Nichts ist mehr so wie früher: Abendblatt-Autorin Yvonne Weiß über ihre Erfahrungen nach der Herzattacke ihres Vaters.
Es ist ein Sonntagnachmittag im Herbst, sehr schönes Wetter. Ich gehe zu meinem Auto und schalte mein Handy an. Pling, pling, pling, pling, pling! 24 Anrufe in Abwesenheit. Mama, Bruder, Schwester, Ehemann, Onkel. Alle hatten mehrfach versucht, mich zu erreichen.
Für eine Reportage in einem Gefängnis war ich gezwungen gewesen, mein Telefon mehrere Stunden lang bei den Sicherheitsbeamten abzugeben. Während ich hinter dicken Mauern Interviews führte, musste da draußen etwas sehr Wichtiges geschehen sein.
Jedes Pling! beschleunigt meine Schritte. Wo steht jetzt mein blödes Auto? Oh. WhatsApp sind auch gekommen. Während des Laufens schnell lesen. Ich öffne die erste von Mama: „Papa ist mit einer Herzattacke ins Krankenhaus gekommen.“ Kurz stehen bleiben. Noch mal lesen. „Papa ist mit einer Herzattacke ins Krankenhaus gekommen.“
Die bösen Jungs vertreiben und zu Höchstleistung pushen
Es steht da – es verschwimmt. Tränen. Kann nicht sein. Unmöglich. Gestern noch hatte ich mit meinem Vater telefoniert. Er war auf dem Weg zu einem Golfturnier gewesen und hatte mich ermahnt, endlich den Flug zur Hochzeit meines Bruders im Sommer zu buchen. „Papa, das findet in einer gefühlten Ewigkeit statt, das eilt doch nicht.“ „Mach das bitte jetzt, Wonny!“, hatte er in einem gewissen Befehlston angeordnet, stark und mächtig wie immer – und ich daraufhin trotzig: „Wir haben noch genug Zeit.“
Selten so getäuscht. Sollte das jetzt unser letztes Gespräch gewesen sein? Papa befiehlt, Tochter bockt? Mit zitternden Fingern wähle ich die Kurzwahl für Papa. „Ihr Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar.“ „Vorübergehend“ muss hier das entscheidende Wort sein. Wehe, wenn nicht! Die Nachricht meiner Mutter kam vor drei Stunden schon, was tue ich jetzt? Leichte Panik. Einatmen, ausatmen. Daran denken, dass die dunkelste Stunde immer die vor Sonnenaufgang ist. Gut, geht wieder. Ich kann losfahren.
Vom Auto aus schicke ich meiner Mama eine Voicemail: „Mama, ich lese das jetzt erst, bin aber schon fast auf der Autobahn und in zwei Stunden bei euch, welches Krankenhaus?“ 15 Minuten später ihre Antwort: „Der Arzt sagt, es darf noch keiner kommen, bleib in Hamburg, ich melde mich.“ Was ist das denn bitte für ein Arzt? Wieso werde ich nun von dem Mann ferngehalten, dem ich alles, alles zu verdanken habe? Der braucht mich doch jetzt!
Und da fällt es mir auf. Eine Premiere. Noch nie hatte ich gedacht, dass mein Vater mich brauchen würde. Jemals brauchen würde. Papas sind stark. Papas sind unbesiegbar. Papas sind unsterblich. Auf Basis dieser Überzeugungen hatte ich die letzten vier Jahrzehnte gehandelt. Da ist immer einer, auf den ich mich verlassen kann. Immer einer, der mich unterstützt. Immer einer, der mich notfalls raushaut.
Was tun Väter nicht alles für ihre Töchter? Die bösen Jungs vertreiben zum Beispiel. Früher, als wir alle noch keine Handys hatten, war das relativ einfach. Wollte man mich sprechen, musste man telefonisch an Papa vorbei: „Ähh, guten Tag, hier ist der Christian, darf ich bitte Wonny sprechen?“ „Nein, die ist nicht zu Hause.“ War in den meisten Fälle gelogen, aber wenn es rauskam und ich heulte, wieso ich nicht mit Christian hatte sprechen dürfen, kam seine Antwort stets in einer Gerhard-Schröder-Basta!-Art rüber: „Weil der nicht der Richtige ist.“ Aha. Und woher weißt du das? „Väter wissen so was.“
Väter wollen ihren Töchtern alles ermöglichen, was in ihrer Macht steht, also schicken sie sie zum Tennis, zum Klavier, zum Chor, in die Skiferien, ins Surfcamp, zum Schüleraustausch nach England, nach Spanien usw.
Viel hilft viel, lautet seit jeher das Motto meines Papas. Das kann einen als Kind überfordern, oder es lernt früh, mit Ansprüchen umzugehen. „Schlecht!“, kommentierte mein Vater zum Beispiel, wenn ich bei Tennisturnieren einen Doppelfehler machte. In solchen Fällen kann man entweder heulen oder mehr trainieren, keine Doppelfehler mehr machen und dadurch am Ende gewinnen.
