Hamburg. Das Problem der Mütter- und Vätertaxis ist in der Stadt nach wie vor genauso groß wie ungelöst. Aber warum eigentlich?

Für jeden Einzelnen ist es nur ein kurzer Moment. Das Ganze dauert vielleicht eine Minute: anhalten, aussteigen, Hintertür öffnen, Kind rauslassen, weiter geht’s. Aber das denken andere auch.

Also dauert das Ganze doch wieder länger, schiebt sich der Wagen nur mühsam in Parkposition, muss noch der Reißverschluss gerichtet und das Pausenbrot verstaut werden, klemmt die Tür, fehlt die Mütze, bilden sich Staus, gibt es: Verkehrskollaps am Morgen.

„Es gibt Eltern, die erreichen wir nicht“

Allen Appellen zum Trotz ist dieses Szenario vor vielen Hamburger Schulen kein Klischee, sondern die Regel. Mütter und Väter fahren ihre Kinder mit dem Auto bis vor die Schule, nicht selten gibt es Geleitschutz bis ins Klassenzimmer.

Beispiel Grundschule Tornquiststraße in Eimsbüttel: „Dort ist es besonders heftig. Die Straßen sind eng. Wenn noch Elterntaxis vorfahren, verstopfen alle Straßen“, weiß Matthias Dehler vom zuständigen Referat der Schulbehörde. Auch die Grundschule Turmweg in Rotherbaum hat das Problem „Elterntaxi“. Zwar läuft es derzeit relativ entspannt, sagt Schulleiterin Ulrike Lammen. Aber der Verzicht auf den Bringservice von einigen legitimiert andere Elterntaxiunternehmer umso mehr.

Helikoptermütter – nur ein Mythos?

Eine Haltung, die laut Schulbehörde genauso heikel wie verbreitet ist. „Es gibt einen Prozentsatz an Eltern, die wir trotz aller Appelle nicht erreichen“, sagt Matthias Dehler. Deshalb werde für April die Aktion „Rücksicht auf Kinder – zehn Tage ohne Elterntaxi“, vorbereitet. „Viele Schulen möchten teilnehmen, da das Problem groß ist.“

Doch warum laufen alle Ermahnungen der Schulen, die Maßnahmen der Polizei, die Initiativen der Elternkammer ins Leere? Warum sind viele Eltern uneinsichtig und bequem oder beides, obwohl Schulleitungen und Elternräte mit „Kiss&Drop“-Zonen, Parkverboten, Bannmeilen oder Aktionstagen nichts unversucht lassen? Ist die Sorge, dem Kind könnte auf dem Schulweg etwas passieren, so groß? Oder sind stets in Habachtstellung überm Kind kreisende Helikoptermütter und alles aus dem Weg räumende Rasenmäherväter doch kein Mythos?

Angst der Eltern ist größer geworden

Ronald Hoffmann, Kinder- und Jugend-Psychotherapeut von der Universität Hamburg, sagt: „Das Verhältnis von Eltern und Kindern hat sich verändert, ihr Anspruch an sich selbst ist gestiegen, Mütter und Väter kümmern und sorgen sich mehr.“ Dazu gehöre auch die Angst vor dem Schulweg. Die Frage sei nur: Ist diese Angst begründet?

Eine pauschale Antwort gebe es nicht. Mögliche Gefahren seien abhängig von Distanz, Verkehrsaufkommen, Alter und Persönlichkeit der Kinder. „Grundsätzlich sind aber Erstklässler in der Lage, den Schulweg selbstständig zu meistern“, sagt Hoffmann.

Wut der Behörde ist abgeklungen

Wenn nicht allein, dann doch in Gruppen, mit wechselnder Elternbegleitung oder von einem bestimmten Punkt aus. „Daran wächst und gewöhnt sich ein Kind.“ Das sei private Verkehrserziehung, man könne dem Nachwuchs Stück für Stück mehr Zutrauen schenken.

