Hamburg . Ab heute berät die Bürgerschaft den Haushalt. Sprudelnde Steuern, aber hohe Schulden und viel Armut. Wie steht die Stadt wirklich da?

Ein Freitag im Spätnovember. Im zweiten Stock eines unscheinbaren Bürogebäudes in einer unscheinbaren Nebenstraße im Windschatten des Hauptbahnhofs sitzen Cansu Özdemir, Norbert Hackbusch und Heike Sudmann und machen sich unbeliebt – oder bemühen sich zumindest darum.

Unglaubliche 1,5 Milliarden Euro, so berichten die drei Bürgerschaftsabgeordneten der Linkspartei, wollen sie mehr ausgeben in den kommenden beiden Jahren. Dabei haben die Ausgaben der Stadt mit rund 15 Milliarden Euro im Jahr schon ein schwindelerregendes Niveau erreicht, allein im laufenden Jahr hat der rot-grüne Senat wegen des starken Wachstums der Stadt noch einmal eine Milliarde Euro draufgepackt. „Ich weiß, dass das unpopulär ist“, sagt Hackbusch, der Finanzexperte der Fraktion. Der Stadt gehe es ja so gut wie nie zuvor, höre er oft. „Aber von dem Aufschwung, von dem immer die Rede ist, bekommen 30 Prozent der Bevölkerung überhaupt nichts mit.“

Mehr Geld für Soziales

Wer mal nach Steilshoop oder Billstedt fahre, wisse, dass vor allem im Sozialbereich viel mehr Geld in die Hand genommen werden müsse: kostenloses Frühstück für Kita- und Grundschulkinder, kostenloser HVV für Schüler und Studenten, mehr Zuschüsse für Jugend- und Seniorentreffs, mehr, mehr, mehr. Zwei Journalisten interessieren sich an diesem Tag für diese Sichtweise.

Drei Tage später, ein schickes Café im Obergeschoss der Europapassage. Mit Blick auf Hamburgs gute Stube, die Alster, erklären CDU-Fraktionschef André Trepoll und der Finanzexperte der Fraktion, Thilo Kleibauer, warum die Stadt viel zu viel Geld ausgebe. „Mal eben eine Milliarde Euro mehr aus der Haushaltspulle zu nehmen wie Rot-Grün, ist unverantwortlich und entspricht auch nicht dem Bevölkerungswachstum Hamburgs“, meint Trepoll. Die Stadt wachse zwar, aber lange nicht so schnell wie die Ausgaben. Und auf Risiken wie einbrechende Steuereinnahmen oder die Folgen des Brexits sei Hamburg nicht vorbereitet. 2019 und 2020 müsse die Stadt 200 Millionen Euro weniger ausgeben als der Senat es plane, fordern Trepoll und Kleibauer.

Ausgaben müssten sinken

Eine Woche später, Raum A im Rathaus. Zwischen Ledertapeten und Ölgemälden geht die FDP noch einen Schritt weiter. Die Ausgaben müssten nicht nur runter, sondern auch die Steuern gesenkt und die Schuldenbremse verschärft werden, fordert Fraktionschef Michael Kruse. „Nie hatte Hamburg so viele Steuereinnahmen wie jetzt, und trotzdem sind die Schulden der Stadt höher als je zuvor.“

Ja, was denn nun?

Ist Hamburg eine wahnsinnig reiche Stadt, die im Geld schwimmt und sich und ihren bald 1,9 Millionen Einwohnern entweder viel mehr gönnen und sogar die Steuern senken könnte? Oder lebt die Stadt über ihre Verhältnisse und schafft es kaum, allen Bürgern ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen? Armes Hamburg – reiches Hamburg: Eine Analyse mit Blick auf den Doppelhaushalt 2019/2020, der von heute an debattiert wird und am Donnerstag von der Bürgerschaft verabschiedet werden soll.


Sagenhaft: die Einnahmen der Stadt


Betrachtet man isoliert die Steuereinnahmen der Bundesländer, ist Hamburg tatsächlich das mit Abstand reichste Land: Das Aufkommen je Einwohner lag 2017 an der Elbe bei 154 Prozent des Bundesdurchschnitts, weit dahinter folgt auf Platz zwei das auch nicht eben arme Bayern mit 128,9 Prozent. Zum Vergleich: Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bremen kommen jeweils nur auf rund 90 Prozent des Durchschnitts, Mecklenburg-Vorpommern sogar nur auf knapp 57 Prozent.

Hauptgrund für diesen großen Vorsprung ist die Wirtschaftskraft der Hansestadt, die nicht nur über den drittgrößten Hafen Europas verfügt, sondern auch Heimat diverser bedeutender Konzerne wie Airbus, Aurubis oder Beiersdorf ist, die Zigtausende gut dotierter Jobs bieten. Entsprechend liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigem in Hamburg mit 94.000 Euro im Jahr deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 74.000 Euro. Das BIP pro Einwohner (also Kinder, Rentner und Arbeitslose mit eingerechnet) liegt mit 65.000 Euro sogar mehr als 50 Prozent über dem Bundesschnitt (40.000 Euro).

