Harburg . Ambulanz soll Versorgungsdefizit mindern. Für Erkrankte gibt es im Bezirk neue Anlaufstelle für Einzel- und Gruppentherapie.
Für psychisch erkrankte Menschen gibt es in Harburg ein neues Angebot. Das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) Verhaltenstherapie Falkenried hat eine Ambulanz für Psychotherapie, Psychiatrie und Psychosomatik in der Harburger Schloßstraße eröffnet. Damit soll die psychotherapeutische Versorgung im Hamburger Süden verbessert werden.
Das MVZ stellt eine erste Anlaufstelle für Betroffene dar. Zur Stellung einer Diagnose soll kurzfristig – in der Regel innerhalb von einer oder zwei Wochen – ein Erstgespräch stattfinden. Danach folgt bei Bedarf eine Einzel- oder Gruppentherapie oder eine Kombination aus beidem. Auch sehr kurze Therapien sind denkbar, wenn nur eine leichte Erkrankung vorliegt. Ebenso ist eine Tagesklinik Teil der Einrichtung. Das Behandlungskonzept sieht Verhaltenstherapie vor, bei der die Betroffenen lernen, ihre Probleme durch andere Verhaltensmuster selbst zu lösen. Grundsätzlich stehe diese Therapie Menschen mit sämtlichen psychischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen offen, sagt Wolfgang Höllerl, der sich beim MVZ Falkenried um die Öffentlichkeitsarbeit kümmert.
Für das MVZ Falkenried ist es das erste Angebot südlich der Elbe. Weitere Standorte des im Jahr 2006 von Helmut Peter und Ulrike Lupke in Hamburg gegründeten Versorgungszentrums sind in Eppendorf, Blankenese und Winterhude. In Harburg sind zunächst ein Arzt und drei Therapeuten tätig, die sich teilweise in Ausbildung befinden. Laut dem Ärztlichen Leiter vom MVZ Falkenried, Benjamin Siemann, soll die Zahl der Therapeuten und Ärzte ausgebaut werden. „Wir wollten erstmal klein anfangen und schauen, wie der Bedarf ist“, sagt Siemann. Es sei denkbar, am selben Standort weitere Räumlichkeiten anzumieten.
Dem MVZ geht es auch darum, eine Lücke zu schließen. Die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Kliniken, Angehörigen und Arbeitgebern soll durch die Ambulanz verbessert werden. An der Konzeption des Harburger Angebots war deshalb auch der Chefarzt des Zentrums für seelische Gesundheit am Harburger Asklepios-Klinikum, Hans-Peter Unger, beteiligt. „Die Krankenhäuser können nicht alles übernehmen“, sagt Helmut Peter, der Ärztliche Direktor und Geschäftsführer des MVZ Verhaltenstherapie Falkenried. Er spielt damit darauf an, dass für viele Betroffene ein Klinikaufenthalt eine Alternative sein kann, wenn die Wartezeiten auf einen Therapieplatz zu lang sind. Nach dem stationären Aufenthalt fallen viele Betroffenen jedoch in ein Loch, weil sie wiederum keinen Therapieplatz bekommen. Der Ansatz des MVZ ist auch Bestandteil des Projekts Recover vom Universitätsklinikum Eppendorf, an dem das MVZ Falkenried beteiligt ist. Ziel des Versorgungsmodells ist es unter anderem, die Wartezeiten auf Therapieplätze deutlich zu verkürzen und die sektorübergreifende Zusammenarbeit, etwa zwischen Kliniken und ambulanten Ärzten, zu verbessern.
