Experten erklären, wie das menschliche Gehirn Wirklichkeit wahrnimmt und wie real die noch immer beliebten Reality-TV-Formate sind.

Ganz real debattierten in diesem Interview die Medienwissenschaftlerin Professorin Joan Kristin Bleicher und die Diplom-Psychologin Valeska Hug von der Universität Hamburg in der Redaktions des Abendblatts. Doch schnell wurden in dem Gespräch die Grenzen der Realität überschritten. Ist Reality-TV real? Stimmt nicht! Selbst die beliebten Tierdokumentationen im Fernsehen sind inzwischen stark fiktional geprägt. Und ein Wasserglas wird schnell zum Objekt eines Krimis.

Ich habe ein Glas Wasser mitgebracht. Was sehen Sie?

Hug Da fällt mir die Frage ein, ob das Glas halb voll oder halb leer ist.

Und was sagen Sie?

Hug Halb voll, wie ich es als Optimistin sehe.

Bleicher Ich sehe es genauso und knüpfe damit an die Wahrnehmung der anderen Personen in diesem Raum an.

Und wenn ich jetzt behaupten würde, das Glas wäre voll?

Bleicher Dann wären Sie Gastwirt (lacht).

Und jetzt sage ich: Das Glas ist so voll, dass es gleich überläuft.

Bleicher Dann haben wir einen Realitätskonflikt. Indem ich Ihnen widerspreche, unterstelle ich Ihnen, dass Sie mir eine andere Realität verkaufen wollen. Deswegen brachte ich auch den Vergleich mit den Gastwirten. Sie lieben es ja, weniger einzuschenken als sie abrechnen. Und mit der Intention, Geld zu verdienen.

Was ist in der Medienwelt die Intention?

Bleicher Aus der Perspektive der Medienwissenschaft beeinflusst das Framing unsere Wahrnehmung, in diesem Fall meine Beobachtung des Glases. Wenn ich einen Dokumentarfilm sehe und darin ein Glas vorkommt, gehe ich davon aus, dass es ein Abbild der Wirklichkeit ist. Wenn ich aber einen Kriminalfilm sehe, erwarte ich, dass in dem Glas Gift verborgen ist. Es wird also ein Rätsel verknüpft, weil ich ein bestimmtes Handlungsmuster erwarte. Es kommt daher auf den Genre-Kontext an.

Das Gehirn ist ja das eigentliche Instrument zur Verarbeitung von Wahrnehmung.

Hug Das Auge nimmt den Reiz wahr, die optische Wahrnehmung wird dann an die zuständigen Gehirnareale weitergeleitet, die schließlich den Sinneseindruck produzieren. Am Ende erfolgt die sensorische Integration, also der Abgleich mit bereits gespeichertem Wissen und damit die eigentliche Wahrnehmung. Ohne die Auseinandersetzung mit der Umwelt könnte das Gehirn gar nicht auf entscheidende Assoziationen zurückgreifen, um zu erkennen: das ist ein Glas. Die aktuelle Empfindung, aber auch Einstellungen und Annahmen über die eigene Person und die Welt sind entscheidend für die Bewertung des Wahrnehmungseindrucks.

Gibt es daher nicht eine, sondern viele Realitäten?

Hug Ja. Es können verschiedene Realitäten nebeneinanderstehen. Gerade bei meiner therapeutischen Arbeit mit Menschen, die an einer Psychose leiden, macht es keinen Sinn zu bewerten, ob meine Wahrnehmung oder die meines Gegenübers wahrer und damit realer ist.

Was ist Realität aus psychologischer Sicht?

Hug Realität ist ein subjektives Abbild einer wie auch immer gearteten „objektiven Wirklichkeit“, die davon abhängig ist, welche Verarbeitungsleistung unser Gehirn hat, welche Erfahrungen man gemacht hat, welche Grundannahmen sich daraus entwickelt haben und wie ich mich aktuell fühle. Wenn ich viele negative Erfahrungen gemacht habe, dann kann sich die Annahme entwickeln, dass die Welt generell ein böser Ort sei.

Frau Bleicher, Sie sind Medienwissenschaftlerin. Wie erklären Sie Ihren Studenten Realität?

Bleicher: Ich warne sie vor der naiven Auffassung, Realität sei medial abbildbar und Medieninhalte ein reines Abbild der Realität. Komplexer wird es bei Theorien, die besagen, Medien konstruieren Realität. Sie beeinflussen Realität bereits in der Auswahl von Wirklichkeitsbereichen und in der Form ihrer Darstellung.

