Hamburg. 1969 machte Freda von Falkenhayn ihr Examen im Kinderkrankenhaus Altona. Jetzt feierte sie ein Wiedersehen mit ihren Kolleginnen.

Der Rotklinkerbau mit hellen Säulen strahlt etwas Heimeliges aus, in blauen großen Buchstaben leuchtet unter dem Rundbalkon der Schriftzug „Altonaer Kinderkrankenhaus von 1859“. Doch Freda von Falkenhayn verbindet mit dem alten Haupteingang an der Bleickenallee, seit 2000 unter Denkmalschutz, eher Angst und Schrecken. „Hier hat die Oberschwester immer abends gestanden“, sagt sie und deutet auf eine Mosaikfliese. Dann imitiert Freda von Falkenhayn die einstige Chefin, deutet auf ihre Armbanduhr und faucht: „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist.“

Die umstehenden Damen, allesamt Ende 60, Anfang 70, kichern. Aus der Metropolregion, aber auch aus Berlin und aus Düsseldorf sind sie an diesem Freitagmorgen gekommen, um eine Zeitreise anzutreten. Zurück in das Jahr 1966, als sie mit vielen anderen jungen Frauen zur Kinderkrankenschwester ausgebildet wurden. Ludwig Erhard regierte das Land, Herbert Weichmann die Stadt.

Männliche Pfleger gab es damals nicht

Drei Jahre später, also vor genau fünf Jahrzehnten legten die Schwester-Schülerinnen – männliche Pfleger gab es nicht – im AKK ihre Examen ab. Genau aus diesem Grund hat Freda von Falkenhayn, die ganz in der Nähe des Kinderkrankenhauses in Othmarschen lebt, ihre Freundinnen zusammengetrommelt und eine Führung organisiert.

Manche waren seit vielen Jahren nicht mehr dort, wo für sie beruflich alles begann. Gemeinsam überlegen sie, wo im Altbau der Essenssaal gewesen sein könnte. Das strenge Regiment der Oberschwester lernten sie direkt bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit – Brat­hering mit Bratkartoffeln – kennen. Wer sich einen zweiten Hering nehmen wollte, bekam zu hören: „Es gibt keinen Nachschlag.“ Wenn eine Lernschwester mal vorlaut wurde, gab es einen Brief an die Eltern: „Ich empfehle ihrer Tochter eine Ausbildung am Theater.“

Wehe, die Betten wurden nicht ordentlich bezogen

Nicht so pingelig war die Chefetage dagegen bei den Arbeitszeiten. „Wir haben manchmal drei Wochen am Stück im Nachtdienst gearbeitet“, sagt Freda von Falkenhayn. Und wehe, die Betten wurden nicht ordentlich bezogen. Wenn der Chefarzt, wie in diesen Jahren üblich als Halbgott in Weiß mit wehendem Kittel Visite machte, musste es noch ordentlicher sein, Spielzeug wurde den kleinen Patienten weggenommen.

Ausflug zu Beiersdorf:  Krankenschwestern und Ärzte 1968
Ausflug zu Beiersdorf: Krankenschwestern und Ärzte 1968 © Privat | Andreas Laible

Doch weit mehr schmerzten die jungen Schwestern die strikten Besuchsregeln. Nur zweimal in der Woche durften die Eltern zu ihren Kindern, an den anderen Tagen ihre Kleinen nur durch eine in der Tür eingelassene Sichtscheibe sehen. Noch fünf Jahrzehnte später empfinden die Krankenschwestern Mitleid mir ihren einstigen kleinen Patienten: „Viele haben instinktiv gespürt, dass ihre Eltern in der Nähe waren und haben schrecklich geweint.“

Dass diese Zustände in Deutschland selbst ein Jahrzehnt später die Regel waren, dokumentiert ein „Spiegel“-Artikel aus dem Jahr 1976: „Von insgesamt 450 Kinderkrankenhäusern in der Bundesrepublik tolerieren bis heute erst 170 täg­liche Besuche der Eltern.“ Das Nachrichtenmagazin diagnostiziert Verhaltensstörungen, Angstträume, Appetitlosigkeit und Aggressionen als Folge und nennt Deutschland auf dem Gebiet der Pädiatrie „ein Entwicklungsland“.

Herrenbesuch auf den Zimmern war streng verboten

Wie sehr sich zum Glück die Zeiten geändert haben, zeigt Katharina Schumann, stellvertretende Pflegedirektorin, beim Rundgang. Die Eltern können rund um die Uhr ihr Kind besuchen, jeder kleine Patient bis zum 7. Lebensjahr darf von einem Elternteil begleitet werden. Seit 2015 gibt es zudem das Ronald McDonald Haus, das mit elf Apartments Familien schwerst kranker Kinder ein Zuhause auf Zeit bietet. „Das hätten wir damals auch gebraucht“, sind sich die ehemaligen Mitarbeiterinnen einig.