Hierzu zählt auch ein sensibler Umgang mit Menschen anderer Kulturen. Das MVZ Falkenried bildet Therapeuten in einem speziellen Lehrgang aus. Laut dem Ärztlichen Leiter Siemann ist eine psychotherapeutische Behandlung von Menschen aus anderen Kulturkreisen oft problematisch, weil psychische Probleme häufig ein Tabuthema sind und es in manchen Fällen gar keine Begrifflichkeit dafür gibt. „Diese Menschen klagen dann zum Beispiel über Bauchschmerzen“, sagt Siemann – obwohl eigentlich eine seelische Ursache dahinterstecke. Das sollen Therapeuten besser erkennen. In der Harburger Ambulanz ist eine türkischsprachige Therapeutin tätig, die eine Frauengruppe leitet. Auch für Flüchtlinge soll das MVZ eine Anlaufstelle sein.
Unter Psychotherapeuten ist das MVZ Falkenried indes umstritten. Das hängt einerseits mit dem Aufkauf von Kassensitzen zusammen, auf die viele Psychotherapeuten jahrelang warten müssen. Viele sehen überdies die einseitige therapeutische Ausrichtung – der Fokus liegt auf Verhaltenstherapie – kritisch. Andere psychotherapeutische Richtungen, etwa die Tiefenpsychologie, werden nicht genutzt. Auch sind entsprechende Therapien häufig kürzer, die Ursachen der Probleme stehen weniger im Fokus als deren Behebung.
Mit der oft kürzeren Behandlungsdauer ist ein weiterer Kritikpunkt verknüpft – für das MVZ Falkenried stehe die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund, heißt es in Psychologenkreisen. Laut Frank Liedtke, dem Landesgeschäftsführer der Barmer, geht es jedoch „nicht darum, Geld zu sparen“. Eine kürzere Therapie sei auch für die Patienten vorteilhaft, findet Liedtke. Auch Walter Plassmann, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hamburg, nennt das MVZ Falkenried „umstritten“, er sieht das Angebot für die Betroffenen jedoch positiv: Durch die verschiedenen Möglichkeiten im MVZ könnten Menschen ihre Probleme früher überwinden.
Der Trend geht nach Auffassung von Barmer-Landesgeschäftsführer Liedtke hin zu größeren Versorgungszentren. Er verweist auf die häufig langen Arbeitszeiten für Psychotherapeuten, die in eigener Praxis tätig sind – das sei „nicht das Wahre. Die Zeit der Selbstausbeutung unter Medizinern ist vorbei“. Seine Krankenkasse werbe gezielt bei Betroffenen für das Angebot des MVZ. Beim MVZ wirbt man laut dem Ärztlichen Direktor Helmut Peter für eine Kooperation mit Trägern anderer Angebote und Psychotherapeuten: „Die Kompetenzen des Systems müssen gebündelt werden, um den Menschen zu helfen“. Zwar sei die psychotherapeutische Versorgung theoretisch „fantastisch ausgebaut, aber trotzdem ist es zu knapp“.
In Harburg und Nordheide mangelt es an Therapeuten
In Harburg mangelt es seit Jahren an Therapieplätzen für psychisch erkrankte Menschen. Zwar gilt die Stadt Hamburg, die bei der Bedarfsplanung des zuständigen Gemeinsamen Bundesausschusses einen zusammenhängenden Versorgungsbezirk darstellt, offiziell als überversorgt mit kassenzugelassenen Psychotherapeuten. In der Realität gibt es jedoch innerhalb des Stadtgebiets erhebliche Unterschiede. Während es im städtischen Durchschnitt derzeit laut Liedtke von der Krankenkasse Barmer 52,4 Psychotherapeuten je 100.000 Einwohner gibt, sind es in Harburg mit 23,8 nicht einmal die Hälfte. Das Defizit wird zusätzlich verschärft, weil es auch in der Nordheide zu wenig freie Plätze bei kassenzugelassenen Therapeuten gibt und sich Erkrankte aus dem Umland ebenfalls an die hiesigen Therapeuten wenden. Das führt dazu, dass Betroffene Monate oder gar Jahre auf einen Platz bei warten müssen. Viele Therapeuten führen deshalb nicht einmal mehr eine Warteliste.