Heute erklären Experten, welche Funktion Tränen haben und in welchen Situationen sie gesellschaftlich akzeptiert sind
Der Gedanke, dass Weinen unsere Seele reinigt, stammt bereits aus der Antike. Damals heuerte man für Trauerfeiern sogar Klagefrauen an. Was Tränen mit unserer Seele machen, warum sie ein Mittel der Kommunikation sind und wie eigentlich der Begriff Krokodilstränen entstanden ist, erklären die Historikerin Prof. Kaja Harter-Uibopuu und der Psychiater Prof. Sönke Arlt.
Hamburger Abendblatt: Ist Weinen reinigend – in mehr als einer Beziehung?
Prof. Sönke Arlt: Ja, das stimmt. Physiologisch gesehen haben Tränen die Funktion, Fremdkörper aus dem Auge herauszuspülen. Auch die ätherischen Öle, die wir beim Zwiebelschneiden freisetzen, reizen wie ein Fremdkörper das Auge und lösen Tränen aus. Tränen machen also die Sicht wieder klar. Sie enthalten Antikörper und Zytogene, die antibakteriell wirken. Aber auch psychologisch gesehen kann Weinen reinigend sein.
Prof. Kaja Harter-Uibopuu: Das haben bereits die alten Griechen erkannt. Hippokrates und Aristoteles haben dies erstmals erkannt und sich mit der Katharsis beschäftigt. Letzterer empfahl sogar, sich gelegentlich bewusst anrührenden Situationen auszusetzen, beispielsweise ein Theaterstück anzuschauen – als ein gezielt eingesetztes Instrument, um die Seele zu reinigen oder eine Überlast an Gefühlen abzubauen.
In die moderne Zeit übertragen, würde dieser Rat lauten: ins Kino gehen, sich einen Schmalzfetzen ansehen und mal so richtig schön ausheulen.
Arlt: So könnte man es sagen. Allerdings mögen das nicht alle Menschen. Frauen setzen sich dem bereitwilliger aus; für Männer ist es schambesetzter, weswegen deutlich weniger Männer im Kino oder über Büchern weinen.
Aber an sich ist es heilsam?
Arlt: Es kommt drauf an. Weinen kann wichtige Emotionen anzeigen. Wenn beispielsweise ein Patient in der Psychotherapie weint, sehen wir, dass ein entscheidender, emotionaler Punkt getroffen ist, der therapeutisch beleuchtet werden und weiterführen kann. In Phasen von Trauer können Tränen bei der Bewältigung helfen und Trost geben. Es gibt aber auch ein verzweifeltes Weinen, unter dem die Patienten leiden. Insbesondere sind Tränen dann nicht unbedingt befreiend, wenn das dahinter stehende Grundproblem nicht gelöst ist. Die meisten Menschen verspüren beim Weinen erst eine Anspannung und danach eine Müdigkeit, wodurch Weinen dann eher als entlastend und tröstend erlebt wird.
Wovon hängt es ab, ob Weinen hilft oder nicht?
Arlt: Auch vom sozialen Kontext. Es gibt Situationen, in denen Tränen normal oder angemessen erscheinen, und andere, in denen dies nicht der Fall ist. Weinen kann ja auch schambehaftet sein. Die meisten Menschen weinen am liebsten allein. Manche Patienten sagen: Ich kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Oder es geht ihnen so schlecht, dass sie nicht einmal mehr weinen können, zum Beispiel weil durch eine Depression alle Gefühle wie betäubt erscheinen. Also: Manchmal gibt das Weinen einem Affekt, der unterdrückt worden ist, Raum und wirkt so befreiend. Manchmal wird es vom Betroffenen aber auch als unkontrollierbar wahrgenommen und vermittelt das Gefühl der Ohnmacht gegenüber überbordenden Emotionen. Dann tut es nicht gut.
Menschen, die weinen, sind also psychisch nicht unbedingt gesünder?
Arlt: Nein, so verallgemeinern kann man das nicht.