Dabei sei die Gruppe der Elterntaxi-Eltern laut Schulbehörde alles andere als homogen, das Verhalten sei weder einkommens- noch stadtteilabhängig, sagt Behördenexperte Dehler. Und es gebe sie auch, die Gegenden Hamburgs, in denen Eltern ihre Kinder selten zur Schule fahren.

„In dicht besiedelten innerstädtischen Stadtteilen wie St. Pauli gibt es dieses Problem nicht.“ In vielen anderen Gegenden schon. Mit Elternräten und Schulleitungen ist Dehler dort im Austausch. Früher war er wütend auf egoistische Eltern, doch das sei vorbei. „Meine Wut ist abgeklungen. Es sind vor allem Mütter, deren Alltag mit Berufstätigkeit doch sehr eng getaktet ist.“

Kaum noch getrennte Welten

Eine Beobachtung, die Psychotherapeut Hoffmann bestätigt: „Für viele Eltern ist es im Alltag eine ökonomische Überlegung, auf dem Weg zur Arbeit die Kinder an der Schule abzusetzen.“ Das habe nichts mit Überbehütung zu tun, sondern sei eine Frage des Zeitgewinns in einem generell beschleunigten familiären Rhythmus. Gerade morgens sei der Stress erfahrungsgemäß groß. Darin gleich Helikoptereltern zu erkennen, fällt dem Psychologen schwer.

Gleichwohl sei die Nähe zwischen Eltern und Kindern gewachsen, der Nachwuchs sammle kaum noch unbeaufsichtigt Erfahrungen, bekomme kaum noch Gelegenheiten dafür, erst recht nicht in der Großstadt, und sei es nur auf dem Schulweg. Die Welten der Generationen seien kaum noch getrennt, die Fokussierung auf den Nachwuchs habe zugenommen.

Unwissenheit ist unerträglich

Vor allem Einkindeltern, die möglichst jeden Schaden, jede Enttäuschung, jedes Risiko von ihren Sprösslingen fernhalten wollen. „Unwissenheit über das aktuelle Befinden oder den Aufenthaltsort ihrer Kinder ist für viele Eltern heute unerträglich.“

Auch die Sorge um die wirtschaftliche und berufliche Zukunft der Kinder sowie um den späteren sozialen Status beginne inzwischen zeitig, sagt Hoffmann. „Spätestens in der Schule greifen viele Eltern unterstützend ein.“

Psychologe: Konkurrenz gab es schon immer

Dabei seien das selbstständige Meistern von Schwierigkeiten, das Lösen von Problemen, das Umgehen mit Niederlagen und das Schultern von Verantwortung wie dem Schulweg wichtig für das Selbstvertrauen. Denn die Angst der Eltern übertrage sich nicht selten aufs Kind. Gestiegenen gesellschaftlichen Druck in einer Welt voll vermeintlich perfekter, alles richtig machender Familien sieht Hoffmann nicht: „Konkurrenz zwischen Eltern gab es immer.“

Wer sich unsicher sei, ob er schon helikoptere oder ganz normale elterliche Fürsorge walten lasse, solle entweder zarte Hinweise wie Unverständnis im Umfeld zum Anlass nehmen, sein Tun zu hinterfragen. Oder sich vor einen Spiegel stellen und eine klare Antwort auf die Frage finden: „Dient mein Handeln dem Wohl des Kindes oder meiner Entlastung?“ Gelingt kein eindeutiges Bekenntnis zum Kind, empfiehlt der Psychologe ein Gespräch mit dem Partner oder anderen Eltern im Freundeskreis.

Fünf Indizien für Helikoptereltern – testen Sie sich

Spätestens, wenn Freunde und Bekannte Ihr Verhalten und Ihren Umgang mit den Kindern befremdlich finden (und das auch zaghaft oder offen äußern), sollten Sie zumindest darüber nachdenken, welchen Grund die kritische Außensicht hat. Niemand lässt sich gern in der Erziehung reinreden, aber: Ein ehrliches Gespräch mit dem Partner oder ein Reflektieren mit Familien im Freundeskreis über die Kritik sollte drin sein.


