Hamburg. Senatskoalition arbeitet auch nach dem Bürgermeisterwechsel weitgehend störungsfrei, aber unter der Oberfläche brodelt es.
Die Sticheleien zwischen den Koalitionspartnern nehmen zu. Und die Nervosität auch. Zwar wird die neue Bürgerschaft voraussichtlich erst in 14 Monaten gewählt, aber SPD und Grüne gehen mit ihren Differenzen bereits jetzt verblüffend offen um und zeigen einander wechselseitig gern einmal die kalte Schulter. Im Abendblatt-Interview kündigte SPD-Landeschefin und Sozialsenatorin Melanie Leonhard Anfang Dezember an, ihre Partei werde ohne Koalitionsaussage in den Bürgerschaftswahlkampf gehen. Merkwürdig, wo doch beide Seiten sonst den Erfolg der gemeinsamen Arbeit so gern und ausgiebig betonen.
Und der grüne Regierungspartner schien über Leonhards Ansage auch nicht einmal besonders pikiert. Die Zweite Bürgermeisterin und Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Fegebank sprach von einer „ehrlichen Antwort“ Leonhards und fügte gleich an, nun sei klar, dass grün wählen müsse, wer wolle, dass die Grünen weiter mitregierten. Stimmenteilung käme also nicht infrage. Und weil der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) zuletzt die Bedeutung der urgrünen Themen Klima- und Umweltschutz für seine Politik betont hatte, setzte Fegebank nach, die Wähler wüssten schon, „wer Triebwerk und wer Trittbrett ist“. So geht politische Abgrenzung.
Das ist alles einerseits erstaunlich, weil nicht üblich unter Regierungspartnern, die ja im Großen und Ganzen nach wie vor vertrauensvoll zusammenarbeiten. Andererseits wird das rot-grüne Muskelspiel verständlich vor dem Hintergrund des zu Ende gehenden Jahres, das im Rathaus an Dramatik und Spannung einiges zu bieten hatte. Dieses Jahr 2018 bedeutet nicht weniger als eine Zäsur im Machtgefüge der Landespolitik. Wie stark sich die Koordinaten der maßgeblichen Akteure verschieben, ist derzeit noch nicht abzusehen, zu einschneidend sind die Veränderungen.
Absurde Geheimniskrämerei
Das Beben begann früh: Nach wochenlanger, geradezu absurder Geheimniskrämerei verabschiedete sich der Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) Ende Februar nach Berlin und wurde Bundesfinanzminister und Vizekanzler der neu gebildeten Großen Koalition. Die seit Jahrzehnten regierungserfahrene Hamburger SPD wirkte nicht sehr vorbereitet auf diese nicht sehr unwahrscheinliche Entwicklung. Die Sozialdemokraten schlitterten ziemlich orientierungslos in eine Nachfolgedebatte für den großen Zampano Scholz, der nicht nur Bürgermeister war, sondern als SPD-Landeschef auch in der Partei die Zügel fest in Händen gehalten hatte.
Keiner wollte so richtig gern in die großen Fußstapfen des Olaf Scholz treten: Der Favorit, der damalige Bürgerschafts-Fraktionschef Andreas Dressel, sagte nach langem Zögern aus familiären Gründen ab und wurde Finanzsenator. Sozialsenatorin Melanie Leonhard wollte aus demselbem Grund nicht an die Spitze des Senats wechseln, übernahm aber immerhin das Parteiamt von Scholz. Zusätzlich getrübt wurde die Stimmung der SPD durch eine Umfrage, die die Partei, die bei der Bürgerschaftswahl 2015 noch 45,6 Prozent geholt hatte, auf 28 Prozent abstürzen ließ. Von den desaströsen bundesweiten Werten für die SPD ganz zu schweigen.
