Hamburg. Der Vorwurf gegen den damals 17-jährigen Verdächtigen: Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen. Die KZ-Gedenkstätte begrüßt den Prozess.

Die Jugendstrafkammer des Landgerichts Hamburg hat einen 92-jährigen ehemaligen SS-Wachmann angeklagt. Dem in Hamburg lebenden gelernten Bäcker wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen, teilte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft mit.

Der Beschuldigte soll zwischen August 1944 und April 1945 als SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof die Tötung vor allem jüdischer Häftlinge unterstützt haben. Weil der Wachmann zur Tatzeit 17 und 18 Jahre alt war, verhandelt darüber die Hamburger Jugendstrafkammer als Schwurgericht. Das KZ Stutthof, 37 Kilometer von Danzig entfernt, war das erste Konzentrationslager außerhalb der deutschen Grenzen von 1937 und existierte von 1939 bis Mai 1945. Die Nationalsozialisten haben dort rund 65.000 Menschen ermordet. „Es gibt kaum eine Tötungsart, die es in Stutthof nicht gegeben hat“, sagte Oberstaatsanwalt Andreas Brendel, der 2018 im Fall eines weiteren Wachmanns in Münster Anklage erhoben hatte. Nach Angaben der Hamburger Staatsanwaltschaft wurden in der Tatzeit des Hamburger Wachmanns Häftlinge vor allem durch Genickschuss und das Giftgas Zyklon B getötet. Zu den Aufgaben des heute 92-Jährigen gehörte es, die Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, dass er ein „Rädchen der Mordmaschine“ gewesen sei.

Unterdessen hat die Tageszeitung „Die Welt“ Zitate des Mannes aus seiner Vernehmung veröffentlicht. Demnach räumt er seinen Einsatz im KZ ein, bekundet aber zugleich Mitleid mit den Opfern. „Mir haben die Leute leidgetan, die da waren. Ich wusste nicht, warum die da waren. Ich wusste wohl, dass das Juden waren, die keine Verbrechen begangen hatten.“

Anklage kommt mehr als 70 Jahre zu spät

In einer ersten Reaktion hat die KZ-Gedenkstätte Neuengamme die Anklage begrüßt. Sie komme aber mehr als 70 Jahre zu spät, sagte Alyn Beßmann, Historikerin und Archivarin, dem Abendblatt. In der Bundesrepublik habe es jahrzehntelang keine konsequente Strafverfolgung von NS-Verbrechen gegeben. „Unzählige Verfahren wurden eingestellt. Wenn überhaupt Verurteilungen erfolgten, waren die Strafen oft skandalös niedrig“, sagte sie.

Der junge Mann gehörte von August 1944 bis April 1945 im KZ Stutthof zu den Aufsehern. Zwar hat sich Stutthof nicht so stark ins kollektive Bewusstsein eingegraben wie Auschwitz und Buchenwald. Doch dabei handelt es sich um jenes Konzentrationslager, das am längsten im NS-Regime bestand und durch seine extreme Grausamkeit besonders berüchtigt war.

Zeitweise wurde es von Johann Friedrich Pauly kommandiert, der als besonders brutal galt. Der SS-Mann im Range eines SS-Standartenführers übernahm danach das Kommando über das KZ Neuengamme. Ein britisches Militärgericht verurteilte Pauly am 3. Mai 1946 zum Tode. Er wurde am 8. Oktober 1946 im Zuchthaus Hameln gehenkt.

SS-Männer sollten bei Flucht sofort schießen

Der angeklagte Hamburger Wachmann gehörte im KZ-Stutthof zu rund 1100 SS-Männern. „590 bis 900 zählten dort zu den Wachmannschaften“, sagte Alyn Beßmann, Historikerin und Archivarin der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, am Freitag dem Abendblatt. Sie hatten die Aufgabe, das Lager und die Häftlingskommandos außerhalb des Lagers zu bewachen und bei Fluchtversuchen sofort zu schießen.

„Offiziell gab es eine strikte Trennung zwischen SS-Personal, das innerhalb des Häftlingslagers eingesetzt war, und der Wachmannschaft“, sagt die Historikerin. „Allerdings gab es immer wieder Versetzungen zwischen der Wachtruppe und dem Stab, der seinen Dienst innerhalb des Lagers versah.“

Hamburger Wachmann kannte die Gaskammern

Die Wachmannschaften selbst hatten meist – im Unterschied zu Block- oder Kommandoführern – wenig direkten Umgang mit den KZ-Häftlingen. Dennoch besaßen sie Handlungsspielräume. Aus dem KZ Neuengamme liegen zahlreiche Berichte von Überlebenden zu sogenannten Postenkettenmorden vor: Wachmänner trieben Gefangene bewusst durch eine von SS-Leuten gebildete Kette und erschossen sie aufgrund eines angeblichen Fluchtversuchs.

Wie die Tageszeitung „Die Welt“ berichtete, wurde der Hamburger Wachmann bereits im Sommer vergangenen Jahres zu seinen Taten vernommen. Er berichtete von seinen Diensten auf den Wachtürmen und kannte auch die Gaskammern. Schuld wolle er aber nicht auf sich geladen haben. „Was hätte es denn genutzt, wenn ich weggegangen wäre, dann hätten sie jemand anderes gefunden“, sagte er. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vor. Er soll die heimtückische und grausame Tötung jüdischer Häftlinge unterstützt haben.

Während seiner Wachtätigkeit kam es auf Anordnung des Dritten Reiches zur „Endlösung der Judenfrage“ und damit zur systematischen Tötung von Lagerinsassen. Häftlinge wurden mit Genickschuss im Krematorium, mit Giftgas und durch Nahrungsentzug getötet. Der heute 92-Jährige sei damals ein „Rädchen der Mordmaschinerie“ gewesen, so die Staatsanwaltschaft.

Neues Urteil vom Bundesgerichtshof

Der Bundesgerichtshof hatte 2016 in seinem Urteil zu Oskar Gröning, einem SS-Mann in Auschwitz, den Weg dafür freigemacht, dass die Mitwirkung am Massenvernichtungsprogramm der Nationalsozialisten als Beihilfe zum Mord bewertet wird. Den Beschuldigten müssen dafür keine Einzeltaten nachgewiesen werden.

„Diese Neubewertung war mehr als überfällig“, sagt Alyn Beßmann. Bereits in den 1960er-Jahren hatte der Staatsanwalt Fritz Bauer argumentiert, in den Vernichtungslagern habe ein arbeitsteilig organisierter Massenmord stattgefunden. Daher müsse die Mitwirkung am Betrieb des Lagers und nicht die einzelne Tötungshandlung bestraft werden.

Während im KZ Stutthof rund 65.000 Menschen ermordet wurden, starben im KZ Neuengamme und in den Außenlagern mindestens 42.900 Häftlinge. Dort waren 4500 SS-Angehörige und 400 Aufseherinnen tätig. Nach Kriegs­ende mussten sich 108 Männer und 20 Frauen wegen der im KZ Neuengamme begangenen Verbrechen vor britischen Militärgerichten verantworten. Diese Gerichte verhängten 33 Todesurteile.