  • Stellen Sie sich die Frage, welche Motivation hinter Ihrem Handeln als Eltern steckt: Dient mein Tun dem Wohl des Kindes, oder entlastet es mich persönlich, zeitlich, psychisch, physisch? Gelingt Ihnen kein eindeutiges Bekenntnis zum Kind, können Sie entweder weiter egozentrisch erziehen oder, wie Psychologe Ronald Hoffmann auch hier rät, ein offenes Gespräch mit dem Partner oder befreundeten Eltern suchen.

  • Besitzt Ihr Kind eine altersgemäße Problemlösungskompetenz, oder sucht es bei Aufgaben dauernd Ihre Hilfe, bettelt um Unterstützung? Wenn der Impuls zur selbstständigen Problembewältigung fehlt oder bei älteren Kindern nur sehr schwach ausgeprägt ist, kann das ein Hinweis auf „Überbehütung“ sein, sagt Hoffmann. Vor allem wenn Sie häufig denken „Das müsstest du doch allein können“.

  • Wenn andere gleichaltrige Kinder mehr Freiheiten genießen, öfter unbeaufsichtigt unterwegs sind und generell „mehr dürfen“ als Ihr Kind, kann das ein Indiz für „overprotection“ sein. Klar, die eigenen Kinder behaupten immer, dass die anderen länger aufbleiben und schon allein in die Schwimmhalle gehen dürfen. Aber wenn Sie registrieren, dass das mehrheitlich stimmt, sollte man ins Grübeln kommen.

  • Sie fühlen sich leer, nutzlos und traurig, wenn Ihr Kind mal nicht bei Ihnen ist? Selbst kurze Fehlzeiten in Ihrer Eltern-Kind-Beziehung belasten Sie? Beim F-Jugend-Fußballspiel sind Sie engagierter als Ihr Kind? Dann wird es höchste Zeit, sich umzustellen und die Projektionsfläche zu ändern. Denn Ihr Kind erfüllt keine Funktion bei Ihrer Selbstverwirklichung. „Das ist nicht die Aufgabe der Kinder“, sagt Ronald Hoffmann.

  • Schulen setzen auf Aktionstage

    Selbstkritik allein wird viele Eltern wohl trotzdem nicht davon abhalten, ihre Kinder mit dem Auto zur Schule zu bringen. Deshalb setzt Hamburg auch auf Aktionstage. Mit diesem hat Schulleiterin Martina Overmeyer von der Katholischen Schule Blankenese gute Erfahrungen gemacht. Jeweils im Herbst und im Frühjahr werden Schüler aufgefordert, zu Fuß zur Schule zu kommen.

    Anscheinend mit Erfolg: „Die Eltern halten sich zum großen Teil daran, ihre Kinder nicht bis ans Schultor zu fahren“, sagt die Schulleiterin. Viele seien der Aufforderung, ihre Kinder doch an ausgewiesenen Plätzen bereits einige Meter vor der Schule aus dem Auto zu lassen, gefolgt. So haben die Kleinen noch einen kurzen Weg allein zurückzulegen. Das war nötig. Denn jeden Morgen hatte sich vor der Schule ein Stau gebildet, weil ein Großteil der rund 280 Grundschüler der Privatschule im Auto gebracht wurden.

    Fünf Praxistipps für den sicheren Schulweg

    1. Wählen Sie den sichersten Weg. Das ist nicht zwangsläufig der kürzeste. Trainieren Sie den Schulweg so oft wie möglich. Als Faustregel gilt: einen leichten, kurzen Weg drei- bis viermal, einen langen, schwierigen mindestens an zehn Tagen üben. Lassen Sie Ihr Kind führen. So sehen Sie, in welchen Situationen es noch unsicher ist.

  • 2. Planen Sie genügend Zeit für den Schulweg ein. Eile verführt zu Fehlern.

  • 3. Kleidung mit Reflektoren wählen. Das macht Ihr Kind im Verkehr sichtbarer.

  • 4. Bringen Sie Ihr Kind möglichst nicht mit dem Auto. Durch den erhöhten Autoverkehr an der Schule wird der Weg gefährlicher.

  • 5. Mit dem Rad sollten Erstklässler unter keinen Umständen allein zur Schule fahren.