Hamburg. Seit einem Jahr ist Peter Tschentscher Hamburger Bürgermeister. Politik betreibt er, wie er es als Mediziner gelernt hat.
Man tut Peter Tschentscher nicht Unrecht, wenn man ihn als einen bedächtigen und sehr gründlichen Politiker bezeichnet. Der Erste Bürgermeister analysiert, wägt ab, hört zu, ehe er entscheidet. Dabei zeichnet ihn auch eine gewisse Detailverliebtheit aus, was die Entscheidungsprozesse durchaus verlängert.
Der habilitierte Labormediziner zitiert gern den berühmten Arzt und Politiker Rudolf Virchow, der gesagt hat: „Politik ist nichts anderes als Medizin im Großen.“ Die ärztlichen Tugenden, die für den Sozialdemokraten auch in der Politik Richtschnur sind, lauten: zunächst untersuchen, dann einen Befund erheben und die Diagnose erstellen. Erst zum Schluss wird die Therapie festgelegt. „In der Politik werden oft Maßnahmen gefordert, bevor die Ursachen eines Problems geklärt sind“, sagte Tschentscher bei seinem Amtsantritt im Abendblatt-Interview. Ginge es nach Tschentscher, die Politik müsste wohl entschleunigt werden.
Auch ein Jahr nach der Übernahme des Bürgermeisteramts, eines stressigen und fordernden Amts in einem Stadtstaat wie Hamburg, wirkt Tschentscher nicht so, als ob er sich von der Vielzahl der Termine, der Grußworte bei Empfängen und Einweihungen, der Podiumsdiskussionen, innerparteilichen Absprachen, Senatssitzungen und Koordinierungsrunden auf Bundesebene ernsthaft hetzen ließe. Im Gegenteil: Er hat eine Art des kontemplativen und scheinbar tiefenentspannten Auftritts, den manche Gesprächspartner als geistige Abwesenheit missdeuten könnten. Er tritt seinem Gegenüber mit einer zurückhaltenden Freundlichkeit entgegen und offenbart nach und nach eine vorsichtige, tastende Neugier. Dass er Interesse an den Einschätzungen und Meinungen der Menschen, der Hamburger zumal, hat, wird dann sehr schnell klar.
Ein Abend im März: Tschentscher ist in den gut bürgerlichen Stadtteil Marienthal gekommen. Im Concordia-Clubheim („Ottmar Frank – Speis’ und Trank“) am Osterkamp erwarten ihn gut 30 Mitglieder des Wandsbeker Forums, einer Art Stammtisch des Bürgervereins Wandsbek, der regelmäßig hochkarätige Gäste zu informellem Gespräch und Meinungsaustausch begrüßt. Man kann es auch so ausdrücken: Hier sitzen bei Bier, Wasser und Cola Multiplikatoren des Stadtteils: Kaufleute, Ingenieure, Erzieherinnen, Rentner.
Michael Pommerening, Leiter des Wandsbeker Forums, versucht es zu Beginn mit einer leichten Provokation: „Ist Hamburg nun das Tor zur Welt oder der kranke Mann an der Elbe?“ Na gut, der Hafen mag derzeit nicht in allerbester Verfassung sein, dennoch wirkt Tschentscher etwas überrascht von der Frage angesichts der anhaltend guten Konjunktur mit sprudelnden Steuereinnahmen. „Hamburg ist kein Patient“, sagt der Politiker und Arzt. „Aber wenn wir uns nicht ändern, dann fallen wir zurück.“
Und schon referiert der Bürgermeister über die „vier großen Trends“, auf die es Antworten zu finden gilt: demografischer Wandel, Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel. Letzterer ist derzeit eines seiner Lieblingsthemen. „Wir haben noch Zeit, aber nicht mehr lang. Wir müssen mehr machen, um unsere Klimaschutzziele zu erreichen“, sagt der Bürgermeister und erntet schon zustimmendes Kopfnicken seiner aufmerksamen Zuhörer.