Zahlerland im Länderfinanzausgleich

Logischerweise ist Hamburg neben Bayern, Baden-Württemberg und Hessen das einzige Zahlerland im Länderfinanzausgleich (2017 waren es 40 Millionen Euro). Bemerkenswert daran: Die anderen beiden Stadtstaaten Berlin (erhielt vergangenes Jahr 4,2 Milliarden Euro) und Bremen (700 Millionen) zählen zu den größten Empfängern, auch Schleswig-Holstein durfte sich über knapp 200 Millionen Euro freuen.

Die guten Startvoraussetzungen machen sich auch im Ergebnis bemerkbar: Seit 2014 erwirtschaftet der Kernhaushalt der Stadt Überschüsse, im vergangenen Jahr die unglaubliche Summe von rund einer Milliarde Euro. Zwar sind auch die meisten anderen Länder mittlerweile im Plus, aber auch hier gilt: Der Überschuss pro Einwohner war in Hamburg mit 584 Euro mit Abstand der größte – und einer aktuellen Prognose zufolge wird das erst mal so bleiben.


Besorgniserregend: die Schulden


Ist Hamburg also eine sagenhaft reiche Stadt? Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) erhebt sich aus dem schon etwas in die Jahre gekommenen Ledersessel in seinem Büro, zögert einen Moment und zitiert dann seinen Vorgänger, den heutigen Bürgermeister Peter Tschen­tscher: „Hamburg schwimmt nicht im Geld“, habe der auf eine ähnliche Frage mal gesagt, „sondern Hamburg schwimmt in Schulden.“

Das klingt nach Understatement, ist aber schlicht eine Tatsache. Zwar ist die Verschuldung der Stadt dank der Tilgungen der vergangenen Jahre von mehr als 23,2 auf aktuell „nur“ noch 22,4 Milliarden Euro zurückgegangen. Doch da die Belastungen aus dem HSH-Nordbank-Drama nach und nach durchschlagen, wird diese Summe bis Jahresende auf über 25 Milliarden Euro steigen. Rechnet man auch die Verbindlichkeiten öffentlicher Unternehmen und der „Sondervermögen“ mit, über die etwa die Sanierung aller Schulgebäude finanziert wird, sind es mehr als 32,7 Milliarden Euro oder rund 18.000 Euro pro Einwohner. Das ist nach Bremen (30.000 Euro) die höchste Pro-Kopf-Verschuldung der Republik.

Langjährige Belastungen

Wie kann das sein? „Es wurde viel zu lange ausgeblendet, welche Belastung eine Entscheidung nach sich zieht“, sagt Dressel. Ob Einstellung von städtischem Personal (das völlig überraschend irgendwann Pensionen bezieht), der nötige Unterhalt und Sanierung von neu geschaffenem Eigentum oder die „graue Verschuldung“, also der Wertverlust von Gebäuden, Fahrzeugen und anderen Investitionsgütern – über Jahrzehnte hatte die Politik das landauf, landab ignoriert. Schon Dressels Vor-Vor-Vor-Vorgänger Wolfgang Peiner (CDU) hatte das in seinen Memoiren am Beispiel eines auf Pump beschafften Feuerwehrautos scharf kritisiert: Sei es kaputt, werde halt ein neues finanziert, und wenn das kaputt sei, wieder ein neues – im Ergebnis müsse die Stadt drei Kredite abzahlen, habe aber nur ein funktionstüchtiges Feuerwehrauto.

Anekdote zur Verschuldung

Auch Dressel hat dazu eine Anekdote parat. Er zückt sein iPad und startet ein Schwarz-Weiß-Filmchen, das den legendären Franz Josef Strauß bei einer Haushaltsdebatte im Bundestag zeigt. Auf „35 Milliarden Mark“ belaufe sich der Schuldenstand des Bundes mittlerweile, wettert der stimmgewaltige CSU-Politiker. Stapele man 100-Mark-Scheine aufeinander, ergebe das einen Berg von 35 Kilometern Höhe, was wiederum einem Gewicht von 28.000 Tonnen entspreche oder 120 Güterzügen oder ...

Dressel hat das lustige Filmchen auch seinen Genossen bei einer Haushaltsklausur gezeigt – aber nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch um zu verdeutlichen, wie die Lage ist. Denn wenn Strauß’ Rechnung denn stimmte, wäre allein Hamburgs Verschuldung heute 32 Kilometer hoch, jedenfalls in 100-Euro-Scheinen ...


Der Konzern Hamburg? Pleite ...


Selbst das ist nicht die ganze, bittere Wahrheit. Denn wenn man Hamburg als Konzern mit all seinen Nebenhaushalten und rund 400 Beteiligungen betrachtet, addiert sich die Schuldenlast sogar auf 44 Milliarden Euro. Das „negative Eigenkapital“ ist 2017 auf fast 26 Milliarden Euro gestiegen. Der „Konzern Hamburg“ ist also völlig überschuldet. Wäre die Stadt nicht unbegrenzt kreditwürdig, wäre sie pleite.

