Hamburg. Bei dem kulinarischen Rundgang „Eat the World“ wird auch Wissenswertes über das Quartier serviert. Überraschungen gehören dazu.

Zum Frühstück lauwarme Fischfrikadellen mit hausgemachter Remoulade? Im Nu wird dem Zugereisten klar: Mensch, du bist in Hamburg. Der Hanseat an sich wundert sich indes durchaus über diese Form der Frühversorgung. Wat mutt, dat mutt. Und er vernascht das fischig-fettige Teil mit der urwüchsigen Kampfkraft des Norddeutschen. Nicht lang schnacken, Kopf in’ Nacken. Allein der Köm fehlt, aber ist ja noch nicht Abend.

Somit sind wir mittenmang im Thema, das eine Erfolgsgeschichte ist. Titel: „Eat the World“. Übersetzt: Iss die Welt. Andere bringen die Aktion als Futtertour auf den Punkt. Heute, am ersten Aprilsonnabend, sind wir in Ottensen unterwegs. Drei Stunden führt der Rundgang durch „unentdeckte Kieze, versteckte Gassen, verborgene Hinterhöfe“, so die offizielle Ankündigung. An sechs bis sieben Stationen wird Einkehr gehalten – auf einen Imbiss, salzig oder süß, angereichert mit Hintergrundinformationen über das Viertel. Diese Kombination entwickelte sich zu einem Renner.

Zwischenstation Hinterhof Bahrenfelder Straße: Tourguide Astrid Brüggmann erzählt Wissenswertes vom Leben hinter den Kulissen.
Zwischenstation Hinterhof Bahrenfelder Straße: Tourguide Astrid Brüggmann erzählt Wissenswertes vom Leben hinter den Kulissen.

Erst einmal begrüßt Tourguide Astrid Brüggmann ihre Gruppe mit einem erfrischenden „Moin!“ Kurz vor 11 Uhr haben sich die 16 angemeldeten Teilnehmer am Eckpunkt an der Ottenser Hauptstraße eingefunden. Die Mischung ist bunt, Geschlechter, Alter, Kleidung betreffend. Eine Vierergruppe aus dem Ruhrgebiet verbringt ein Wochenende in Hamburg, zwei Damen aus dem Mittel­alter reisten aus Stade an, ein Quartett kommt aus dem Osten der Hansestadt. Alle eint Appetit auf den dreistündigen Rundgang und auf eine abwechslungs­reiche Speisefolge an urigen Orten. Die Stimmung ist gut, das Wetter bestens.

16 Etappenziele im Quartier

Aus ihrer Umhängetasche mit dem Firmenlogo zieht Astrid Broschüren hervor. Aufgelistet sind 16 Etappenziele im Quartier rund um Bahnhof Altona, Fabrik und Holländischer Reihe. Den tatsächlichen Programmablauf erfahren die Mitläufer nach und nach. Im Heft befindet sich eine Papierserviette. Man wird sie gut gebrauchen können.

Stärkungsstätte Nummer eins ist der Fischhöker auf dem Spritzenplatz. Herfried Effenberger, älterer Bruder des gleichnamigen Bäckers, erweist sich als pfundiger Kaventsmann mit burgund­roter Schürze und weißem Bart. „Das ist kein Übergewicht“, sagt er mit Blick auf seine formidable Plauze, „das ist Unterlänge.“ Dieser Fischmann ist ein Schnackbär. Die Gruppe freut sich darüber. Nebenbei erklärt er noch ein paar Geheimnisse eines zielgerichtet guten Einkaufs der Meerestiere. Das wollen die Leute hören. Mit jeweils einer halben Fischfrikadelle plus üppigem Remouladenklacks intus geht’s weiter.

Birgit, die Inhaberin von B. Sweet, reicht in ihrem Ladengeschäft an der Ottenser Hauptstraße Salzkaramelltrüffel. Neben   Schokolade offeriert sie feine Wäsche.
Birgit, die Inhaberin von B. Sweet, reicht in ihrem Ladengeschäft an der Ottenser Hauptstraße Salzkaramelltrüffel. Neben Schokolade offeriert sie feine Wäsche.