Dann berichtet er von seinen Gesprächen mit den Schülern, die auf dem Rathausmarkt unter dem Motto „Fridays for Future“ gegen den Klimawandel demonstriert haben. „Denen habe ich gesagt: Wir gucken nicht gegen die Wand im Rathaus. Wir machen schon viel“, sagt Tschentscher. Die Aufzählung der Maßnahmen des Senats mündet in eine lebhafte Diskussion über Wasserstoffzellen und die Umwandlung von Strom in Kerosin. „Damit können wir das Fliegen klimaneutral machen“, sagt Tschentscher begeistert und findet etwas unerwartet hier in Marienthal Unterstützung. Eine bemerkenswerte Verwandlung vollzieht sich: Der sonst so zurückhaltende und kontrollierte Bürgermeister wird immer lockerer. Er scheint sich in der respektvoll-freundlichen, bürgerlichen Atmosphäre wohlzufühlen.
Dieser Bürgermeister ist wahrlich kein Basta-Politiker
Plötzlich ist die Friedhofsmaut in Ohlsdorf Thema. „Ja, das ist scheiße gelaufen“, bekennt Tschentscher unumwunden zu den Überlegungen, die von der grün geführten Umweltbehörde lange gestützt wurden. „Gleich, als ich aus meinem Urlaub zurückkam, habe ich zu meinen Leuten gesagt: Das geht so nicht. Ein Besuch auf dem Friedhof, für den man bezahlen muss? Die Leute haben doch schon das Grab bezahlt“, sagt Tschentscher. Heiterkeit im Raum. So geht regieren, denken manche vielleicht. Tatsächlich hatte der Bürgermeister die Debatte kurz vor seinem Auftritt in Marienthal in einem TV-Interview vor laufender Kamera für beendet erklärt. Eine Friedhofsmaut? „Das gehört sich nicht, und das wird es auch nicht geben.“
Es ist einer der seltenen Fälle, bei denen der Bürgermeister, wahrlich kein Basta-Politiker, klar seine Entscheidung durchsetzt. Auch beim Chaos der Baustellenkoordinierung hatte Tschentscher ein solches Zeichen gesetzt und für ein neues Konzept gesorgt.
Der Abend in Marienthal zeigt: Der Sozialdemokrat kann durchaus unterhaltsam erzählen, kommt ins Plaudern und „verkauft“ scheinbar nebenbei seine Politik. Wohnungsbau, Erbbaurecht, Pflege, Schulbau, Finanzen – Tschentscher antwortet mit konkreten Beispielen und eigenen Erlebnissen. Der Beifall für ihn am Ende ist kräftig. „War aber nett bei Ihnen!“, sagt Tschentscher zum Abschied und lächelt etwas versonnen.
Und noch etwas verdeutlichen dieser und viele ähnliche Auftritte: Der studierte Arzt Dr. Peter Tschentscher, der viele Jahre am Uniklinikum Eppendorf (UKE) tätig war, bevor er 2011 Finanzsenator wurde und damit die Politik zu seinem Beruf machte, hat auch diese neue Rolle angenommen. Mehr noch: Auch wenn er den Aufstieg von der Finanzbehörde ins Rathaus nüchtern als „Funktionswechsel“ herunterspielt, scheint er Gefallen am Job des Bürgermeisters zu finden, den er vor einem Jahr für viele überraschend übernommen hatte.
Rückblende: Als sich im Winter 2018 abzeichnet, dass in Berlin eine Große Koalition zustande kommen wird, in der der bisherige Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) als Finanzminister und Vizekanzler vorgesehen ist, gilt in Hamburg Andreas Dressel als klarer Favorit auf seine Nachfolge. Als Chef der SPD-Bürgerschaftsfraktion hat er Scholz den Rücken frei gehalten, hat dafür gesorgt, dass die rote und später die rot-grüne Mehrheit steht, hat diverse schwere Konflikte mit Volksinitiativen wegmoderiert und sich durch seine offene und einnehmende Art viele Sympathien erworben.
