Hamburg. Der Hamburger Journalist und Vater Jan Abele ist in seinem neuen Buch der Legende von der Überbehütung nachgegangen.

Moderne Großstadteltern haben es nicht leicht. Stehen ständig unter Beobachtung, wollen cool sein, sollen Job und Familie prächtig managen und weder zu nachlässig noch zu behütend ihre Kinder erziehen, denn sonst droht schnell der Stempel: Igitt, Helikoptereltern! Aber wo hört gesunde Fürsorge auf, wo beginnt das Überbehüten? Darüber hat sich Jan Abele, langjähriger Redakteur einer Elternzeitschrift und selbst Vater eines Sohnes, Gedanken gemacht und ein kluges wie lustiges Plädoyer für achtsame Eltern von heute geschrieben. Denn: Maßvolles Helikoptern ist kein Verbrechen, zu viel Liebe kann es nicht geben, findet Abele. Das muss er in der vermeintlichen Helikoptereltern-Hochburg Eimsbüttel natürlich erklären – bei einem Gespräch unter Eltern.

Hamburger Abendblatt: Herr Abele, wie viele Erziehungsratgeber mussten Sie lesen, um selbst einen zu schreiben?

Jan Abele: Viele, sehr viele sogar. Schon berufsbedingt kamen ja dauernd Neuerscheinungen auf meinen Tisch, da war ich automatisch im Bild. Jesper Juul etwa fand ich immer gut, der ist nur manchmal den Eltern gegenüber sehr überheblich. Etwa, wenn er sie mit dem Servicepersonal im Flugzeug vergleicht. Das ist übergriffig und verunsichert.

Bei Ihnen ist diese Verunsicherung offenbar in die These gemündet, dass es nicht zu viel Liebe für Kinder geben kann.

Abele: Die Debatte wurde mir zu negativ geführt. Die Unterstellung lautet ja: Wir sind viel zu lieb und lassen zu viel zu. Oder wir engen unsere Kinder durch unsere Fürsorge ein. Ich habe daraufhin zu recherchieren begonnen. Wie leben wir heute, wie sind wir früher erzogen worden, was waren die Unterschiede in den Erziehungsidealen?

Und?

Abele: Ich glaube tatsächlich, dass keine Elterngeneration ihre Kinder so achtsam und liebevoll erzogen hat wie wir. Wir ziehen Grenzen nicht so früh, wie das unsere Eltern vielleicht noch gemacht haben. Das führt zu einer vertrauensvolleren Bindung – aber eben auch dazu, dass es für Unbeteiligte manchmal so aussehen kann, als würden uns die Kinder auf unserer Nase herumtanzen.

Dann halten Sie Helikoptereltern auch nur für einen Mythos?

Abele: Es ist ein moderner Kampfbegriff. Helikoptern ist ja erst mal eine Offenbarung von Erziehungsfehlern. Und ich glaube, jeder von uns hat ständig Angst, Fehler in der Erziehung zu machen, die sich später rächen. Deshalb ist die Debatte auch so giftig, weil sie das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern beeinflusst.

Es gibt Eltern, die begleiten ihre Kinder morgens bis ins Klassenzimmer ...

Abele: Ja, aber wir sind nicht in der Position, das zu verurteilen. Wir kennen ja gar nicht die Hintergründe. Unser Sohn hatte schon drei astreine Erstickungsanfälle beim Essen, weshalb wir da unheimlich aufpassen. Das mag für andere übertrieben wirken.

War das Ihr Auslöser, ein Buch zu schreiben?

Abele: Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich mich in der Öffentlichkeit oft als der Vater gegeben habe, der ich gar nicht bin. Bloß nicht zu viel Nähe und keine Ängste zulassen, bloß nicht Helikoptern. Und dann kam mein persönliches „Waterloo“ auf dem Spielplatz in Planten un Blomen. Mein Sohn hatte sich beim Klettern überschätzt, aber ich bin ungerührt stehen geblieben, weil ich dachte: Nee, du wirst jetzt nicht einer dieser überbehütenden Väter und stehst mit offenen Armen als menschliches Sprungtuch unter dem Gerüst. Leider ist er dann wirklich abgestürzt.

