Hamburg. Das dreijährige Mädchen starb an den Schlägen seiner Mutter. Seitdem wurde von den Behörden viel getan, aber Kritik bleibt.
In ihrem kurzen Leben erleidet die kleine Yagmur aus Hamburg-Billstedt furchtbare Qualen. Am 18. Dezember 2013 stirbt die Dreijährige nach einem Leberriss an inneren Blutungen. Der kleine Körper ist mit 80 Blutergüssen und Wunden übersät - Schminke soll das verdecken. Für diese Misshandlungen verantwortlich ist ihre Mutter, der Vater hat weggesehen. Die Tat sorgte vor fünf Jahren bundesweit für Schlagzeilen, auch weil die Jugendämter die Gefahr für das Mädchen trotz vieler Hinweise übersahen. Zahlreiche Maßnahmen für einen besseren Kinderschutz wurden seither in der Hansestadt ergriffen. Kritikern aber geht das nicht weit genug.
„Yagmurs Tod hat Hamburg total aufgewühlt“, sagt Michael Lezius, Vorstand der Yagmur-Gedächtnisstiftung, die jedes Jahr am Todestag des Mädchens einen Erinnerungspreis vergibt. „In Deutschland muss mehr für den Kinderschutz getan werden, und zwar systematisch.“ Das sei „eine Geldfrage, aber auch eine Bewusstseinsfrage“.
Schon vor Yagmurs Tod hatten traurige Schicksale von Kindern Hamburg erschüttert. So starb 2009 das Baby Lara Mia völlig abgemagert, drei Jahre später nahm die elfjährige Chantal in der Obhut ihrer drogensüchtigen Pflegeeltern eine Überdosis der Heroin-Ersatzdroge Methadon zu sich. Nach Yagmur sorgte 2015 der Fall Tayler für Entsetzen, der Stiefvater schüttelte das Baby zu Tode. In allen Fällen standen die Jugendämter in der Kritik.
Das Kind wurde seit der Geburt von Jugendämtern betreut
„Wenn man das Schicksal von Yagmur noch mal Revue passieren lässt, dann ist für mich heute noch das Bedrückendste, dass die Familie immer vom Jugendamt und anderen Helfern begleitet worden ist, und es so viele verpasste Gelegenheiten gab, das Kind zu retten“, sagt Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD). Das Kind wurde seit seiner Geburt von Jugendämtern betreut, lebte bei einer Pflegemutter.
Die Eltern besuchten ihre Tochter regelmäßig. Schon damals gab es Hinweise auf Misshandlungen. Doch weil nicht geklärt werden konnte, ob die Eltern oder die Pflegemutter verantwortlich war, wurden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt. Dass die Eltern damit weiter verdächtig waren, wurde im Jugendamt übersehen. Es hatte bereits dem Wunsch der Eltern nachgegeben, Yagmur solle bei ihnen leben. Die Mutter wurde 2014 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes verurteilt, der Vater zu viereinhalb Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen.
Überforderte Eltern, vernachlässigte Kinder, unbegleitete junge Flüchtlinge: Bundesweit mussten die Behörden 2017 rund 61.400 Mal einschreiten und Minderjährige in einem Heim oder in einer Pflegefamilie unterbringen. Die Deutsche Kinderhilfe kritisiert, dass viele Jugendämter in Deutschland ihren Aufgaben beim Kinderschutz nur unzureichend nachkommen können. Das habe eine im Frühjahr vorgestellte repräsentative Befragung von Mitarbeitern der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) in den Jugendämtern ergeben, die von der Kinderhilfe gefördert wurde.
Es fließe sehr viel Zeit in Dokumentation, die technische Ausstattung sei oft unzureichend und ein Mitarbeiter für zu viele Fälle verantwortlich, sagt der Vorstandsvorsitzende Rainer Becker. Die Kritik, der Aufwand für Dokumentation sei inzwischen zu groß, ist auch in Hamburg oft zu hören. „Dokumentation ist nun mal ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit“, entgegnet die Senatorin. „Wenn man nicht da ist, muss man sicherstellen, dass eine andere Fachkraft überhaupt die Chance hat, den Fall richtig nachzuvollziehen.“
Yagmurs Martyrium beschäftigte in Hamburg viele Gremien. Die Jugendhilfeinspektion sprach von Leichtgläubigkeit, schlechten Übergaben und einer Verkettung von Fehlern bei den Jugendämtern. In einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss 2014 kritisierte die Opposition, die Personalnot habe zu Tod des Mädchens beigetragen. Seit zwei Jahren arbeitet nun eine von der Bürgerschaft eingesetzte Enquete-Kommission, in der Abgeordnete und Wissenschaftler beraten, an Kinderschutz-Empfehlungen. Ihr Bericht soll im Januar vorgestellt werden. Seit Yagmurs Tod hat die Sozialbehörde bereits umfangreiche Konsequenzen gezogen. „Wir haben alles, was wir fachlich regeln können, gemacht“, betont Leonhard. „Aber Jugendhilfe ist ein Prozess, man wird sich die Dinge immer wieder angucken müssen.“
75 Vollzeitstellen mehr beim ASD
Zu den ergriffenen Maßnahmen gehört beispielsweise das Vier-Augen-Prinzip bei geplanten Rückführungen in die Familie. Zudem müsse ein Kind – wenn Misshandlung nicht ausgeschlossen werden kann – beim Institut für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) vorgestellt werden. Allein im ersten Halbjahr 2018 wurde dieses Angebot laut Behörde bei 233 ASD-Fällen in Anspruch genommen. Die Kooperation zwischen Jugendamt und Staatsanwaltschaft sei zudem verbessert worden, berichtet Leonhard. Die Zahl der für die ASD vorsehenen Vollzeitstellen sei um gut 75 auf 446 erhöht worden, das Einarbeitungsprogramm heutzutage sehr aufwendig.
Oppositionspolitikern gehen die Maßnahmen jedoch nicht weit genug. „Man hätte in der Vergangenheit entschlossener handeln können“, moniert der Familienexperte der CDU-Fraktion, Philipp Heißner, Mitglied der Enquete-Kommission. „Wenn das Jugendamt Beziehungsarbeit machen soll, dann müssen dafür die Ressourcen zur Verfügung stehen. Die bisherigen Bemühungen um mehr Personal reichen nicht aus.“ Das sogenannte Personalbemessungssystem soll laut Senatorin im kommenden Jahr noch einmal bewertet werden. „Im Moment sieht es so aus, als kämen die ASD gut zurecht mit ihrer Personalsituation“, meint sie.
Laut Linksfraktion muss der rot-grüne Hamburger Senat mehr gegen Armut tun, um Kinder besser zu schützen. „Die Kinder, die in den letzten Jahren zu Tode gekommen sind, kamen aus von Armut betroffenen Stadtteilen“, sagt der Abgeordnete Mehmet Yildiz.