Doch Scholz favorisiert überraschend Melanie Leonhard als seine Nachfolgerin. Die anerkannte Sozialsenatorin ist mit 40 Jahren zwar noch drei Jahre jünger als Dressel, doch Scholz traut ihr eher die nötige Härte für das Amt zu als dem relativ harmoniebedürftigen Fraktionschef. Da Leonhard jedoch intern schnell klar sagt, dass sie mit Rücksicht auf ihren kleinen Sohn nicht zur Verfügung steht, bleibt Dressel der Favorit. Selbst zur entscheidenden Sitzung der Parteiführung fahren einige Genossen in dem Glauben, den Fraktionschef zum Bürgermeister zu machen.
Dressel verzichtet überraschend
Doch an diesem 8. März kommt alles anders: Überraschend verzichtet auch Dressel auf das Bürgermeisteramt. Wie Leonhard verweist er auf seine familiäre Situation mit drei kleinen Kindern. Und so richten sich die Blicke plötzlich auf Peter Tschentscher: Der ist nach sieben Jahren im Amt eines der erfahrensten Senatsmitglieder, erfolgreicher Haushaltssanierer, innerparteilich sehr beliebt – und sein Sohn ist bereits erwachsen, wie Scholz später etwas süffisant feststellt. Tschentscher ist zwar bis dahin nicht durch eigene, über sein Ressort hinausgehende Ambitionen aufgefallen, doch er sagt: „Ich traue mir das zu.“ Und die Partei traut es ihm zu.
Am 24. März wird der 52-Jährige mit gut 95 Prozent von einem Landesparteitag als Scholz-Nachfolger nominiert. Bei der Gelegenheit werden noch weitere Weichen gestellt: Leonhard übernimmt den Parteivorsitz, den Scholz nach neun Jahren ebenfalls niederlegt, und Dressel wird statt Bürgermeister Nachfolger von Tschentscher als Finanzsenator.
Der Start in der neuen Konstellation verläuft etwas holperig. Bei der Wahl des neuen Bürgermeisters in der Bürgerschaft kommt Tschentscher nur auf 71 Stimmen – obwohl SPD und Grüne zusammen über 73 Mandate verfügen. Der Plan der Parteiführung, den Eimsbüttler Juristen Milan Pein zum neuen SPD-Fraktionschef zu machen, scheitert nach einer längeren Auseinandersetzung – die Abgeordneten wählen stattdessen Dirk Kienscherf aus Hamburg-Mitte zu ihrem Vorsitzenden. Und auf dem ersten SPD-Parteitag nach Tschentschers Amtsantritt wird völlig vergessen, dem neuen Bürgermeister einen Platz oder eine Rolle zu geben, und er fordert sie auch nicht ein. Bei den Genossen kommen erste Zweifel auf, ob dieser scheinbar gering ausgeprägte Führungsanspruch sich mit der Rolle als Zugpferd verträgt – nicht zuletzt soll der Bürgermeister für die SPD 2019 (Bezirke) und 2020 (Bürgerschaft) wichtige Wahlen gewinnen.
Tschentscher hat die ungünstigen Startvoraussetzungen, hämische „Dritte Wahl“-Kommentare der Opposition und oberflächliche Vergleiche, er sei ja nur ein „Scholz-Zwilling“, mittlerweile abgeschüttelt und prägt das Amt auf seine ganz eigene, zurückgenommene Art.
„Er hat es gar nicht so schlecht gemacht“, lautet das Urteil eines Parteifreundes über Tschentschers erstes Amtsjahr. Darin mag ein wenig Abschätzigkeit liegen und die geringe Erwartung zu Beginn zum Ausdruck kommen. Ähnlich fallen jedoch auch andere Bewertungen aus, etwa auch aus dem Lager der Grünen. Tschentscher selbst hat einmal gesagt: Sein zentrales Bestreben während der ersten Monate im Rathaus-Eckbüro mit dem schönen Alsterblick war es, keine Fehler zu machen. Als Fußballtrainer wäre der gebürtige Bremer wohl ein Defensivtaktiker. Bloß keine Gegentore zulassen, keine Leichtsinnsfehler.
