Hamburg. Intelligentes Navigationssystem trägt dazu bei, Fahrzeugstrom gleichmäßig auf Straßen zu verteilen – wenn genügend Autofahrer mitmachen.
Der Mann, der behauptet, die Stauprobleme Hamburgs lösen zu können, sitzt in einem 15 Jahre alten Golf GTI. Bart, tätowiert – ein Jungunternehmer nicht der ganz klassischen Art. Er hätte auch mit seinem Kleinbus kommen können, sagt Daniel Stolba, aber der Berufsverkehr in Hamburg, die raren Parkplätze in der City – da schien der kompakte VW die bessere Wahl. Die Größe des Autos spiele aber keine Rolle bei der Erfindung, die er gleich vorführen möchte. Sie lasse den Verkehr mit allen Fahrzeugen fließen.
Die vermeintliche digitale Wunderwaffe ist eine Handy-App und nennt sich „Nunav“. Ein intelligentes Navigationssystem, das den Fahrzeugschwarm der Großstadt so gleichmäßig aufs Straßennetz verteilen könne, dass es zu keinen Staus komme. Bildlich könne man sich das vorstellen wie „bei Bewässerungsgräben auf Feldern“, sagt Stolba. Jede Straße werde ausgleichend genutzt, damit bleibe jeder einzelne Autofahrer im Fluss.
Der Unterschied zu herkömmlichen Navigationssystemen von TomTom, Google oder Waze? Die kostenlose Anwendung lenke den Verkehr, statt ihn nur zu registrieren; das Straßennetz werde dadurch zum Werkzeug, und jeder Einzelne komme schneller ans Ziel. Würden mehr Menschen mit Nunav fahren, sagt Stolba, würden weniger Autos im Stau stehen.
Niedersachsen testet das System bereits
Die Stadt Hamburg ist durchaus interessiert an digitalen Lösungen für analoge Verkehrsprobleme. Sie setzt laut eigener Aussage auf eine Kombination aus Intelligenten Transportsystemen (ITS), verfolge eine eigene ITS-Strategie: intelligente Verkehrssteuerung, intelligente Infrastruktur, intelligentes Parken und bald auch autonomes Fahren. Gelenkt wird das aber noch ganz klassisch von der Verkehrsleitzentrale mittels Anordnungen, Signaltafeln, Sperrungen und Ampeln.
Die Verkehrslenkungsapp Nunav wurde 2013 von Informatikern entwickelt. Nutzen kann sie jeder kostenlos, gesteuert werden soll sie laut Geschäftsmodell kostenpflichtig von den Verkehrsleitzentralen in Städten. Hannover und das Land Niedersachsen testen das System bereits. Auch die Paketzusteller von Hermes fahren mit Nunav. Herzstück der Software seien lernende Algorithmen, die intelligente Echtzeit-Navigation und individuelle Routenanpassungen bereits vor dem Entstehen von Staus vornehmen könnten.
Jeder erhält individuellen Routenvorschlag
„Staus auflösen kann man mit Nunav nicht“, sagt Stolba, als er vorm Jungfernstieg in eine stehende Autokarawane rollt. Wenn man drin steht, steht man. Der Routenvorschlag von Nunav sei aber der schnellste. Winterhude ist das Ziel der Testfahrt, einmal am Nadelöhr Alster vorbei, das scheint ein sinnvoller Belastungstest im abendlichen Berufsverkehr.
Die App ist reduziert aufs Wesentliche, wird datenschutzkonform anonym genutzt und ist werbungsfrei. Sie zeigt jedem Autofahrer nur einen, und zwar seinen individuellen Routenvorschlag. Im Hintergrund habe das System das gesamte Straßennetz im Blick. So komme es vor, dass Wagen mit gleichem Start und Ziel unterschiedliche Wege angezeigt bekommen. Nicht selten im „Taximodus“, der nicht immer logisch aussieht. Fahren wie Einheimische, nicht zwingend auf direktem Weg, nennen das die Entwickler. Tatsächlich erreicht Stolba das Ziel zwei Minuten vor der Navigationsprognose von Google.
Verkehrsleitzentrale müsste für System zahlen
Die App, die den Verkehr im Grunde nur gerecht auf alle verfügbaren Straßen verteilt, hat schon mehrere Software-Preise gewonnen, wurde in der „Tagesschau“ gewürdigt, hat sich aber trotzdem nicht flächendeckend durchgesetzt. Noch nicht, meint Daniel Stolba. Er ist Sprecher des dahinter stehenden Start-ups Graphmasters. Den Entwicklern würden nach Eigenauskunft schon fünf bis sieben Prozent aller Hamburger Autofahrer genügen, um staufreie Berechnungen aus eigenen Ortungen und frei verfügbaren Verkehrsdaten anstellen zu können. Wenn die Stadt allen Hamburgern das System ans Herz legen würde und es selbst steuere, so Stolba, wären Staus bald eine Seltenheit.
Grundsätzlich sei dieser Ansatz auch interessant, heißt es aus der Hamburger Verkehrsbehörde. Allein darauf verlassen wolle man sich bei der Lenkung des Verkehrs nicht, die Stadt setze weiter auf die Kombination aus unterschiedlichen intelligenten Transportsystemen. „Der Nutzung von Navi-Apps als digitales Instrument zur Verkehrssteuerung wird seitens der Behörde als positiv empfunden“, lässt Sprecherin Susanne Meinecke trotzdem wissen. „Das Erfassen und Bereitstellen entpersonalisierter Verkehrsdaten sehen wir als eine unserer Grundaufgaben."
Ziel der Behörde sei es, verkehrsrelevante Informationen über entsprechende Datenportale (etwa die Urban Platform Hamburg) an die Navigationsanbieter zu geben und so den Verkehr positiv zu beeinflussen. Die Nutzung von Apps sei dabei bereits Realität und werde begrüßt, „da sie sich normalerweise positiv auf den Verkehr auswirkt“.
Bei Helene Fischer hat’s schon funktioniert
Die Rückfahrt mit der Anti-Stau-App ist geprägt von Nebenstraßen, im „Taximodus“ geht es zurück in die City. Ohne Stau, der aus dem Autofenster aber gut zu sehen ist. Der Anwendungsbereich für Städte ließe sich sogar erweitern. „Bei Bauarbeiten oder Großveranstaltungen könnte die Stadt über die App auch Schleichwege durch Anwohnerstraßen sperren“, sagt Stolba. „Die werden Autofahrern dann gar nicht erst angezeigt.“ So sei es erfolgreich geschehen in Hannover beim Helene-Fischer-Konzert, wie Christoph Koppe, Leiter der dortigen Verkehrsmanagementzentrale, sagt. Für Daniel Stolba geht es bei Nunav auch darum, wer in der Zukunft über die Wege von autonom fahrenden Autos entscheidet – Konzerne wie Google mit eigenem Kartensystem oder die Stadt mit Steuerungsmöglichkeiten wie dieser App?