Wie sollten Mediennutzer mit der Informationsflut umgehen?

Hug Es geht stark darum, welcher Typ von Rezipient man ist. Menschen, die interessiert und analytisch strukturiert sind, werden ein breiteres Medienangebot nutzen. Wenn aber der gezielte Fokus auf bedrohliche Inhalte der Medien zu einer starken Einschränkung der Lebensqualität führt, wie das teilweise bei unseren Patienten der Fall ist, kann es ratsam sein, sich von Medien zeitweise zu distanzieren.

Zur digitalen Welt gehören Filterblasen.

Bleicher Filterblasen werden kontrovers diskutiert. Es gibt Forscher, die sagen, das Phänomen wird überschätzt. Generell gilt, dass Qualitätsmedien einen umfassenderen Anspruch der Wirklichkeitsvermittlung haben, vielfältigere Informationen anbieten als Filterblasen, die auf bestimmte Themen und Meinungen beschränkt sind.

Welche Nutzen ziehen Menschen aus dem Konsum von Filterblasen?

Bleicher Die Bestätigung ihrer eigenen Meinung. Das ist ja auch das Phänomen des postfaktischen Zeitalters: Ich glaube meiner gefühlten Wirklichkeitswahrnehmung mehr als den objektiven Fakten in der Medienberichterstattung.

Sind die beliebten Tier-Dokumentationen auch Reality-TV?

Bleicher Bei Tierdokumentationen wird der Einfluss des Reality TV besonders deutlich erkennbar. Dokumentationen erheben traditionell den Anspruch, Wirklichkeit wiederzugeben. Doch werden sie gerade im Bereich der Tier- und Zoo-Dokumentationen feststellen, wie stark inzwischen eine Fiktionalisierung erfolgt ist. Da wird kein Pinguin mehr gezeigt, der einen Fisch jagt, sondern Pinguin Erwin, der seine Familie ernähren will. Reality-TV ist Teil medialer Grenzgänge zwischen Fakten und Fiktion.

Weil Menschen gerne Geschichten hören?

Bleicher Ja. Die Fiktionalisierung entspricht der Erlebnisorientierung des Fernsehens.

Deswegen hat der ehemalige Spiegel-Reporter Relotius sehr stark auf Fiktion gesetzt?

Bleicher Die Reportage ist traditionell eine Gattung, die Fakten mit narrativen Elementen aufbereitet. Im Fall Relotius kann man sagen, dass er auf diese Darstellungsform zurückgegriffen hat.

Wie ist dieser Fall ethisch zu bewerten?

Bleicher Ich weiß nicht, ob diese Fragestellung hilfreich ist.

Man kann es auch juristisch bewerten!

Bleicher Das wird ja bereits auf breiter Basis diskutiert. Ich ordne Relotius der Traditionslinie des New Journalism zu. Ihr Begründer Tom Wolfe betonte die Möglichkeit, Wirklichkeit als Erzählung zu vermitteln. In ethischer Hinsicht bleibt zu fragen, ob und wie man diesen narrativen Charakter deutlich macht.

Warum lieben Menschen über Jahrtausende ihrer Kulturgeschichte Erzählungen?

Hug Geschichten befriedigen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Früher hat man sich Geschichten eng aneinander gekuschelt am Lagerfeuer erzählt. Sie vermitteln ihre Botschaften auf leicht verständliche und emotionale Art und Weise und geben Werte und Wissen unserer Kultur weiter. Damit schaffen sie eine Grundlage für die Entwicklung unserer Identität.

Die Geschichten müssen nicht wahr sein?

Hug In gewisser Hinsicht haben sie immer Realitätsbezug, weil sie die Grundbedürfnisse des Menschen ansprechen und es jedem Einzelnen ermöglichen, eine Sinnstruktur zu erschaffen.

Bleicher Geschichten wurden auch erzählt, um - wie Mythologien – Welt zu erklären. Und an Erzählungen über Abenteuer konnte man teilhaben, ohne sich selbst zu gefährden. Information und Erlebnissteigerung sind also wesentliche Motive für die Rezeption von Geschichten.

Welche Geschichten der Menschheit sind die prägendsten?

Bleicher Für mich nach wie vor religiöse Erzählungen wie die Bibel etwa mit den Gleichnissen Jesu. Seine Bergpredigt vermittelt ein Lebensmodell und Wertesystem. In dem Moment, wo ich als „Zuhörer“ Wirklichkeit als etwas von Gott Gewolltes erlebe, muss ich nicht mehr mit Unwägbarkeiten umgehen. Religion ist etwas Sinnstiftendes.