Ja, so einen Übervater habe ich, meine beiden Geschwister finden das, euphemistisch formuliert, etwas anstrengend. Sie wohnen beide im Ausland. Ich habe diese bedingungslose, fordernde Liebe immer eher als riesige Schutzweste empfunden. Einmal stand ich in den USA mit einem Bein bereits im Gefängnis – mein Papa besorgte mir aus der Ferne den besten Anwalt und holte mich raus. Er fragte keinmal, ob ich wirklich das gemacht hatte, was man mir vorwarf. Es hätte keinen Unterschied für ihn gemacht. Oder als eine Freundin und ich mit 19 in Berlin den Mitarbeiter einer Baufirma bestochen hatten, um eine Wohnung zu bekommen, die sich als unbeheizbar erwies. Wir waren Pleite und durchgefroren. Papa schimpfte nicht, wie naiv und dämlich wir jungen Dinger uns hatten verarschen lassen, er verarschte die Baufirma einfach zurück und zapfte den Strom zum Betreiben gigantischer Radiatoren auf ihre Kosten ab.
Was tun, wenn Vater Pflegefall wird?
Ich habe viel von meinem Papa gelernt: nicht jammern, sondern lösungsorientiert vorgehen. Immer wissen, wer die Wichtigsten in deinem Leben sind, und diesen Menschen vorbehaltlos und unter allen Umständen zu helfen. Und Dankbarkeit. Die lernt man seinen Eltern gegenüber ja leider erst, wenn man selbst Vater oder Mutter wird, aber dann hat man es endlich begriffen.
Doch wie soll ich nun vorgehen, schaffe ich es, seine bedingungslose Unterstützung je zurückzugeben? Was mache ich, wenn mein Vater zum Pflegefall wird? In unserer Familie wurde bislang nicht darüber gesprochen, welchen Weg wir einschlagen wollen, wenn es so weit ist. Wenn die Eltern alt werden und Hilfe brauchen. Meistens sind die erwachsenen Kinder dann überfordert, weil sie selbst gerade in der Rushhour des Lebens stehen. Job, Kinder, tausend Verpflichtungen, und außerdem trennen einen meistens Hunderte von Kilometern vom alten Zuhause, da kann man nicht mal eben vorbeikommen, um die Wasserkisten zu schleppen.
Etwa die Hälfte aller Männer und zwei Drittel aller Frauen werden im Laufe ihres Lebens pflegebedürftig. Wie sollen sie dann leben? Es gibt verschiedene Konzepte: betreutes Wohnen, bei den Kindern oder ins Heim ziehen, eine Pflegekraft ins Haus holen. Eine Option klingt falscher als die andere, aber Verdrängung hilft nun nicht mehr, ich muss mir Gedanken machen. 72 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut, 50 Prozent allein durch ihre Angehörigen. Seien wir ehrlich: Diese Variante werde ich nicht leisten können. Mal ganz abgesehen davon, dass mein Vater es hassen würde. Jemand wie er zeigt ungern Schwäche. Und ich sehe sie nicht gerne, denn die Schwächen meiner Eltern wirken auf mich bedrohlich.
Die Unsterblichkeits-Aura löst sich langsam, aber sicher auf
Die Unsterblichkeits-Aura, sie löst sich auf. Das weckt die Rebellin in mir. Nein! Für mich sollt ihr ewig so sein wie auf den Fotos, die von euch in meiner Wohnung stehen. Auf dem Schützenfest die Bierbank erklimmend. Bei meiner Hochzeit Walzer tanzend. Mit den Enkelkindern am Skilift. Bilder voller Energie und Lebenslust. Da darf jetzt nicht einfach einer den Stecker ziehen.
Denn ganz egoistisch bedeutet es für mich das Ende des ewigen Kindseins. Solange mein Papa mich behandelte wie seine kleine Tochter, solange durfte ich mich wie ein Mädchen benehmen. Dieser Tick vogelfrei, doch noch mal hier und da über den Rand malen, nicht immer alles so korrekt und perfekt, wie man es von Erwachsenen erwartet. Damit ist nun Schluss.
Niemand kann vor dem Älterwerden wegziehen
Wird endlich so alt, wie du bist, Yvonne! Beschäftige dich mit Patientenverfügungen, Testamenten und Pensionsansprüchen. Überleg dir, wie man das Haus deiner Eltern altersgerecht umbauen kann. Frag schon mal nach, was so eine Pflegekraft kostet, und dann mach deinen Geschwistern klar, dass niemand vor dem Älterwerden der Eltern wegziehen darf.
All das kann ich tun, aber werde ich ernsthaft in der Lage sein, mütterliche Gefühle für meine Eltern zu entwickeln? Wahrscheinlich hat die Natur das so vorgesehen: Erst kümmern sich die Großen um die Kleinen, dann gibt es eine ganz kurze Phase auf Augenhöhe, und dann kümmern sich die Kleinen um die Großen. So schwer es unseren Eltern gefallen sein muss, uns ziehen zu lassen, so schwer fällt es mir jetzt, sie wieder so nah an mich heranzulassen.
Heute geht es meinem Papa gut. Bald wird er operiert, danach kann er wieder Golfturniere spielen und mir sagen, wie ich mein Leben zu leben habe. Ich hoffe sehr darauf. Denn ich weiß, dass bald ich es bin, die ihm sagen muss, wie er sein Leben zu leben hat.
Die erste WhatsApp, die mein Vater nach seinem Herzanfall an unsere Gruppe „Meine Kinder“ schrieb, habe ich mir als Vorausschau ausgedruckt: „Bin auf der Intensivstation, keine Sorge. Ich liebe euch alle sehr tüchtig sehr. PAPA.“
Über das Thema Pflege informiert auf 320 Seiten umfassend „Der Große Pflegeratgeber für Hamburg“ (Peter Wenig), erschienen im Abendblatt-Verlag, 19,95 Euro (Treuepreis für Abonnenten 16,95 Euro im Abendblatt-Shop)