Harter-Uibopuu: Auch der gesellschaftliche Kontext ist wichtig. Für uns Historiker ist es spannend zu sehen, wie das Weinen im Verlauf der Geschichte in den zur Verfügung stehenden Quellen bewertet wird. In unseren ersten literarischen Quellen, den Epen von Homer aus dem achten Jahrhundert vor Christus, ist das Weinen für Männer völlig in Ordnung. Die homerischen Helden weinen andauernd, aus unterschiedlichen Anlässen – ebenso wie Frauen und auch Götter. Dann scheint es eine Wende zu geben. Ab dem 6./5. Jahrhundert vor Christus werden die Quellen deutlicher und sagen klar, Männer sollten sich unter Kontrolle haben und zurückhalten. Frauen gesteht man auch in der antiken Klassik noch wesentlich mehr Gefühle zu.
Durfte Kleopatra weinen?
Harter-Uibopuu: Privat, beim Tod des Antonius, tat sie das. Sie wird aber nicht in ihrer Rolle als Königin geweint haben; sie war eine Frau, die dem Bild ihrer Führungsrolle zu entsprechen versucht hat.
Arlt: Auch heute gibt es Untersuchungen, wonach Frauen in Führungspositionen weniger weinen. Sie sind immer noch in einer Männerwelt unterwegs – und da wird nicht geweint.
Harter-Uibopuu: Seit dem sechsten Jahrhundert vor Christus wurde öffentliches Weinen und Wehklagen bei Trauerfeiern im antiken Griechenland sogar gesetzlich eingeschränkt. Es hatte überhandgenommen: Menschen mieteten für Trauerfeiern eigens Klagefrauen an, die laut lamentierten, sich auf die Brust schlugen und Staub und Asche über sich warfen, die Haare rauften - alles, was man an typischen Gesten kennt. Diese überbordenden Trauerbekundungen wurden verboten, allerdings nicht das normale Weinen bei einem Todesfall. Philosophen wie Platon, aber auch Gesetzgeber in der Antike sahen in unkontrollierten Emotionen eine Gefahr für den Staat.
Bleibt es über die folgenden Jahrhunderte hinweg bei den unterschiedlichen Zuschreibungen für Männer und Frauen?
Harter-Uibopuu: Im Großen und Ganzen ja. Zumindest solange die klassischen Rollenzuweisungen gültig sind – die Frau also für die Familie und das Heim zuständig ist, der Mann für Kampf und Politik. Man unterscheidet zwischen Weinen – bei einem Trauerfall – und anhaltendem Jammern und Klagen. Jammern darf ein Mann nicht, aber Weinen unter bestimmten Umständen schon.
Und heute?
Harter-Uibopuu: Wir sind von der klassischen Rollenverteilung, wie wir sie aus der Geschichte kennen, noch nicht so weit entfernt. Frauen gesteht man Weinen in der Öffentlichkeit immer noch eher zu als Männern.
Arlt: Ich meine, es verändert sich schon gesellschaftlich etwas. In psychotherapeutischen Sitzungen wird nicht selten geweint, weil es um emotional wichtige Themen geht. Da öffnen sich auch Männer zunehmend mehr. Die Kriegsgeneration, die enorm Schweres erlebt, aber darüber teilweise jahrzehntelang geschwiegen hat, stirbt langsam aus. Die jetzt Älteren sind anders aufgewachsen und zeigen mehr Gefühle. Auch Männer sind stärker an Emotionen und Bindungen interessiert. Die Rollenbilder werden fließender, auch wenn wir im Hinblick auf das Gefühle-Zeigen noch weit weg von echter Gleichberechtigung sind.
Harter-Uibopuu: Seit wann nehmen Sie das wahr?
Arlt: Die 1968er-Bewegung war da eine Initialzündung. Seither verändern sich Rollenbilder und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Wellen weiter. Immer häufiger bleiben auch Väter zu Hause und erleben dann ihre Kinder emotional ganz anders als früher.
Sind Tränen auch ein Mittel der Kommunikation?