Auf die Politik übertragen lässt sich nach zwölf Monaten sagen: Nichts Gravierendes ist diesem Bürgermeister misslungen, die von ihm befürchteten Fehler sind im Großen und Ganzen ausgeblieben. Dabei gab es einige hohe Hürden, an denen er hätte stolpern können: Die von der EU verordnete Privatisierung der HSH Nordbank, mit deren Milliarden-Problemen sich Tschentscher als Finanzsenator jahrelang herumgeschlagen hatte und für die er entgegen vieler Prognosen wenige Tage vor seinem Amtswechsel doch einen Käufer gefunden hatte, musste abgeschlossen werden. Für die Elbvertiefung musste die letzte juristische Hürde aus dem Weg geräumt werden – was zur Freude der Hamburger Wirtschaft nach vielen Jahren Vorplanung endlich gelang.
Und dann war da noch der durch einen Volksentscheid erwirkte, aber äußerst komplexe Rückkauf des Fernwärmenetzes von Vattenfall, der ebenfalls in trockene Tücher gebracht wurde, wenn auch erst nach erheblichen koalitionsinternen Turbulenzen. Aufseiten der SPD wurde lange eine Lösung favorisiert, die die Grünen strikt ablehnten: der Erwerb einer Mehrheit von nur 50,1 Prozent. Nach diesem Modell wäre Vattenfall zumindest mittelfristig Teilhaber geblieben. Die Grünen hingegen waren von Beginn an für den 100-prozentigen Erwerb der Fernwärme. Die Entscheidung für diese Lösung fiel letztlich auch deswegen, weil sich Vattenfall auf keine Minderheitsbeteiligung einlassen wollte.
Die etwas zähe Suche nach einem Wirtschaftssenator
Nicht zuletzt musste Tschentscher eine knifflige Personalie lösen: Wirtschaftssenator Frank Horch kündigte im Spätsommer an, sein Amt aufgeben zu wollen, um sich mehr um seine pflegebedürftige Frau kümmern zu können. Ein schwerer Schlag für den neuen Senatschef, denn der von Scholz in die Politik geholte frühere Handelskammer-Präses war nicht nur qua Amt, sondern vor allem als Persönlichkeit das entscheidende Scharnier zur Wirtschaft. Die Suche nach einem „Horch 2.0“ gestaltete sich zwar etwas zäh, doch am Ende präsentierte Tschentscher einen überzeugenden Nachfolger: Michael Westhagemann, Ex-Vorsitzender des Industrieverbands Hamburg und Chef von Siemens Nord – dass er das Windkraftgeschäft des Konzerns ausgebaut hatte, machte ihn auch den Grünen sympathisch.
Dass in der Bewältigung dieser Aufgaben durchaus eine Leistung liegt, wird besonders deutlich, wenn man die Ausgangslage betrachtet. Der Rathaus-Apparat auf der Senatsseite war auf Scholz ausgerichtet. Der führungsstarke Politiker hatte die Routinen des Alltagshandelns auf sich eingestellt und nutzte den entstehenden Freiraum für sein zweites Standbein, die Bundespolitik.
Häufig wird unterschätzt, dass Scholz eine Reihe enger Vertrauter um sich geschart hat, die ihn von Karrierestation zu Karrierestation begleiten. Dazu zählten zum Beispiel Christoph Krupp, Leiter der Senatskanzlei, „Außenminister“ Wolfgang Schmidt, Staatsrat für den Bund und Europa, sowie Wirtschafts-Staatsrat Rolf Bösinger. Als Scholz Bundesfinanzminister wurde, folgten Schmidt und Bösinger ihrem Chef umgehend nach Berlin, auch Krupp begab sich im Herbst als Vorstand einer bundeseigenen Immobiliengesellschaft zurück in die Scholz-Hemisphäre.
