Hamburg. Einer der Gebrüder Wolf, die den Gassenhauer erfanden, lebte in der Neustadt. Jetzt kommt eine Bronzefigur als Würdigung ans Haus.
„Da isser ja: der Jung mit’n Tüdelband!“ Erika Upnmoor, 86, lässt ihren Rollator stehen, geht auf den Knaben zu und streicht ihm entzückt über den bronzenen Kopf. Sie stemmt die Hände in die Hüften, legt den Kopf schief und singt mit keckem Blick das alte Lied, das in Hamburg (fast) jeder kennt: „An de Eck steiht ‘n Jung mit ‘n Tüdelband, in de anner Hand ‘n Bodderbrood mit Kees, wenn he blots nich mit de Been in ‘n Tüdel kümmt un dor liggt he ok all lang op de Nees ...“ Sie lacht und singt das Lied zu Ende.
Nach „is ‘n Klacks för so’n Hamborger Jung“ tritt die alte Dame mit den wachen blauen Augen einen Schritt zurück und guckt sich den Jung, der da fast in Lebensgröße vor ihr steht, noch einmal genauer an. In der einen Hand hat er einen Stock, mit dem er einen Reifen vor sich her treibt. In der anderen eine angebissene Stulle mit einer Scheibe Löcherkäse. Seine Schuhe sind nicht richtig zugebunden, die Jacke steht offen. Nur die Matrosenmütze, die sitzt akkurat auf dem Kopf. „Genau so haben sie ausgesehen früher, die Jungs“, sagt die Seniorin zufrieden.
Emaille-Schild erinnert an Bewohner
Erika Upnmoor wohnt seit 1935 in der Neustadt, an den Hütten 86. In dem schönen, 1910 erbauten Mehrfamilienhaus lebte auch Ludwig Wolf, einer der Gebrüder Wolf, die 1911 den Tüdelband-Gassenhauer schrieben. Nach seinem Tod im Jahr 1955 (Leopold war bereits 1926, James 1943 gestorben), geriet das in Vergessenheit. Bis Erika Upnmoor ihrem Vermieter Sven Friemuth von dem prominenten früheren Bewohner erzählte.
Friemuth hatte das denkmalgeschützte Haus, in dem die Haspa früher ein Schulungszentrum unterhielt, 2010 gekauft – und weil er zwar mehrere Häuser besitzt, den größten Teil seiner Mieter aber dennoch mit Namen kennt und darüber hinaus Sinn für Kunst und Kultur hat, ließ er auf eigene Kosten ein blaues Emaille-Schild an der Hauswand anbringen, das auf die Geschichte der Gebrüder Wolf hinweist – natürlich auf Platt.
Jetzt steht er neben Erika Upnmoor, die er extra in ihrer Wohnung abgeholt hat, um ihr den Bronze-Jung zu zeigen. „Sie sollten ihn als Erste sehen“, sagt er zu ihr. Schließlich habe sie ja das Ganze irgendwie ins Rollen gebracht. Wann die Idee entstand, eine Bronzefigur von dem Tüdelband-Jungen über die Tür zu hängen, weiß Friemuth nicht mehr genau. Wohl aber, warum. „Fast jeder denkt bei einem Tüdelband an ein Stück Schnur oder ein Gummiband“, sagt er. „Dabei ist es ein Fassreifen, den die Kinder vor sich her rollen ließen und mit einem Stock antrieben.“ Das habe er mit der Figur, die das Haus an den Hütten künftig zieren soll, demonstrieren wollen. „Außerdem finde ich Kunst am Bau sehr wichtig – und konnte mich, als ehemaliger schelmischer Schlingel, immer schon gut mit dem Tüdelband-Jung identifizieren.“
Künstler Siegfried Assmann schuf die Figur
Beauftragt hat er mit der Erstellung der Bronzefigur den Künstler Siegfried Assmann. Der 93 Jahre alte Maler, Bildhauer und Gestalter von Kirchenfenstern (unter anderem in der Kreuzkirche in Ottensen und im Kloster Nütschau) hat schon früher für Friemuth gearbeitet, der Assmann-Figuren unter anderem vor einem seiner Häuser in Volksdorf sowie in seinem Garten aufstellte. Dass sich der Künstler trotz seines hohen Alters noch einmal ans Werk gemacht hat, freut Friemuth besonders. „Ich schätze seine realistische Kunst sehr. Und ich wusste, dass er die Zeit einfangen kann, in der das Lied geschrieben wurde.“ Weil er aber auch selber konkrete Vorstellungen hatte, änderte Assmann mehrmals den Sitz der Mütze und auch die Stellung zu Ohren, bis sein Auftraggeber zufrieden war.
