aber ist, dass er von der künstlichen Beatmung befreit werden kann, erst nur stundenweise, später dann ganz. Atmen, Schlucken, Sprechen, all das muss Gerlach wieder ganz neu lernen.

Doch so groß die Erfolge für die Gerlachs sein mögen – für die Krankenkasse rechtfertigen die aus ihrer Sicht zu kleinen Fortschritte keine Fortführung der Reha. Tomas soll in einem Pflegeheim untergebracht werden. Doch Ehefrau Anja ist sich sicher, dass das das Ende jeder Motivation wäre. Sie entscheidet: „Tomas kommt nach Hause.“ Wie es der Zufall will, wird im Erdgeschoss ihres Mehrfamilienhauses eine Wohnung frei. Ein fleißiger Tross aus Freunden und Bekannten rückt an, hilft beim Umzug und beim barrierefreien Umbau.

Bürokratische Hürden sorgen oft für Frust

Etwa ein Jahr nach dem Unglückstag zieht Tomas Gerlach wieder nach Hause. „Das war die beste Entscheidung, die wir treffen konnten“, sagen beide heute. Am Anfang lässt Anja ihren Job ruhen, kümmert sich allein um die Pflege ihres Mannes. Es dauert Wochen, bis der persönliche Assistent für Tomas Gerlach genehmigt wird. „Wir haben bei so vielen Anträgen auf Hilfsmittel und Maßnahmen Widerspruch einlegen und kämpfen müssen, bis es bewilligt wurde“, sagt Tomas, dessen Stimme noch etwas verwaschen, aber dennoch gut verständlich ist. „Uns ist es wichtig, anderen Betroffenen zu zeigen, dass sich der Aufwand lohnt, auch wenn das Kraft kostet.“

Die Gerlachs haben sich inzwischen in ihrem neuen Alltag mit Rollstuhl, Physio- und Ergotherapie, Logopädie und Assistenten eingerichtet. Und so gehen sie inzwischen auch wieder ins Kino und Theater, machen Ausflüge. Ein fast ganz normales Leben. Aber eines fehlt Tomas schmerzlich: seine Arbeit. Aber zurück in seinen alten Job, wie soll das gehen? Laufen und richtig zugreifen kann er schließlich immer noch nicht. Doch dann meldet sich Tomas alter Chef Frank Sie­berns bei den Gerlachs. Tomas solle mal zum Gespräch vorbeikommen, er hätte da eine Idee.

Nur zwei Möglichkeiten

Wenig später sitzen Anja und Tomas dann im Büro seines Chefs, der folgenden Vorschlag macht: Tomas kommt zurück ins Team und übernimmt die Fortbildungskoordination. Tomas ist so gerührt und glücklich, dass ihm die Tränen über das Gesicht kullern. Seit nunmehr einem halben Jahr ist er nun wieder am UKE, die Tastatur des Computers kann er über ein Spezialgerät an seinem Rollstuhl steuern. Es ist nicht der alte Job, aber es ist ein Job.

„Es gibt wohl keinen Mitarbeiter im ganzen UKE, der so froh ist, dass er zur Arbeit gehen kann“, sagt Tomas Gerlach. Dennoch gebe es natürlich Tage, die nicht gut laufen, kleine Niederschläge, bürokratische Hürden, Frust darüber, dass alles nicht so schnell geht, wie sie es gerne hätten. Aber meist gelinge es ihnen, das Beste aus der Situation zu machen, sagt Tomas. Schließlich gebe es nur zwei Möglichkeiten. „Entweder man legt den Fokus auf das, was nicht läuft, oder auf das, was läuft. Und wir haben uns für Letzteres entschieden.“