Hamburg. Im Mai 2017 raste ein Autodieb in das Taxi von Mehmet Yilmaz. Das Opfer erlitt schwerste Verletzungen und kämpft um seine Existenz.
Das vierseitige Dokument „Beschluss im Zwangsversteigerungsverfahren“ liegt ganz oben auf dem Aktenstapel. Als „Versteigerungsobjekt“ wird ein Grundstück mit 887 Quadratmetern in Bramfeld angegeben, Grundbuchblatt 17152 BV, bebaut mit einem Wohnhaus mit 120 Quadratmetern Wohnfläche. „Es ist unser Haus“, sagt Mehmet Yilmaz.
Zum Termin mit dem Abendblatt-Reporter hat der 58-Jährige in die Wohnung seiner Tochter gebeten, die mit ihrem Mann in Steilshoop lebt. Zu Hause, sagt Yilmaz, sei es gerade zu turbulent. Seine Frau pflegt den demenzkranken Vater, auch die Schwiegermutter wohnt nun in Bramfeld. In dem Haus, das der Familie gehört. Noch.
Das gemeinsame Girokonto hat das Finanzamt im September gepfändet, seitdem können die Yilmaz weder Geld vom Automaten abheben noch Überweisungen ausstellen. Ihre Steuerschuld beim Finanzamt beträgt 48.013,91 Euro, zuzüglich 3263 Euro Säumniszuschlag. Für die Familie geht es, man kann es nicht anders sagen, um die Existenz.
Yilmaz kann nur noch maximal sechs Stunden pro Tag fahren
Der Taxi-Unternehmer kann auf die Minute genau sagen, wann sein wirtschaftlicher Abstieg begann: bei einer Fahrt in seinem Taxi am Morgen des 4. Mai 2017 auf dem Ballindamm an der Binnenalster. Um 4.15 Uhr bohrte sich an der Kreuzung Glockengießerwall ein gestohlenes Taxi, gesteuert von Ricardas D. auf der Flucht vor der Polizei, mit mehr als 140 km/h in Yilmaz’ Mercedes Vito. Bei dem Unfall starb Fahrgast John B., der zweite Passagier Philip Z. überlebte mit schwersten inneren Verletzungen. Yilmaz brach sich Lendenwirbel, Rippen, den rechten Arm und die rechte Augenhöhle, im rechten Knie rissen Meniskus, Kreuz- und Innenband.
Dass Yilmaz überhaupt wieder Taxi fahren kann, gleicht angesichts seiner Krankenakte fast einem Wunder. Allerdings quälen ihn Rücken- und Knieschmerzen, trotz eines orthopädischen Fahrersitzes kann er maximal sechs Stunden pro Tag fahren. Vor dem Unfall steuerte er sein Taxi fast jede Nacht zwölf Stunden durch die Region, die Tagschicht übernahm ein angestellter Fahrer. Die 70-Stunden-Wochen machten ihm nichts aus. Yilmaz liebte sein Job so sehr, dass er trotz eines abgeschlossenen Ingenieur-Studiums auf eine akademische Karriere verzichtete.
Yilmaz muss Fahrgäste um Hilfe bitten
Nun muss er manchmal Fahrgäste bitten, selbst ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu wuchten. Yilmaz stockt, nippt am türkischen Tee, den seine Tochter gekocht hat. Man spürt, wie unangenehm ihm das ist. Yilmaz war immer jemand, der sich für andere eingesetzt hat. Vor elf Jahren geriet ein Paar, das er chauffierte, beim Ausstieg in einen heftigen Streit. Yilmaz schützte die Frau, stürzte und verletzte sich am linken Knie, das noch immer schmerzt.
Dennoch taugen die Unfallfolgen zunächst nicht als Erklärung für seine Steuerschulden. Sie entstanden 2015 und 2016 – also weit vor dem Crash. Der 58-Jährige weiß, dass er das selbst verbockt hat – und nicht der Fiskus. „Es gab zwar einen Hinweis meines Buchhalters, dass ich mit Rückforderungen rechnen muss, aber mit dieser Höhe hatte ich nie gerechnet“, sagt Yilmaz. Entsprechend geschockt war er, als der Steuerbescheid im März eintraf, zumal das Ehepaar mit vier erwachsenen Kindern und einem elfjährigen Sohn für den Hauskredit jeden Monat 1500 Euro abzahlen muss.