Arlt: Unbedingt. Weinen ist meist ein Anzeiger für intensives emotionales Erleben, das für andere dann durch die Tränen und Mimik erkennbar ist. Kinder haben schon sehr früh die emotionale Ausdrucksmöglichkeit des Weinens mit Tränen, die ungefähr mit vier Wochen einsetzt, also viel früher als die Sprache. Eltern können daraus das emotionale Erleben der Säuglinge ablesen.
Welche Botschaften können Tränen vermitteln?
Arlt: Tränen fördern die Zuwendung. Es gibt experimentelle psychologische Untersuchungen, bei denen Probanden Gesichter mit und ohne Tränen vorgelegt bekamen und getestet wurde, ob die Bilder genauer betrachtet und zu sich herangezogen oder weggeschoben wurden. Das Ergebnis ist, dass die Schwelle, sich Gesichtern mit Tränen zu nähern, wesentlich niedriger ist als bei solchen ohne. Wenn ein Erwachsener ein weinendes Kind auf der Straße sieht, wird er geneigt sein, sich ihm zuzuwenden. Bei Erwachsenen ist die Hemmschwelle größer.
Aber die generelle Botschaft, die durch Tränen gesendet wird, ist Hilflosigkeit und Bedürftigkeit. Das Weinen des Kindes stärkt die Bindung zu den Eltern, regt bei der Mutter sogar den Milchfluss an. Die Neurowissenschaft hat erforscht, was im Gehirn der Mutter passiert. Dort aktiviert das Weinen die Strukturen, die für das Gefühlserleben zuständig sind. Das kann sogar mitunter zu viel werden und zu aversiven und aggressiven Reaktionen führen – bei Eltern etwa, die ihr schreiendes Kind schütteln.
Harter-Uibopuu:Tränen können auch gezielt eingesetzt werden. In der Antike sehen wir das beispielsweise, wenn eine Partei in einer Gerichtsverhandlung die Familie an ihrer Seite stehen hat, um durch ihr Weinen die Geschworenen zu beeindrucken, oder bewusst versucht, die Geschworenen zu Tränen des Mitleids zu bewegen.
Das könnten Krokodilstränen sein. Wie ist der Begriff eigentlich entstanden?
Arlt: Wenn Krokodile große Nahrungsstücke fressen wollen, müssen sie das Maul sehr weit aufreißen. Dadurch entsteht ein Druck auf die Tränendrüsen, sodass Tränen fließen, ohne dass eine Emotion dahintersteht. Ohnehin schreibt man Menschen als einziger Spezies das Weinen aus Gefühlsgründen zu.
Wie kann es sein, dass sich so unterschiedliche Gefühle wie Trauer, Wut, Angst, Schmerz und Freude in derselben Weise äußern – mit Tränen nämlich?
Arlt: Ich würde sagen: Es ist eine gemeinsame Endstrecke in der Reaktion. Wenn Emotionen überborden, dann ist meist eine Aktivierung des Mandelkerns, der Amygdala, dafür verantwortlich, die bei unterschiedlichen Emotionen eine Rolle spielt.
Harter-Uibopuu: In der Geschichte wird das Weinen mit denselben Begriffen beschrieben – egal ob es freudiges, trauriges oder wütendes Weinen ist. Wenn Diomedes als Wagenlenker beim Wagenrennen die Geißel aus der Hand geschlagen wird, weint er. Wenn Andromache in der „Ilias“ von ihrem Mann Hektor Abschied nimmt, bevor er in den Zweikampf ziehen und sterben wird, dann weint sie. Das ist eine der anrührendsten Szenen der antiken griechischen Literatur.
Gibt es auch Menschen, die nicht weinen können?