Drei Monate hat es gedauert, bis die Figur bis ins Detail ausgearbeitet war: die feinen Gesichtszüge, die Löcher im Käse oder der „Hamburg“-Schriftzug auf der Matrosenmütze. Die eher unnatürliche Stellung der angewinkelten Beine zum leicht verdrehten Oberkörper war Absicht. „In Wirklichkeit würde man wohl umfallen, wenn man so läuft“, weiß Friemuth. „Aber so hat man tatsächlich Sorge, dass er ,mit de Been in ’n Tüdel kommt‘.“
Auch Stadtplanung mit im Boot
48 Kilogramm wiegt der „Jung mit’n Tüdelband“. Ihn über der Eingangstür anzubringen ist eine statische Herausforderung und beschäftigt – neben dem Denkmalschutzamt, mit dem Friemuth schon vorher eng zusammengearbeitet hat – auch die Stadtplanung. Schließlich ragt die Figur über den Gehweg und damit über öffentlichen Grund. „Mit einer ersten Konsole war man nicht zufrieden, aber jetzt haben wir auch da eine Lösung gefunden“, so Friemuth. Was er so nebenbei erwähnt, hat in Wirklichkeit zu drei Monaten Verzögerung und etlichen Hundert Euro Mehrkosten geführt. Wie viel er sich den Jung kosten lässt (finanzielle Unterstützung der Stadt gab es nicht), mag er nicht sagen. Dafür erklärt er aber genau, wie sich die Figur vor dem Herabfallen und vor Diebstahl bewahren lässt. „Über der Eingangstür wird ein Loch durch die Hauswand gebohrt und ein an der Konsole befestigter Träger auf der anderen Seite der Hauswand verankert.“
Wann die Figur aufgehängt wird, steht noch nicht fest. Aber über das Drumherum hat Friemuth sich schon Gedanken gemacht. „Ich wünsche mir ein kleines Fest mit Musik – und ich würde mich natürlich sehr freuen, wenn jemand aus dem Kulturbereich ein paar Worte sprechen würde.“
Tüdelband-Jung statt Stolperstein
Erika Upnmoor wird selbstverständlic mitfeiern, bedauert aber, dass „die Lotti“ wohl nicht dabei sein kann. „Das ist die Tochter von Ludwig Wolf, mit der ich gut befreundet war“, sagt sie. „Aber sie ist noch älter als ich und wohnt weit weg.“ Früher habe sie sie oft besucht – vor dem Krieg und auch danach, als die Familie Wolf aus einem „Judenhaus“ an der Kippingstraße wieder zurück an die Hütten 86 ziehen durften. Es waren nicht die einzigen Juden, die damals ihre Nachbarn waren. Vor dem Haus erinnern drei Stolpersteine an eine Familie Lambertz. An James Wolf, der im KZ Theresienstadt umgebracht wurde, und seine Brüder wird künftig der „Jung mit’n Tüdelband“ erinnern. Nach Friemuths Recherchen ist seine Figur übrigens die einzige, die es in Hamburg gibt. „Vielleicht“, sagt er, „können wir ihn ja als Miniatur in Serie herstellen lassen.“ Ein Prototyp des Jung steht schon auf seinem Schreibtisch.