Und danach musste Ihr Frust raus?

Abele: Ich habe mit vielen Eltern gesprochen, denen es ähnlich geht. Eltern fühlen sich heute in der Öffentlichkeit viel stärker beobachtet. Und das führt oft dazu, dass sie sich nicht mehr auf ihr Gefühl verlassen, sondern innerlich abwägen, was von ihnen erwartet wird. Denn auf der Straße, unter Publikum, offenbart sich heute die Erziehungskompetenz. Wenn ein Kind in der Öffentlichkeit durchdreht, denken viele: typisch, bei den Eltern von heute. Aber keiner kennt doch die Vorgeschichte. Das setzt Eltern wahnsinnig unter Druck, macht Erziehung schwieriger als, sagen wir, in den 80er-Jahren, in denen die Methoden noch etwas robuster waren. Anbrüllen, Durchschütteln oder gar Prügel sind heute ja gesellschaftlich geächtet.

Das ist ja wohl auch gut so, oder?

Abele: Natürlich ist der Wandel gut. Es gibt immer mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft, wir sprechen darüber, wie wir Minderheiten durch Sprache nicht ausgrenzen, da passiert ganz viel Positives. Wir kommunizieren achtsamer. Und das hat selbstverständlich Einfluss auf die Erziehung. Angst ist heute keine Währung mehr.

Was dazu führt, dass modernen Eltern fehlendes Durchsetzungsvermögen und mangelnde Konsequenz unterstellt wird.

Abele: Das hat auch mit der deutschen Vergangenheit zu tun. Die Angst vor dem Verhätscheln war besonders durch die Nazis weit verbreitet. Lange hieß es: Kinder brauchen Härte, um selbstständig zu werden. Kompliziert wurde es dann mit der 68er-Bewegung, die den Aufstand gegen die Eltern propagierte und antiautoritär erziehen wollte. Kinder entwickeln sich nur, wenn sie sich gegenüber ihren Eltern abgrenzen, auch die Vorstellung wirkt noch heute. Das Ergebnis ist Verunsicherung und die abstruse Medien-Einschätzung, dass es bedenklich ist, wenn laut Shell Jugendstudie 90 Prozent der heutigen Jugendlichen ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben. Ich kann darin keinen Nachteil erkennen.

Drei Erziehungsberechtigte unter sich: Vera Fengler, Jan Abele und Nico Binde im Café Strauss.
Drei Erziehungsberechtigte unter sich: Vera Fengler, Jan Abele und Nico Binde im Café Strauss. © privat

Sie sagen, sich über Helikoptereltern lustig zu machen sei zynisch. Wie meinen Sie das?

Abele: Vieles wird heute als Helikoptern verstanden, was mit Zuneigung und Liebe zu tun hat. Wenn es die Eltern aus den Helikopterbüchern wirklich gibt, sind sie reif für die Couch. Man kann gar nicht zu viel Liebe geben. Wenn die Zuneigung ein Kind erdrückt, ist das keine Liebe.

Wo zieht man Ihrer Ansicht nach die Grenze zwischen Achtsamkeit und Überbehütung?

Abele: Das können nur die Eltern selbst entscheiden, weil sie ihr Kind kennen und Erfahrungswerte haben, die sonst niemand hat. Wir übersehen oft, dass jedes Kind mit einer ganz eigenen Persönlichkeit auf die Welt kommt und nicht durch die eine goldene Erziehungsregel zu einem guten Menschen wird. Ich war eher ein schüchternes Kind, das seine Grenzen nie ausreizte, mein Bruder dagegen brauchte manchmal einen Elek­trozaun, damit er versteht, dass es dahinter nicht weitergeht.

Das klingt, als würden Sie verunsicherten Eltern ein wenig Orientierung geben wollen.

Abele: Mein Buch soll erst mal moderne Eltern darin bestätigen, dass sie heute vieles besser machen als früher, und dass es egal ist, wenn jemand behauptet, man helikoptere, wenn man zum Beispiel einmal mehr zum Kinderarzt geht. Eltern verbringen heute viel mehr Zeit mit ihren Kindern – dass Papa nach der Arbeit erst mal für zwei Stunden im Hobbykeller verschwindet, ist ja inzwischen unvorstellbar. Ich tue mich schwer mit der These, Kinderkriegen basiere heute auf Egoismus und Selbstoptimierung.