Als Tschentscher sein Büro im Rathaus bezog, musste er also ziemlich bei null anfangen, so hat er es selbst gelegentlich beschrieben. Er kannte als langjähriger Senator zwar den Regierungsablauf, die handelnden Personen sowie die Formen der Zusammenarbeit in der Koalition. Aber es macht einen erheblichen Unterschied, ob man als Finanzsenator für eine Behörde zuständig ist oder als Erster Bürgermeister für den Gesamtauftritt des Senats – im Übrigen noch dazu ausgestattet mit der Richtlinienkompetenz. Zudem gilt, dass die meisten Senatsmitglieder relativ unbekannt sind, während alle Augen auf den Ersten Bürgermeister gerichtet sind, wie Tschentscher schnell feststellte: „Ich war sieben Jahre lang Finanzsenator, und mein Gesicht war wirklich oft in den Zeitungen“, sagte er in seinem ersten Abendblatt-Interview im Rathaus. „Aber in dem Moment wird einem klar: Das ist jetzt eine neue Situation.“
Tschentscher hat es geschafft, die rot-grüne Koalition zusammenzuhalten – und das bei einem immer selbstbewusster auftretenden Koalitionspartner. Die Grünen sind nicht nur im konstanten Umfrageaufwind, auf sie hat auch der Weggang des großen Zampanos Scholz geradezu befreiend gewirkt. Tschentscher kommt dem Juniorpartner mit seinem abwägenden Politikstil, der alle anhört und alles versucht einzubeziehen, bevor er sich festlegt, sehr entgegen. Scholz hatte in der Regel schon vor einer Sitzung sich seine Meinung gebildet und setzte die dann meist auch durch.
Tschentscher hat in den zwölf Monaten seiner Amtszeit Vertrauen in seine Person beim Koalitionspartner aufbauen können. Welche Risiken ein Bürgermeisterwechsel bergen kann, zeigt das Negativbeispiel des Christdemokraten Christoph Ahlhaus. Ein halbes Jahr nach dem Rücktritt Ole von Beusts und dem Wechsel zu Ahlhaus zerbrach die schwarz-grüne Koalition. Die Grünen hatten nicht zuletzt das Vertrauen in Ahlhaus verloren. Heute gilt vor allem die Achse zwischen Tschentscher und der Zweiten Bürgermeisterin Katharina Fegebank als belastbar und verlässlich, wenn es mal wieder im Koalitionsgebälk knirscht.
SPD und Grüne sehen ihre gemeinsame Arbeit dennoch und wenig überraschend als Erfolg an. Umso erstaunlicher ist, dass die SPD auf eine Koalitionsaussage zugunsten der Grünen mit Blick auf die Bürgerschaftswahl am 23. Februar 2020 verzichtet. Die Grünen sind darüber nicht einmal besonders traurig. Fegebank hat schon gesagt, dass nun Grüne wählen müsse, wer Rot-Grün weiterhin wolle … Tschentscher betont nun zwar, noch sei es zu früh für Koalitionsaussagen. Doch wenn sich die SPD (erst) vier Monate vor dem Wahltermin für die Fortsetzung von Rot-Grün aussprechen sollte, kann das schnell als Eingeständnis eigener Schwäche gewertet werden.
„Peter wer?“ Diese Frage wird kaum noch gestellt
„Peter wer?“ – das war eine vor einem Jahr häufig gestellte Frage. Doch Tschentscher ist es gelungen, sich durch seine zahlreichen öffentlichen Auftritte in der Stadt bekannt zu machen. Dass 85 Prozent der Hamburger wissen, dass er ihr Bürgermeister ist, darf ein Jahr nach dem Amtsantritt als sehr respektabler Wert gelten. Tschentscher selbst ist klar, dass das nur der – allerdings unerlässliche – Anfang ist. Was jetzt kommen muss, ist die inhaltliche Profilierung. Und da ist es bemerkenswert, dass das Urteil einiger Parteifreunde wie auch von Grünen ähnlich ausfällt. Sie wissen nicht, wofür Tschentscher steht, was die Themen und Projekte sind, die unmittelbar mit seinem Namen verbunden sind.