Da meldete sich beim entscheidenden Krisentreffen führender Sozialdemokraten im Rathaus einer zu Wort, mit dem niemand so richtig gerechnet hatte. „Ich bin bereit. Und ich traue mir das auch zu“, sagte Peter Tschentscher, 52 Jahre alt, habilitierter Laborarzt und seit 2011 Finanzsenator. Schon hatte er den Job, den sonst keiner wollte. Am 28. März wählte die Bürgerschaft Tschentscher, politisch im einst linken SPD-Kreisverband Hamburg-Nord sozialisiert, zum neuen Ersten Bürgermeister.
Sozialdemokratisches Interregnum
Die Grünen nutzten das sozialdemokratische Interregnum, um ihre Rolle im Bündnis zu stärken. In erster Linie dank Katharina Fegebank, die als Zweite Bürgermeisterin mangels eines Ersten mehrere Wochen lang die Geschäfte des Senats führte. Eine Aufgabe zwar ohne konkrete politische Macht, aber mit der Chance zur Profilierung – Fegebank war stets präsent und „verkaufte“ ihre Anliegen charmant, gut gelaunt und schlagfertig.
Scholz, der zum Start des Bündnisses 2015 etwas herablassend von einem „grünen Anbau“ gesprochen hatte, hielt die Juniorpartner stets kurz. Tschentscher machte schnell deutlich, dass er auf verstärkten Dialog und auf Diskussion innerhalb der Koalition setzt. Diese Wertschätzung hat die Stimmung auf grüner Seite zusätzlich verbessert. Das bundesweite Hoch für die Grünen in Umfragen, die Erfolge in Bayern und Hessen, wo die Partei vor der SPD landete oder gleichauf lag, beförderte zudem das Selbstbewusstsein des Hamburger Sprengels. Als erste Partei kürten die Grünen Fegebank zur Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl, bevor sie – medienwirksam – Anfang November in den Mutterschutz ging und kurz darauf Zwillinge gebar.
Und die SPD? Nach dem dominanten Scholz kommt Tschentscher eher leise, ja fast unscheinbar daher. Im April, wenige Wochen nach seiner Wahl zum Bürgermeister, konnten 38 Prozent der befragten Hamburger mit seinem Namen nichts anfangen. Da muss Tschentscher ansetzen, wenn er einen Amtsbonus erreichen will. Tatsächlich absolviert der Senatschef ein beachtliches Terminprogramm. Dazu zählt die Reihe „Peter Tschentscher im Gespräch“, mit der er sich in den Stadtteilen und Wahlkreisen bekannt machen will. Er ist ein geduldiger Zuhörer, der aufgrund seiner Erfahrung und der intimen Kenntnis des Politikbetriebs und der Verwaltung Fragen von Bürgern fast immer kompetent beantwortet.
Fehlerfreie Arbeit von Tschentscher
Tschentscher hat seit seinem Amtsantritt im Wesentlichen fehlerfrei gearbeitet, die rot-grüne Regierungsmaschine läuft. Mehr noch: SPD und Grüne haben unter seiner Verantwortung einige dicke Bretter gebohrt – die HSH Nordbank wurde verkauft, das Fernwärmenetz zurückgekauft und zuletzt der Doppelhaushalt 2019/20 ohne große Streitereien verabschiedet. Letzteres war angesichts des deutlichen Ausgabenanstiegs auch kein Kunststück, weil praktisch alle Senatoren mehr Geld ausgeben können. Beim von einem Volksentscheid vorgegebenen Fernwärmerückkauf hat sich Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) allerdings mit seiner Position eines sofortigen Kompletterwerbs durchgesetzt.
SPD und Grüne haben zudem einvernehmlich die Grundstückspolitik verändert: Der Senat macht verstärkt von seinem Vorkaufsrecht in Stadtteilen mit sozialer Erhaltensverordnung Gebrauch und will Grundstücke in Zukunft vorrangig nach Erbbaurecht vergeben. Tschentscher hat auch mit dem neuen Wirtschaftssenator Michael Westhagemann (parteilos) eine überzeugende Lösung für die Nachfolge des beliebten Frank Horch (parteilos) gefunden, der zurücktrat, um sich stärker um seine erkrankte Frau zu kümmern.