Vergebens suchen die Damen nach ihren früheren Unterkünften. Die Trakte mit den Schwesternwohnheimen fielen den Umbauten der vergangenen Jahrzehnte zum Opfer. Für Freda von Falkenhayn nicht wirklich ein Verlust: „Wir hatten damals Dreibettzimmer, das war schon sehr eng.“ Doch eine Alternative gab es nicht – wer im Altonaer Kinderkrankenhaus eine Ausbildung machen wollte, musste dort auch wohnen.

100 Mark bekamen die Schwesternschülerinnen 1966 im Monat

Angesichts des Wohnungsmangels in Hamburg wäre heute wohl mancher froh, wenn es diese Möglichkeit noch geben würde. Und freie Unterkunft und Logis relativieren auch etwas den Gehaltsunterschied: 100 Mark bekamen die Schwesternschülerinnen 1966 im Monat, zusätzlich 3,20 Mark für eine Nachtschicht. Heute zahlt das AKK im ersten Ausbildungsjahr 1150 Euro, dazu Weihnachtsgeld in Höhe von 90 Prozent eines Gehalts. Aber davon muss eben auch die Miete finanziert werden, falls man nicht mehr bei den Eltern wohnt.

Eine Schwester, vier Babys:  Schwester Freda von Falkenhayn 1968.
Eine Schwester, vier Babys: Schwester Freda von Falkenhayn 1968. © Privat | Andreas Laible

Und womöglich hätte es dieses Treffen nicht mehr gegeben, wenn nicht dieses sehr besondere Internat die Frauen zusammengeschweißt hätte. Gerade bei Problemen zeigte sich der Zusammenhalt. Als die Oberschwester einmal die Übeltäterin suchte, die ein Radio in einer Decke versteckt in den Unterricht geschmuggelt hatte, gingen sie als Gruppe nach vorn: „Wir waren das.“

„Wir hatten damals viel Blödsinn im Kopf“, sagt Freda von Falkenhayn. Um dem strengen Regiment zu entgehen, türmten sie oft aus dem Fenster Richtung Reeperbahn in die angesagte Diskothek „Top Ten“. Herrenbesuch auf den Zimmern war selbstredend streng verboten, also vergnügte man sich anderswo.

Offenbar mit nicht weniger Erfolg. Karin Hänel wurde jedenfalls einmal mitten im Dienst an die Pforte gerufen, es sei Besuch eingetroffen. Dort stand dann ein Verehrer mit Blumenstrauß und stammelte: „Ich möchte dich heiraten.“ Vergebens, seine große Liebe mochte sich nicht binden.

Vor der Ausbildung noch ein Jahr als „Haustochter“

Ein Zeitungsausschnitt sorgt am Freitag für den größten Lacherfolg. Freda von Falkenhayn hat ihn mitgebracht, der „Bild“-Artikel vom 3. Juni 1966 zeigt sie mit dem Röntgengerät, das zum damals eingeweihten neuen Operationstrakt gehörte. Die Überschrift „Das Mädchen im Röntgenhaus“ verrät viel über den Zeitgeist der 1960er-Jahre. Bei der Einweihung des Neubaus traten die Schwester-Schülerinnen übrigens als Chor auf, auch dies gehörte damals zu den Pflichten der Lernschwestern bei Feierstunden – genau wie das Tragen der Schwesterntracht mit Haubenschleier bei wichtigen Anlässen. Freda von Falkenhayn, aufgewachsen in der Nähe von Norddeich, musste vor ihrer Ausbildung sogar noch als sogenannte Haustochter in einem Haushalt an der Elbchaussee arbeiten. An ihre Bewerbung kann sie sich gar nicht mehr erinnern: „Das haben damals meine Eltern gemacht.“

50 Jahre später kann Katharina Schumann aus einer Vielzahl von Bewerbungen auswählen, obwohl die Zahl der Ausbildungsplätze seit 2010 von 39 auf 135 gestiegen ist – hier profitiert das AKK von seinem exzellenten Ruf. „Zumindest in unserem Haus haben wir keinen Pflegenotstand“, sagt die stellvertretende Pflegedirektorin. Und statt starrer Hierarchie-Denke dominiert Teamgeist – die Bereiche werden von Tandems aus Ärzten und Pflegekräften geführt. Es gibt Yoga und Kochkurse, vergünstigte Massagen – Bedingungen, von denen die sechs Damen nur träumen konnten. Und doch haben sie ihre Entscheidung für die Krankenpflege nie bereut: „Es ist ein wunderschöner Beruf.“

Wie alles begann

Das Krankenhaus wurde 1859 an der Großen Wilhelminenstraße 11 (heute Chemnitzstraße) eröffnet, zunächst mit nur sechs Betten. Nach weiteren Umzügen baute
der Trägerverein ab 1912 am heutigen Standort die Klinik.

Bereits in den 1970er-Jahren kämpfte das Haus um seine Existenz. 2002 drohte die Insolvenz, die auch durch eine Kooperation mit dem UKE abgewendet werden konnte. Heute zählt die Einrichtung zu den renommiertesten deutschen Kinderkrankenhäusern.

Wir haben manchmal drei Wochen am Stück im Nachtdienst gearbeitet