Vielleicht war es ein Fehler, dass er zu Beginn seiner Amtszeit sehr stark auf Kontinuität zur Politik seines Vorgängers gesetzt hat. Das trägt nicht zur eigenen Profilbildung bei. Aber hätte Tschentscher anders handeln können? Schließlich gehörte er dem Scholz-Senat sieben Jahre an und hat dessen Politik immer loyal mitgetragen. Je näher die Wahl rückt, desto drängender werden die Fragen nach Tschentschers eigener politischen Agenda gestellt – zu Recht.
Es wird in Hamburg gern von Visionen für die Stadt geredet. Damit sind die großen Entwicklungslinien für die kommenden 20, 30 Jahre gemeint. Das ist als Maßstab für die Wahl vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Doch allein mit der Erfüllung des Anspruchs, gut zu regieren, wird die SPD kaum den nächsten Bürgermeister stellen. In zwei als grundsätzlich angekündigten Reden hat der Sozialdemokrat immerhin zwei Themenfelder herausgestellt, die ihm persönlich wichtig sind: Wissenschaft und Klimaschutz. An der Bedeutung der Wissenschaft, der Spitzenforschung wie auch der praktisch-technischen Umsetzung ihrer Erkenntnisse für die Stadt besteht kein Zweifel. Und dass der Klimaschutz eine der zentralen weltweiten Herausforderungen ist, die Handeln auf lokaler Ebene erfordert, ist unumstritten.
Tschentschers Engagement für Wissenschaft und Klimapolitik mag auch persönlich glaubwürdig sein. Das Kuriose ist nur, dass es sich hierbei um die Kernthemen des Koalitionspartners handelt. Die Grünen sind der SPD auch in deren eigentlicher Hochburg Hamburg bedrohlich nahe gerückt: Die Sozialdemokraten liegen in Umfragen zwar vorn, aber sie trennen nur wenige Prozentpunkte vom Koalitionspartner. Dass nun ausgerechnet die grünen Themen Klimaschutz und Wissenschaft – im Senat vertreten durch Fegebank und Umweltsenator Jens Kerstan – die SPD stärken sollen, vermag strategisch nicht zu überzeugen. Vermutlich entscheiden sich die Menschen eher für das Original von den Grünen, weil ihnen mehr Glaubwürdigkeit in der von ihnen seit Jahren verfolgten Klimaschutzpolitik attestiert wird. Fegebank hat Tschentschers ökologischen Vorstoß schon süffisant kommentiert: Die Menschen wüssten schon, „wer Triebfeder und wer Trittbrett ist“.
Der Bürgermeister lässt dagegen gern durchblicken, dass er es eigentlich umgekehrt betrachtet: Die Grünen seien gut im Formulieren ambitionierter Ziele, aber wenn es um die praktische Umsetzung gehe, müsse die SPD ran. Selbst beim Klimaschutz sieht er sich daher als derjenige, der die Dinge eigentlich vorantreibe – wobei nicht nur bei diesem Thema Verdruss darüber mitschwingt, dass die Grünen dennoch auf dem Feld gern die Lorbeeren einheimsen und sich im Umfragehoch sonnen.
Strategisch erfolgversprechender dürfte es dennoch sein, wenn sich der Bürgermeister mit Wegweisendem bei den klassischen SPD-Themen Wohnungsbau, Hafen, Wirtschaft, Bildung und Kita zu Wort meldet. „Er muss der Stadt seinen Stempel aufdrücken“, sagt einer, der viel mit ihm zu tun hat. Welche Rolle wird der Hafen in Zukunft spielen? Wie lösen wir den Konflikt zwischen Wohnungsbau und dem Erhalt der Grünflächen? Eine andere Frage ist die nach einem Mobilitätskonzept für die nächsten 15, 20 Jahre. Tschentschers Haltung dazu ist mit der der Grünen durchaus kompatibel, aber weniger dogmatisch: „Jeder, der auf Busse und Bahnen umsteigt, macht die Straßen frei für diejenigen, die sie wirklich brauchen“, sagt er und setzt stark auf den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.