Vorbei an der 1878 vor Ort gegründeten Buchhandlung Christiansen, die sich unverändert in Familienbesitz befindet, und einem Halt auf einem typischen Altonaer Hinterhof mit Kopfsteinpflaster, steuern wir das Spezialgeschäft B. Sweet an. Auf engem, fantasievoll inszeniertem Raum bietet die Chefin mit dem einprägsamen Namen Birgit Kussmaul-Basedahl sündhaft leckere Schokolade und verführerische Dessous an.

Wäsche vom Feinsten

„Das ist doch kontraproduktiv“, kommentiert Dirk Kamper aus Mülheim an der Ruhr. Damit meint der Mann augenzwinkernd, dass dauerhafte Zufuhr dieser Kalorienbömbchen eine Strand­figur nicht begünstigen. Die Inhaberin reicht Salzkaramelltrüffel und bittet in die hinterste Kemenate ihres Reichs. Hier lockt Wäsche vom Feinsten. Eine spontane Diskussion, ob nun eine Dame oder ein Herr aus der Gruppe als Model durch den Raum stolzieren sollen, unterbricht Astrid Brüggmann mit klarem Kommando. Und tschüs!

Auf dem Weg zum Alma-Wartenberg-Platz stoppen wir an einem uralten Bagger M 152 der Firma Menck und Hambrock, ein Denkmal der Industrieära im Bezirk. Astrid zeigt ein Foto von früher. Erstaunen. Immer deutlicher wird klar, welchen Wissensschatz die 48 Jahre alte Tourführerin gespeichert hat. Sie erzählt so viel Wissenswertes, dass sogar Einheimische profitieren. Quasi im Vorübergehen ist Näheres zu erfahren.

Ein wandelndes Lexikon

Frau Brüggmann führte bisher mehr als 100 Gruppen zum etwas anderen Futtern durch Ottensen. Sie recherchierte emsig, wurde von ihrer Firma geprüft, hat offene Ohren. Vor allem verfügt sie über ein gewinnendes Wesen. Mittlerweile ist die Freizeitmalerin mit eigenen Ausstellungen ein wandelndes Lexikon des unkonventionellen Stadtteils. Parallel leitet die gelernte Hotelfachfrau „Eat the World“-Rundgänge durch Eimsbüttel und St. Georg sowie bald auch eine neuartige Crime-Tour durch St. Pauli.

Das Geschäftsprinzip der „Futtertouren“ ist ebenso einfach wie genial. Teilnehmer erfahren für einen Ticketpreis von 39 Euro Spannendes mit Häppchen unterwegs. Im Gegenzug machen die beteiligten Lokale und Läden Werbung in eigener Sache. Geld fließt hier nicht.

113 Touren in 45 Städten

2008 als Start-up von zwei Frauen in einem Berliner Hinterhofgebäude gegründet, wurde das Unternehmen 2017 vom Verlag Gruner + Jahr gekauft. Heute bietet die boomende Firma 113 Touren in 45 Städten an. Hamburg ist mit rund 100 geführten Rundgängen pro Woche durch bald zwölf Stadtteile der umsatzstärkste Stützpunkt. Kulinarische Vielfalt lebt. Allein in Ottensen standen von Freitag bis Sonntag neun unterschiedliche Touren auf dem Programm.

Wir lassen uns in der urigen Piazza Italiana nieder, genießen Bruschetta. Wir erfahren, dass der Alma-Wartenberg-Platz früher ein Ferkelmarkt war und dass im Supermarkt um die Ecke ein Flügel steht. Wir essen sechs knusprige Pizzateile im Restaurant Eisenstein in den Zeisehallen und lernen über die Indus­trialisierung vor Ort. Wir gönnen uns bei Jö Makrönchen an der Friedensallee Süßes frisch vom Blech und fluchen, dass unser Magen nicht mehr kann.

Beim abschließenden Bummel durch den Borselhof sind wir bester Laune – und inzwischen überwiegend per Du. „Für uns war das Neuland hier“, sagt Johanna Hensel aus dem Osten Hamburgs. Ihre Freunde Laura, Benjamin und Norwin nicken zustimmend. Einheitlicher Tenor: Der Appetit ist noch gewachsen.