Die Nachforderung hätte die Familie zu keinem ungünstigeren Moment treffen können. Sie war nach dem Unfall in Hartz IV gerutscht, da Yilmaz über Monate überhaupt nicht fahren konnte. Wäre er jetzt gesund, könnte er über gewohnte Marathonschichten die Schulden abarbeiten. Stattdessen musste er nun weitere Fahrer anstellen, damit sein Taxi weiter rund um die Uhr bewegt wird. „Ein Taxi, das steht, kostet nur Geld“, sagt er.
Organisation Weisser Ring hilft
Neben ihm auf der Couch sitzt an diesem grauen Dezembertag Harald Emde, sein Betreuer von der Opferschutz-Organisation Weisser Ring. „Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen“, sagt Yilmaz. Denn zum einen kennt sich Emde als ehemaliger Manager eines Versicherungskonzerns im Thema Schadenersatz exzellent aus. Und zum anderen kann er genau nachvollziehen, wie Yilmaz zumute ist – auch Emde musste nach einem unverschuldeten schweren Unfall fünf Jahre um seine Ansprüche kämpfen. Jetzt unterstützt er Yilmaz beim Schriftverkehr mit Finanzamt und Versicherungen, sucht in langen Telefonaten nach Lösungen auf Kulanzbasis.
Der Aktenberg auf dem Tisch lässt erahnen, wie schwierig Emdes Aufgabe ist. So bemisst die Berufsgenossenschaft Yilmaz’ Verdienstausfall im Vergleich zu einer regulären 40-Stunden-Woche – und nicht nach den 70 Stunden, die Yilmaz vor dem Unfall Woche für Woche im Taxi saß. Juristisch ist der Fall ohnehin komplex, denn der Schadensverursacher ist ein mittelloser und unversicherter Autodieb, der wegen des Unfalls zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt wurde.
Sachverständiger will 3000 Euro Honorar
Um die Verhandlungen mit der Versicherung des gestohlenen Taxis zu beschleunigen, will Yilmaz nun selbst ein medizinisches Gutachten in Auftrag geben. Doch der Sachverständige verlangt knapp 3000 Euro Honorar. Trotz aller Widernisse ist Emde überzeugt, dass allein das Schmerzensgeld, das Yilmaz zusteht, ausreichen dürfte, um die Schuld beim Fiskus auf einen Schlag zu tilgen: „Unser Problem ist allein der Zeitdruck bei der Begleichung der Steuerschuld.“ Gespräche kurz vor Weihnachten stimmen Emde vorsichtig optimistisch, man sehe Yilmaz’ Not. Der Kampf um das eigene Haus macht dem Opfer auch psychisch zu schaffen – nach den Albträumen in den Wochen nach dem Unfall („Ich sah immer wieder ein Auto, das gegen meine Fahrertür rast“) quälen Yilmaz nun die wirtschaftlichen Sorgen. Auch am Morgen des Abendblatt-Besuchs ist er wieder um 3.30 Uhr aufgestanden, um ein paar Stunden Taxi zu fahren und Geld zu verdienen. Der geborene Türke, der im Alter von neun Jahren nach Deutschland kam, reiht sich ein in die Schicksale vieler Opfer, die nach all ihrem Leid auch noch in finanzielle Not geraten.
Immerhin kann er sich neben dem Weissen Ring auf seine Kollegen und seine Familie verlassen. Taxi-Stiftungen spendeten Geld, die inzwischen berufstätigen Söhne liefern jeden Monat einen Teil ihrer Gehälter beim Vater ab. Ein naher Verwandter will sogar einen hohen Kredit aufnehmen, um ihm zu helfen. Yilmaz rührt das. Und es ist ihm fast unangenehm – auch mit Blick auf die anderen Opfer. „Sie leiden sehr, bitte schreiben Sie das“, sagt Yilmaz beim Abschied.
Philipp Z. kämpft nach Hirnblutungen und Brüchen an Arm, Hüfte, Becken, Knie und Sprunggelenk um seine Genesung. Die alleinerziehende Mutter seines Freundes John, Heike B., wird weiter psychologisch betreut. „Mir fehlt mein Sohn unendlich“, sagt sie. „John war ihr einziges Kind“, sagt Yilmaz leise: „Für sie ist alles noch viel schlimmer als für mich.“