Ein anderes Thema, das er in seiner Regierungserklärung als sein persönliches Anliegen bezeichnet hatte, führt in seiner Politik bislang noch kaum zu sichtbaren Konsequenzen: gutes Leben und Wohnen im Alter. Zwar hatte Tschentscher im vergangenen Sommer medienwirksam mehrere Altenheime und Seniorenwohnprojekte besucht und so die Problematik, als Rentner in einer teuren Großstadt eine passende und bezahlbare Wohnung zu finden, ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Auch gibt es punktuelle Fortschritte, etwa mehr Geld für Seniorenarbeit in den Bezirken – aber gemessen an den geweckten Erwartungen blieb der große Wurf bislang aus.
Allerdings nutzt Tschentscher solche und ähnliche Termine, um sich den Hamburgern vorzustellen und dabei eine seiner Stärken auszuspielen: allen Menschen höflich und auf Augenhöhe zu begegnen – ein Wesenszug, der nicht jedem Spitzenpolitiker gegeben ist.
Etwa am vergangenen Sonntag in Farmsen. Um 11 Uhr ist die Karl-Schneider-Halle schon mit gut 100 Menschen gefüllt, die Veranstalter von der Volkshochschule Hamburg-Ost stellen daher noch weitere Stühle auf dem grauen Linoleum auf. Es ist wohl nur Zufall, dass das Duo Helmut Stuarnig & Friends gerade die „Champs Elysée“ besingt – jene Pariser Prachtstraße, die am Vortag bei Protesten aufgebrachter Bürger schwer verwüstet wurde –, als die überwiegend grauhaarige Menge die Köpfe gen Eingang dreht: der Bürgermeister.
Umfrage: Peter Tschentscher ist der beliebteste Politiker
Der Mann, der für viele, gerade ältere Hamburger immer noch Respektsperson ist, tritt nicht wie eine solche auf. Auch wenn mitunter der Wissenschaftler in ihm durchkommt, bemüht er sich sehr um einfache Sprache („Ich sach’ Ihnen mal was ...“). Beim Thema Grundsteuerreform erzählt er von seiner Mietwohnung in Barmbek, für die er 600 Euro Steuer zahle. Die drohende Verzehnfachung könne er sich vielleicht noch leisten. „Aber mein Nachbar würde sich bedanken.“ Für die Proteste in Paris zeigt er Verständnis: Das komme davon, wenn man Klimaschutz über höhere Energiepreise betreibe. Er dagegen setze auf technologischen Fortschritt. Und natürlich zitiert Tschentscher wieder Virchows Vergleich von Politik und Medizin. Das Publikum schmunzelt. Netter Kerl, dieser Bürgermeister.
Tschentscher ist kein Sonnyboy wie der frühere Erste Bürgermeister Ole von Beust in seinen Anfangsjahren, dem die Sympathien nur so zuflogen. Er hat nicht das darstellerische Talent eines Henning Voscherau, dessen öffentliche Auftritte vielfach von inszenierter Bedeutsamkeit waren. Und Tschentscher verfügt auch nicht über die gern zur Schau gestellte Machtaura eines Olaf Scholz. Nebenbei bemerkt: Er hat diese Macht auch real nicht, denn Scholz war zugleich auch SPD-Landesvorsitzender und wusste seine aufmüpfige Partei zu disziplinieren.
Tschentscher erinnert etwas an Vorgänger Ortwin Runde
Am ehesten gleicht Tschentscher von seinem moderierenden Politikansatz und seiner zurückhaltenden Erscheinung her dem früheren Ersten Bürgermeister Ortwin Runde (1997 bis 2001) – dem er sich anlässlich der Übergabe des Runde-Porträts für die Ahnengalerie im Rathaus Ende Februar auch selbst sehr verbunden zeigte. Runde sei der Vorgänger, mit dem ihn am meisten verbinde, sagte Tschentscher. Ortwin Runde, diesem völlig unprätentiösen Sozialdemokraten, lag die öffentliche Rede nicht sehr, aber er war ein kluger Analytiker und anregender Gesprächspartner.