Das Tröstliche daran: Immerhin hat die Hansestadt viele Verpflichtungen wie die milliardenschweren Pensionslasten endlich mal ermittelt und ausgewiesen, fast alle anderen Bundesländer (Ausnahme: Hessen) drücken sich um diese unschöne Erkenntnis.

Spendierfreudiger Senat

Auch Thilo Kleibauer hebt auf die Frage „Armes Hamburg – reiches Hamburg?“ die Überschuldung des Konzerns hervor. Dass die trotz der Rekordsteuereinnahmen und immer höherer Bundeszuschüsse an die Länder seit Jahren ansteigt, bereite ihm Sorgen. Für den CDU-Finanzpolitiker ist das einerseits Ausdruck der nachlassenden Wirtschaftskraft der Stadt, was sich an der Stagnation im Hafen zeige oder daran, dass die Unternehmenssteuern weniger stark zulegen als die Einkommensteuer. Andererseits sei die Spendierfreude des Senats daran schuld, findet Kleibauer: „Insgesamt will Rot-Grün in dieser Wahlperiode über fünf Milliarden Euro mehr ausgeben als bei Abschluss der Koalition vereinbart.“


Wo steckt das ganze Geld?


Dass Hamburg gemeinhin als reiche Stadt gilt, hat zwei Gründe, die weniger mit Haushaltsdaten und Schuldenständen zu tun haben: Zum einen hat die Stadt, abgesehen von einer kurzen Privatisierungswelle Anfang des Jahrtausends, bislang davon abgesehen, ihr Tafelsilber zu verkaufen. Vom Schwimmbadbetreiber Bäderland über den Heimbetreiber Fördern und Wohnen, vom Hafenkonzern HHLA bis zur Hochbahn und den Wasserwerken – rund 400 Unternehmen gehören ganz oder mehrheitlich der Stadt.

Das ist nicht nur ein Wert an sich, sondern sichert ihr auch Einfluss. Wichtigstes Beispiel ist die Saga: Dass die Stadt einen Konzern mit 130.000 Wohnungen besitzt, ist ein enormer Vorteil im Kampf gegen steigende Mieten, viele Kommunen beneiden Hamburg darum.

Bildung oft kostenlos für Bürger

Zweitens bietet die Stadt ihren Bürgern vor allem im Bildungsbereich ein Komplettpaket, das bundesweit lange konkurrenzlos war: Kitas mit gebührenfreiem Grundangebot (fünf Stunden täglich inklusive Mittagessen), eine kostenlose Nachmittagsbetreuung an fast allen Schulen und gebührenfreie Hochschulen – dieses Angebot kostet die Stadt jährlich eine dreistellige Millionensumme. Außerdem ist die Zahl der Lehrer seit 2011 um gut 20 Prozent gesteigert worden – wegen der wachsenden Schülerzahlen, aber auch um die Klassen zu verkleinern.

Zwar ziehen mittlerweile viele Länder in diesem oder jenem Bereich nach, in Berlin etwa sind Kitas seit diesem Sommer komplett gebührenfrei. Doch wie schwer das fällt, hat Schleswig-Holsteins Finanzministerin Monika Heinold (Grüne) erst kürzlich im Abendblatt-Interview erklärt: „Mit Hamburgs finanzieller Stärke können wir nicht mithalten“, sagte sie. Ihr Ziel sei erst mal, die bundesweit höchsten Kita-Gebühren wenigstens zu senken.


Hohe Kinder- und Altersarmut


Angesichts dieser Bemühungen im Bildungsbereich erschreckt es umso mehr, dass die Kinderarmut in Hamburg relativ hoch ist. Der Anteil der unter 18-Jährigen, die als armutsgefährdet gelten, liegt seit Jahren unverändert bei etwa 25 Prozent, bei den 18- bis 25-Jährigen ist er seit 2007 sogar von 28,5 auf 36,9 Prozent gestiegen, wie der Sozialverband SoVD kürzlich beklagte. Auch er fordert zum Beispiel ein kostenfreies Frühstück in Kindergärten und Schulen.

Ähnlich sieht es bei der Altersarmut aus: Trotz der hohen Beschäftigungsquote und trotz hoher Löhne sind in Hamburg mehr Menschen im Alter auf Unterstützung angewiesen als in anderen Bundesländern, so der DGB, der von einer „tickenden Zeitbombe“ spricht. Auch Sozialverbände berichten seit Jahren von einer steigenden Altersarmut, die derzeit bei rund 15 Prozent liege. Der SoVD fordert daher, dass die Stadt Empfängern von Grundsicherung 20 Euro im Monat mehr zahlt, um die hohen Lebenshaltungskosten in Hamburg etwas abzufedern. Außerdem sollten Bedürftige freie Fahrt in Bussen und Bahnen erhalten.

Für die meisten dieser Forderungen habe er Verständnis, sagt Finanzsenator Dressel, der sich auch als „Ermöglicher“ sieht. Gleichwohl muss er schon von Amts wegen betonen, dass die Stadt nicht alles auf einmal machen könne.

Armes Hamburg – reiches Hamburg? Das bleibt also vorerst eine Frage der Perspektive.