Viele Menschen brauchen keine Religion, sie gucken Reality-TV.

Bleicher Es ist eine Form der realitätsnahen Unterhaltung, die durchaus als Religionsersatz fungieren kann. Es gibt ganz verschiedene Erzählungen vom neuen Leben: Frauen tauschen ihre Haushalte, Schuldenberater helfen aus der Schuldenkrise, Auswanderer zeigen ihr Leben im neuen Land. Reality-TV hat mit gleichbleibenden Konflikten und Rollenmustern in hohem Maße fiktionale Anteile. Die Zuschauer gehen dabei einen Pakt mit dem Produzenten ein, das Gesehene für die Dauer der Sendung als wahr zu akzeptieren. Die Bezeichnung Reality TV suggeriert, dass alles auf Fakten basiert.

Das stimmt doch, oder?

Bleicher Nein, die für Zuschauerinnen nicht sichtbare Grundlage sind vor allem Drehpläne und Inszenierungen. Alles wirkt so echt, weil visuelle Stilmittel des Dokumentarismus genutzt werden. Man zeigt scheinbar echte Menschen in scheinbar echten Situationen. Die Kamera bleibt unsichtbar. Doch hinter der Kamera steht häufig der sogenannte Realisator, der den Menschen genau sagt, was sie zu tun und zu sagen haben. Die schlechte darstellerische Kompetenz der Laiendarsteller erhöht dann sogar die Authentizität.

Die Zuschauer werden für dumm verkauft?

Bleicher Viele Produzenten und Redakteure gehen leider davon aus, dass Menschen potenziell dumm sind. Dieses Zuschauerbild ist mitverantwortlich für das Niveau des Gezeigten.

Warum wird denn Reality-TV nicht kritisch hinterfragt?

Bleicher Das wird schon gemacht! Neben diversen kritischen Publikationen gab es bereits Prozesse von Laiendarstellerinnen, die sich falsch dargestellt fühlten. Zuschauern ist offenbar die Dimension des sozialen Vergleichs wichtig: Ich bin besser als die anderen. Viele rezipieren die Formate auch als Comedy und nicht als Dokumentation. Der Einzelne ist für seine Situation verantwortlich, das ist das neoliberale Erklärungsmuster, was da vermittelt wird. Sozialpolitische Kontexte werden völlig ausgeblendet. Der Einzelne wird immer als schuldhaft, als Opfer, als Versager inszeniert. In sozialen Medien wie Facebook oder Instagram gibt es zudem Selbstinszenierungs-Muster, die sich an Vorbildern des Reality-TV orientieren und an den Vorbildern erfolgreicher Akteure von YouTube und Facebook. Sie entsprechen einem bestimmten Schönheitsideal, und ihr Leben scheint vor allem aus tollen Reisen zu bestehen.

Warum machen das Menschen?

Hug Menschen sind soziale Wesen, die auf die Anerkennung ihrer Umwelt angewiesen sind und sich gerne an einem Ideal orientieren. Jeder hat seine Art der Selbstinszenierung. Entscheidend ist, was das Ideal der Zeit ist. Aktuell scheint es die Makellosigkeit der eigenen Person zu sein.

Bleicher Wir leben in einer Zeit der Aufmerksamkeitsökonomie. Die mediale Aufmerksamkeit ist die neue Währung, die unseren sozialen Status beeinflusst.

Welche Medien sollte man als Hamburger nutzen, um sich gut zu informieren?

Hug Auch hier empfehle ich eine breite Fächerung der Informationsquellen, und damit meine ich auch das breite Veranstaltungsangebot der Stadt.

Bleicher Wir haben Fernsehen wie den NDR und Hamburg 1 und das Hamburger Abendblatt, wir haben Bibel TV und Rocket Beans – die Hamburger Medienlandschaft ist sehr breit. Das ist eine gute Möglichkeit, sich umfassend über verschiedene Bereiche der Hamburger Wirklichkeit zu informieren.

Die Experten

Joan Kristin Bleicher ist Professorin für Medienwissenschaft am Institut für Medien und Kommunikation der Uni Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Medienästhetik, Narrationstheorie und Internet. Ihr neuestes Buch befasst sich mit „Reality-TV in Deutschland“ (Hamburg 2017).

Valeska Hug ist Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin am Institut für Psychologie und Psychotherapie der Universität Hamburg. Studium der Psychologie in Konstanz, Postgradualer Master mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie in Mainz.