Arlt: Ja, die gibt es, das sind Menschen mit einer extrem hohen emotionalen Kontrolle. Das Phänomen des Nicht-Weinens ist unter Männern etwas häufiger als unter Frauen. Wenn jemand auch über Schicksalsschläge keine emotionale Erregung zeigt, sondern völlig rational bleibt, ist aber immer auch die Frage, ob das für ihn wirklich gesund ist. Rein körperlich können die Tränenkanäle durch Nervenschädigungen unterbrochen sein, dann weint der Mensch auch nicht. Auf der anderen Seite gibt es Krankheitszustände wie Demenz oder andere neurodegenerative Erkrankungen, bei denen die Menschen mitunter sehr viel weinen müssen, ohne dass sie die entsprechenden Emotionen wahrnehmen. Tränen und Gefühle sind da voneinander abgekoppelt. Das nennt man das pathologische Weinen.
Harter-Uibopuu: Aristoteles unterscheidet zwischen kalten und warmen Tränen. Kalte Tränen werden durch Rauch in den Augen, die berühmte Zwiebel oder eine große Anstrengung hervorgerufen, warme Tränen durch Gefühle.
Arlt: Das ist eine sehr frühe und treffende Beobachtung, die heute noch Gültigkeit hat. Wir würden dazu heute Reflextränen und emotionale Tränen sagen.
Ketzerisch gefragt: Weinen wir am allerliebsten aus Selbstmitleid?
Harter-Uibopuu: Sokrates verwendet das Argument in seinem Platonischen Dialog, als es darum geht, das Weinen einzuschränken. Er führt an, dass der Tod an sich nichts Schlimmes sei, und wenn man den Tod eines Freundes betrauere, weine man eigentlich um sich selbst und den eigenen Verlust.
Arlt: Es stimmt ja: Es ist der eigene Schmerz, der da verarbeitet wird. Aber Selbstmitleid hat immer so einen negativen Beiklang; therapeutisch wird der Begriff ersetzt durch Selbstmitgefühl. Wenn man mit sich selbst mitfühlt und lernt, sich selbst zu verstehen und sich etwas Gutes zu tun, sich selbst Trost zu spenden, ist das etwas Gesundes. Weinen hat immer erst mal eine Berechtigung, wenn es einen starken Gefühlszustand ausdrückt.
Die Experten
Prof. Dr. med. Sönke Arlt ist Professor für Psychiatrie an der Universität Hamburg und Chefarzt der Fachabteilung Psychiatrie und Psychotherapie des Ev. Krankenhauses Alsterdorf. Sein Spezialgebiet sind depressive Störungen.
Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu ist seit 2015 Professorin für Alte Geschichte an der Uni Hamburg. Ihre Spezialgebiete sind die antike Rechtsgeschichte und der Umgang mit antiken griechischen Inschriften. Sie ist stellvertretende Sprecherin des Exzellenzclusters Manuskriptkultur.
Wissen vom Fass
Mit einem Getränk in der Hand die neuesten Erkenntnisse aus der Wissenschaft erfahren? Am Tresen mit Forschern über ihre aktuellen Projekte schnacken? Kurz: abends ausgehen und dabei etwas lernen? All das geht bei „Wissen vom Fass“. Am 25. April verlassen Hamburger Wissenschaftler ihre Computer und Labore und schwärmen aus in mehr als 50 Kneipen und Bars der Stadt. Und Sie haben ab 20 Uhr die Chance, Antworten auf spannende Fragen zu bekommen: Wie fotografiert man den Urknall? Braucht unser Grundgesetz ein Facelift? Was hat die nächste Eiszeit mit unserem Atommüll zu tun? Machen Bäume Survival-Training? Und welche Rolle spielt die Wissenschaft in unserem täglichen Leben? Das ganze Programm: www.wissenvomfass.de
Die 100 großen Fragen
Jede Woche stellt das Hamburger Abendblatt eine der 100 großen Fragen des Lebens: Was ist Glück? Was ist gerecht? Wie viele Informationen braucht man?Beantwortet werden diese Fragen im Gespräch mit Professoren und Experten der Universität Hamburg, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird. Die Gespräche werden jeden Sonnabend veröffentlicht. Anhören kann man sie sich zudem in voller Länge im Internet auf: www.abendblatt.de.
In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Was ist Realität?