Hamburg. Ein Unternehmensberater und ein Freund werden mit Totschlägern angegriffen. Bei den Ermittlungen gibt es ein Problem.

David Müller scrollt durch sein Smartphone und deutet auf Fotos, deren Anblick man kaum erträgt. Die Bilder zeigen sein zerbeultes Gesicht mit Verbänden an Nase und Kiefer. „So haben mich die Täter zugerichtet“, sagt der 34 Jahre alte Unternehmensberater. Entstanden sind die Fotos vor sieben Wochen im UKE, wo Müller, betäubt mit Opiaten, zehn Tage lag. Die Operation, angesetzt auf zwei Stunden, dauerte mehr als doppelt so lang – so schwerwiegend waren seine Verletzungen. Den Chirurgen ist David Müller dankbar: „Sie haben exzellente Arbeit geleistet, mein Gesicht weitgehend hergestellt.“

In der Tat: Wer Müller heute sieht, muss schon genau hinschauen, um die Spuren des Verbrechens zu sehen – nur die Augenpartie wirkt noch geschwollen. Doch dann deutet Müller auf seine Nase („die fühlt sich an wie aus Pappe, die Ärzte mussten sie rekonstruieren“), auf sein Jochbein („Platten eingesetzt nach Trümmerbruch“), auf seinen Oberkiefer („ebenfalls eine Platte drin“). Nachts, sagt er, verschieben sich die Platten – nur mit Schlafmitteln kann er etwas Ruhe finden. Wange und Nase sind noch immer ohne Gefühl: „Ich kann nicht zwischen Kälte und Wärme unterscheiden.“

Totschläger sind in Deutschland verboten

Derart zugerichtet wurde er ausgerechnet an seinem Geburtstag. Mit zehn Freunden hatte sich Müller am 16. Februar auf dem Kiez verabredet. Gegen 4 Uhr morgens löst sich die Gruppe auf, David Müller will nur noch mit einem Kumpel einen Absacker im Hans-Albers-Eck trinken. Dort stößt er sein Bierglas um, ein letztes Signal, dass es Zeit für den Heimweg ist. Die beiden gehen zu einem Taxi, als sich von hinten zwei Männer nähern. Mit Totschlägern, Teleskopstöcken mit schwingenden Stahlkugeln, schlagen sie ihren Opfern in die Gesichter. „Mein Freund ging nach einem Treffer gegen die Schläfe zu Boden, er kam mit einer Gehirnerschütterung und einer schweren Beule davon. Ich blieb dagegen stehen, deshalb hat man mich zwei- oder dreimal geschlagen. Ich hätte sterben können.“

In der Tat tragen die in Deutschland verbotenen Totschläger ihren Namen zu Recht. Durch den Peitscheneffekt können Schädel regelrecht zerplatzen. Tag für Tag fragt sich Müller nach dem Motiv der Täter: „Ich habe noch nie einen anderen Menschen angegriffen, ich bin weder in irgendwelche Drogengeschäfte noch in Prostitution verwickelt. Ich wollte einfach nur feiern. Wer tut so etwas?“ Waren es Türsteher? Ausländerhasser? Müllers Freund kommt aus dem Iran, er selbst wirkt südländisch. Oder Chaoten, süchtig nach Gewalt?

Ermittlungen wegen schwerer Körperverletzung

Da David Müller fürchtet, dass die Täter wieder zuschlagen könnten, möchte er nicht, dass ein Foto von ihm erscheint. Auf seinen Wunsch hat das Abendblatt ihm auch einen anderen Namen gegeben. Die Polizei ermittelt wegen schwerer Körperverletzung, Müller nennt das Delikt versuchten Totschlag. Insgesamt ist er von den Ermittlungen enttäuscht: „Ich verstehe nicht, wieso man nicht sofort den Tatort abgesperrt und Zeugen befragt hat.“

Auf Abendblatt-Anfrage erklärt die Polizei: „Maßnahmen zur Spurensicherung am Tatort konnten nicht erfolgen, da der Tatort nicht bekannt war.“ Laut Polizei hätten „die beiden Geschädigten bei der Anzeigenaufnahme angegeben, keine Erinnerungen an die Tathandlung und den Tatort zu haben, sodass der Tatort zunächst nicht verifiziert werden konnte“. Deshalb habe man auch keine Spuren sichern können.