Anders als Scholz ist sich Tschentscher nicht zu schade, auch einmal Fehler oder Mängel des Senatshandelns einzugestehen wie etwa bei der holprigen Baustellenkoordinierung. Und doch: Immer wieder wird zu Recht die Frage gestellt, wofür Tschentscher eigentlich politisch stehe, was sein zentrales Anliegen sei. Scholz kurbelte den Wohnungsbau massiv an, setzte die Beitragsfreiheit für den Kita-Besuch durch und startete ein großes Investitionsprogramm zur Verbesserung der in Teilen maroden städtischen Infrastruktur. Für alle diese Punkte steht auch Peter Tschentscher, der das als Finanzsenator mitverantwortet hat, nur dass die Fortsetzung des Gleichen nicht der eigenen Profilierung dient. Tschentscher fehlt ein Thema, eine „Geschichte“, die er erzählen könnte. Ob Tschentschers Bekenntnis zur Priorität von Klima- und Umweltschutz der SPD hilft, muss bezweifelt werden. Im Zweifel wählen die meisten doch lieber das Original – die Grünen.
Mögliche Kampfansage
Hinzu kommt, dass die CDU als größte Oppositionspartei derzeit noch die große Unbekannte im Rennen um die Macht im Rathaus ist. Zwei Hoffnungsträger stehen der Union für die Spitzenkandidatur aufgrund schwerer Erkrankungen nicht zur Verfügung: die frühere niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan und Ex-Staatsrat Nikolas Hill. Und CDU-Fraktionschef André Trepoll will eigentlich nicht ...
Doch schon jetzt werden viele Sozialdemokraten zunehmend nervös. Schlechte Umfragewerte im Bund dürften auch an Hamburg nicht spurlos vorübergehen. Nicht wenige Abgeordnete fürchten auch deswegen um ihre Mandate. Durchaus mit Sorgen blickt die SPD auf die Wahlen zu den Bezirksversammlungen im Mai. In den Bezirken Altona und Eimsbüttel lagen die Grünen 2014 weniger als zehn Prozentpunkte hinter der SPD. Sollten die Grünen in einem Bezirk erstmals vor der SPD landen, käme einiges ins Rutschen. In Altona, wo sich Grüne und CDU traditionell gut verstehen, würde die Ökopartei wohl nicht zögern, einen eigenen Kandidaten als Bezirksamtsleiter ins Rennen zu schicken – gegen die SPD.
Das wäre eine Kampfansage von Grün an Rot. Die Grünen sind bislang klug genug, Fegebank nicht als Bürgermeisterkandidatin auszurufen. Das könnte ihrer Kampagne zwar Schub verleihen, würde das Koalitionsklima aber extrem belasten. Dabei hegt Fegebank durchaus Sympathie für das Modell Baden-Württemberg, wo der Grüne Winfried Kretschmann Ministerpräsident ist. Wenn der grüne Rückenwind auch durch Umfragen allerdings in der zweiten Jahreshälfte anhalten sollte, dürfte es Stimmen in der Partei geben, die fordern, die Zurückhaltung an dieser Stelle aufzugeben. Geübt hat Fegebank ja schon einmal. Manch ein Sozialdemokrat wird sich nicht erst dann die Frage stellen, ob Tschentscher der richtige Mann an der Spitze ist.
Seit den 60er-Jahren hat die strukturkonservative Hamburger SPD ihren Ersten Bürgermeister nicht mehr kurz vor einer Bürgerschaftswahl ausgewechselt. Das käme, medizinisch gesprochen, einer Operation am offenen Herzen gleich. Wer wüsste das besser als der Arzt auf dem Bürgermeisterstuhl. Aber eines ist schon jetzt klar: Der innerparteiliche Druck auf Tschentscher kann 2019 sehr schnell sehr stark anwachsen.