Welche Rolle spielt der Erziehungsraum Großstadt beim Thema des vermeintlichen Helikopterns?

Abele: Der Raum, in dem wir uns bewegen, ist faktisch gefährlicher. Das Bild des Großstadtneurotikers passt auch bei Eltern. Wir und unsere Kinder hören dauernd Sirenen, sehen Polizei- und Krankenwagen. Das ist schon mal ein anderer Sound als auf einem Dorf an der Nordsee mit Möwen und Kühen. Wir selbst wohnen an der Stresemannstraße, da nimmt man sein Kind länger an die Hand, als im Niendorf der 80er-Jahre, wo ich groß geworden bin.

Das erklärt aber noch lange nicht durchaus zu beobachtende ungesunde Überbehütung.

Abele: In der Großstadt spielen Haltung und Aussehen eine größere Rolle, als auf dem Land. Das ist zusätzlicher Stress und macht es mit dem Beobachtungsdruck und der Fülle an Erziehungsstilen auf engstem Raum komplizierter. Sobald man hier einen SUV fährt, schwingt ja sofort der Vorwurf mit, man sei ein schlechter Mensch. Auf dem Land sind große Autos weniger statusbehaftet. Der Leistungsdruck der Großstadt überträgt sich fraglos auf die Kindererziehung. Und klar gibt es doofe, anstrengende Eltern. Die wirklich nach der Maxime verfahren: Hauptsache, meinem Kind geht’s gut, die anderen sind egal. Aber wir müssen aufhören, so zu tun, als wäre das die Mehrheit, als wären wir alle so.

Dann haben Sie gar kein Manifest für Helikoptereltern geschrieben, sondern eine Streitschrift für was?

Abele: Es ist ein Plädoyer dafür, seine Liebe und Nähe zu seinem Kind nicht an Bedingungen zu knüpfen. Sich nicht ständig zu fragen: Entspreche ich der Ratgeberliteratur? Was würde Jesper Juul tun? Es ist ein Plädoyer für den gesunden Menschenverstand, der meistens richtig liegt.

Sie sind Vater eines Kindes. Glauben Sie, überhaupt genug Erfahrungswerte zu haben, um Eltern mit mehr Kindern hilfreiche Tipps zur Erziehung geben zu können?

Abele: Mir hat eine Journalistin neulich gesagt: Das beste Mittel gegen Helikoptern sind drei Kinder. Aber Spaß beiseite: Erstens gebe ich gar keine Tipps, sondern schildere nur, wie meine Frau und ich in dem Spannungsverhältnis von ständigem Helikopterverdacht und großer Liebe zu unserem Kind einen für uns richtigen Weg gefunden haben. Die Diskussion über Einzelkinder ist ja genauso vorverurteilend und verletzend, wie andere Eltern als Helikoptereltern zu bezeichnen. Ich glaube, wir Eltern sind gut beraten, uns gegenseitig zu unterstützen und zu bestätigen, statt mit den Augen zu rollen und aus der eigenen Verunsicherung heraus das Verhalten anderer Eltern zu kritisieren.

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Trotzdem bitte zum Abschluss noch drei handfeste Tipps für alle Eltern, die nach wie vor verunsichert sind. Was macht man denn, wenn das Kind vor versammelter Mannschaft um sich schlägt?

Abele: Ich kann da nur von den Erfahrungen mit meinem Sohn sprechen. Aber ohne es generalisieren zu wollen, fahre ich gut damit, immer konsequent zu sein. Ich sage vielleicht viel seltener Nein zu meinem Sohn, als das früher gängig war. Aber wenn, dann ziehe ich das auch durch. Kinder müssen sich auf ihre Eltern verlassen können. Wenn ich aus einer Laune oder Bequemlichkeit heraus mal streng und dann wieder nachgiebig bin, werde ich irgendwann nicht mehr ernst genommen. Ich glaube, das reicht schon als ultimativer Tipp.