Müller kann dies nicht akzeptieren: „Es war offensichtlich, dass die Tat auf dem Hans-Albers-Platz geschah. Die Crew aus dem Rettungswagen hat uns dort behandelt. Oder glaubt die Polizei ernsthaft, mein Freund hätte mich in seinem Zustand auf seinem Rücken woanders hintragen können?“ Müller versteht auch nicht, warum der Zeugenaufruf erst einen Monat später erfolgte: „Dies hätte man sofort machen müssen.“ Die Polizei erklärt dazu: „Nachdem ein Geschädigter zwölf Tage nach der Tat den Tatort benannt hatte, wurden weitere mögliche Zeugen ermittelt und vernommen. Anschließend wurde ein Zeugenaufruf eingeleitet.“ Müller fragt sich nun, warum ihn die Polizei nicht im UKE aufgesucht habe: „Dort hätte man mich ja als Zeugen vernehmen können.“

Keine Videoaufzeichnungen

Fassungslos macht das Opfer aber das größte Problem der Ermittlungen: Es gibt keine Videoaufzeichnungen der Tat. „Für mich ist das gerade auf der Reeperbahn unbegreiflich“, sagt Müller. Dabei hat die Polizei seit 2016 wieder 14 hochauflösende Kameras auf dem Kiez positioniert. Nach einer in den ersten beiden Instanzen erfolgreichen Klage einer Anwohnerin gegen diese Technik waren die Kameras 2010 abgeschaltet worden. Das Bundesverwaltungsgericht kassierte jedoch 2012 die Urteile und erklärte die Videoüberwachung an Schwerpunkten der Straßenkriminalität für rechtmäßig.

Die Details sind jedoch komplex. Die Behörde für Datenschutz hält auf Abendblatt-Anfrage „eine durchgehende Videoüberwachung für nicht zulässig“, dafür müsste die Polizei belegen, dass „an überwachten Orten auch zukünftig mit der Begehung von Straftaten zu rechnen ist“, diese Informationen lägen „aktuell“ nicht vor. Die Behörde für Inneres teilt mit, dass auf der Reeperbahn an drei Standorten (Große Freiheit, Hamburger Berg, Talstraße) eine „automatische Aufzeichnung in definierten Zeitfenstern“ erfolge: „Die übrigen Kameras im Bereich St. Pauli, u. a. auch am Hans-Albers-Platz, werden lageabhängig bzw. anlassbezogen bei einer entsprechenden Gefahrenprognose aktiviert.“ Dies war nach einer Stellungnahme der Polizei zum Tatzeitpunkt nicht der Fall, daher gibt es keine Videoaufzeichnung.

Gladiator kämpft für Ausbau der Technik

Dennis Gladiator, innenpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion, hält dies für falsch: „An Orten, wo es zu so vielen Straftaten kommt wie auf der Reeperbahn, müssen die Kameras automatisch laufen.“ Gladiator kämpft für einen Ausbau der Technik, die er Videoschutz nennt: „Es geht nicht um Überwachung, sondern um den Schutz aller Menschen, Opfer zu werden. Bei Straftaten müssen sie sich darauf verlassen können, dass bei Ermittlungen Bilder ausgewertet werden können.“

Als Beispiel nennt Gladiator einen Fall in Berlin, der 2016 für Schlagzeilen sorgte: Ein 28-Jähriger hatte eine Studentin in den Rücken getreten, sie fiel die Treppe runter und brach sich den Arm. „Der Täter konnte nur gefasst werden, weil es Videoaufnahmen gab.“, sagt Gladiator. Bedenken von Datenschützern lässt er nicht gelten: „Die Aufnahmen werden innerhalb enger Fristen wieder gelöscht. Zudem werden private Hauseingänge gepixelt. Und die Bilder liegen auf sicheren Servern.“ Gladiator sagt: „Es darf in Hamburg keine Angsträume geben, dazu kann der Videoschutz einen wertvollen Beitrag leisten.“

Weisse Ring unterstützte das Kiez-Opfer

Bei David Müller schwindet die Hoffnung, dass er den Männern, die ihn so zugerichtet haben, in einem Gerichtssaal gegenüberstehen wird. Und dennoch ist er der Polizei für einen Rat dankbar: „Man hat mir empfohlen, mich an den Weissen Ring zu wenden. Das war ex­trem wichtig.“ In den ersten Wochen nach der Tat sprach der ehrenamtliche Betreuer fast täglich mit David Müller, übernahm zudem den Schriftverkehr mit der Krankenkasse und Versicherungen.

Der Betreuer füllte für Müller auch den Antrag für Leistungen aus dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) aus. Auf Schmerzensgeld darf Müller dennoch nicht hoffen, das OEG zahlt vor allem Therapien und hilft bei wirtschaftlicher Not. Müller ist noch immer arbeitsunfähig, er kann sich durch die Schmerzen nicht lange konzentrieren. Zudem müssen in einem Jahr die Platten wieder herausoperiert werden. Und auf die erhoffte Reha wartet Müller noch immer.

Noch tiefer sind indes die seelischen Narben, sein Betreuer vom Weissen Ring hält ihn für „schwer traumatisiert“. Müller, ein durchtrainierter und sportlicher Typ, plagen Angstzustände, er überlegt, wieder zurück in seine süddeutsche Heimat zu ziehen. Dabei hat er sich in Hamburg stets wohlgefühlt. Und ein Entschluss steht fest: „Den Kiez werde ich nie wieder in meinem Leben betreten.“