Runde war wie Tschentscher zuvor Finanzsenator, beide stammen aus dem SPD-Kreisverband Nord, und auch Runde stand einem rot-grünen Bündnis vor. Und noch etwas verbindet die beiden: Seit dem legendären Ersten Bürgermeister Max Brauer, der Glasbläser gelernt hatte, sind der Mediziner Tschentscher und der Soziologe und Volkswirtschaftler Runde die einzigen Senatschefs, die keine Juristen waren oder sind. Runde gelang zwar das Kunststück, den damals noch recht rebellischen Koalitionspartner von den Grünen vier Jahre lang im Zaum zu halten. Allerdings verlor die SPD mit Runde an der Spitze zum ersten Mal nach 44 Jahren 2001 die Macht im Rathaus. So gesehen also kein Vorbild.
Tschentschers öffentliches Erscheinungsbild ist von hanseatischer Zurückhaltung geprägt, Spontaneität und Distanzlosigkeit sind ihm eher fremd. Das kommt bei Teilen der Wählerschaft an. Aber er ist kein fesselnder Redner, auch wenn er an seiner Rhetorik gearbeitet hat. Nach einem Jahr als Bürgermeister bleibt der Eindruck, dass ihm der große Auftritt vor zahlreichem Publikum nicht liegt, ja fast ein wenig suspekt erscheint. Er gewinnt in kleineren Kreisen.
Tschentscher macht mit seinen Tugenden der Korrektheit, Gründlichkeit und Aufrichtigkeit auch ein Angebot an konservative Wählerschichten, was ihm durchaus bewusst ist. Und es muss im Wahlkampf schon gar kein Nachteil für einen Hamburger Sozialdemokraten sein, auch für Menschen aus dem CDU-Spektrum wählbar zu sein.
Es wird öffentlich kaum sichtbar, was Tschentschers Selbsteinschätzung ist: Er hält sich durchaus für einen Linken, der er ja von seiner SPD-Herkunft aus dem linken Kreisverband Hamburg-Nord nominell auch ist. Die Politik darf nicht alles dem Markt überlassen, so lautet sein Credo. Unternehmen der Daseinsvorsorge gehören in die öffentliche Hand. Trotzdem wird er kaum den Rückkauf der Krankenhäuser fordern, die die Stadt einst an Asklepios verkauft hat. Er steht eben auch für einen realpolitischen Kurs. Tschentscher sieht die Stadt aber auch in der Verpflichtung, öffentliche Unternehmen zu sanieren und zu modernisieren, wie dies im Fall der HHLA und des UKE auch geschehen ist. Auch bei den Themen Umverteilung und soziale Gerechtigkeit vertritt Tschentscher eher Positionen des linken SPD-Flügels.
Peter Tschentscher, Berufspolitiker seit immerhin acht Jahren, blickt auch zwölf Monate nach der Wahl ins Bürgermeisteramt bisweilen auf den Politikbetrieb wie ein Außenstehender. Der Wissenschaftler sieht dann Politik als ein „komplexes Abenteuer“, das nur begrenzt planbar ist. Und gelegentlich erinnert er sich an seine Unabhängigkeit. Schließlich ist er niemand, der am Rathaustor gerüttelt hat. Er „musste“ nicht Finanzsenator werden, er „musste“ auch nicht Erster Bürgermeister werden.
Die Berufsjahre als Mediziner prägen ihn nach wie vor. Nach einer längeren Diskussion über die Situation an den Krankenhäusern beim Wandsbeker Forum in Marienthal bekannte Tschentscher, dass er manchmal „Sehnsucht nach dem normalen Job im Krankenhaus“ habe, fügte aber sofort hinzu: „Aber nur ganz kurz!“