Hamburg. Frank-Walter Steinmeier hat vor dem Festakt zum 100. Geburtstag des Altkanzlers mit dem Abendblatt über Schmidt gesprochen.
Hamburg gedenkt am Sonnabend mit einem Festakt in der Elbphilharmonie des Altkanzlers Helmut Schmidt, der am vergangenen 23. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, politische Weggefährten und Mitglieder der legendären Freitagsgesellschaft werden erwartet. Der Senat und die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung rechnen mit 1500 Gästen. Im Abendblatt spricht der Bundespräsident vorab über sein Verhältnis zu Schmidt und dessen Bedeutung heute.
Hamburger Abendblatt: Herr Bundespräsident, ,mitunter macht der Einzelne den Unterschied.‘ Trifft dieses bekannte Schmidt-Zitat auch auf den verstorbenen Kanzler selbst zu?
Frank-Walter Steinmeier: Helmut Schmidt war bereit, in schwierigen Momenten persönliche Verantwortung zu übernehmen – schon während der Hamburger Sturmflut 1962 und dann in den innenpolitischen und internationalen Krisen der 1970er-Jahre. Er scheute nicht zu entscheiden – und für seine Entscheidungen einzustehen. Das heißt aber nicht, dass er ein Einzelkämpfer war. Ganz im Gegenteil, er hat immer wieder Rat gesucht, sei es bei politischen Freunden, sei es bei Wissenschaftlern, Schriftstellern und Intellektuellen. Wenn es darauf ankam, etwa während der dramatischen Ereignisse des „Deutschen Herbstes“ 1977, hat er die parteiübergreifende Zusammenarbeit angestrebt. Und auch international suchte und fand er Partner. Die Gründung der G 7 zum Beispiel war auch ein Ergebnis seiner tiefen Überzeugung, dass wir Krisen und Konflikte nur gemeinsam mit unseren Partnern überwinden können.
Wie lautet das politische Vermächtnis des Altkanzlers?
Steinmeier: Er hat unser Land durch Stürme geführt und dabei stets die Bewahrung der freiheitlichen Demokratie und ihrer rechtsstaatlichen Prinzipien vor Augen gehabt. Auch die Stabilität des Sozialstaats, den er selbst als größte Kulturleistung des 20. Jahrhunderts ansah, war ihm ein Herzensanliegen. Dabei hat er die Bundesrepublik nie isoliert betrachtet, sondern immer als festen Bestandteil des Westens und eines geeinten Europas. Das war für ihn die historische Lehre aus Krieg und Nationalismus. Deshalb hat er die Weichen für den Euro gestellt und ist für das atlantische Bündnis mit den USA eingetreten, auch zu einer Zeit, als das in Deutschland alles andere als populär war.
Was davon gilt heute noch?
Steinmeier: Heute erleben wir in der Weltpolitik eine Rückkehr des Nationalismus und des Egoismus. Schmidt selbst hat scharfsinnig und früh wie nur wenige beobachtet, wie die Welt etwa mit dem Aufstieg Chinas eine andere geworden ist, mit neuen Kräfteverhältnissen und Akteuren, die nicht zu ignorieren sind. Und doch behalten so manche Maximen von Helmut Schmidt ihren Wert: verlässliche Partnerschaft mit den Freunden, verantwortungsvoller, nüchterner Umgang mit den Kontrahenten und für uns Deutsche der unbedingte Einsatz für das geeinte Europa als Fundament von Frieden und Wohlstand.
Das Vertrauen in und die Akzeptanz von Politik schwindet in Teilen der Bevölkerung. Was können wir – Politik, Medien, Gesellschaft – in der aktuellen Situation von Schmidt lernen oder übernehmen, um die liberale Demokratie zu stärken?
Steinmeier: Auch während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts gab es ja heftige Debatten. Die Bundesregierung stand unter Beschuss, die Umwelt- und Friedensbewegung kritisierte den Bundeskanzler heftig. Der Nato-Doppelbeschluss hat die größten Demonstrationen in der bundesdeutschen Geschichte zur Folge gehabt. Helmut Schmidt stand dennoch ein für das, was er für richtig hielt, und er ging der Auseinandersetzung darüber nicht aus dem Weg. Er tat es in einer geschliffenen Sprache auf einem hohen argumentativen Niveau. Das hat ihm schließlich auch bei denen Respekt eingetragen, die anderer Meinung waren. Der Austausch von Argumenten, der Respekt im Dialog, miteinander neu ins Gespräch kommen, das ist für die Demokratie heute lebenswichtig. Nie war Helmut Schmidt populärer als nach seiner Kanzlerschaft.
Warum ist der Altkanzler aus Hamburg heute noch so beliebt und geachtet bei den Deutschen?
Steinmeier: Helmut Schmidt verkörpert das Ideal politischer Verantwortung in der Demokratie. Gebildet und lebenserfahren, pragmatisch und prinzipienfest, ohne Pomp und Pose, sondern tatkräftig und hanseatisch nüchtern – so gab er vielen Menschen politische Orientierung auch in schwierigen Zeiten. Trotz aller Weltläufigkeit führten Loki und er ein bodenständiges, ja bescheidenes Leben. Im Alter hat ihm sicher auch seine unkonventionelle Knorrigkeit manche Sympathie eingetragen – nicht nur, weil er der letzte Raucher im deutschen Fernsehen war.
Bei Schmidts Amtsantritt als Bundeskanzler waren Sie gerade 18 Jahre alt. Welches Fundament seiner Politik hat Sie am meisten geprägt?
Steinmeier: Helmut Schmidts unverstellter Blick auf die Realitäten war immer fordernd, verlangte klare Positionierung. Viele aus meiner Generation haben mit ihm und seiner Politik manches Mal gehadert. Je mehr ich später in der Politik selbst Verantwortung übernommen habe, hat mich sein Satz überzeugt: „Keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft.“ Gerade heute wünschte ich mir in manchen Debatten wieder mehr Vernunft statt Wut und Herabwürdigung, mehr Kopf statt Kopflosigkeit, kurz und einfach: mehr Schmidt.
Welche persönliche Begegnung mit ihm werden Sie dauerhaft in Erinnerung behalten?
Steinmeier: In meinen Jahren als Außenminister war ich mehr als einmal „auf eine Zigarette“ bei Helmut Schmidt zu Besuch. Entweder bei ihm zu Hause oder auch in seinem Büro bei der „Zeit“. Wir haben über Russland, China und die USA gesprochen – bei Kaffee, manchmal sogar mit Baileys. Meinen letzten Besuch bei ihm, nur wenige Monate vor seinem Tod, werde ich nicht vergessen, als wir uns bei Schnittchen und Whiskey über die Weltlage unterhalten haben.