Hamburg. Angst vor neuem Bundesgesetz lässt Kassen 3000 Klagen einreichen. Steffen geißelt “Unfähigkeit des Gesetzgebers“ in Berlin.
Der Hamburger Justizsenator Till Steffen (Grüne) hat die Bundesregierung scharf angegriffen. Die von Berlin ausgelöste bundesweite Klagewelle an den Sozialgerichten (wir berichteten) „beweist eindrucksvoll die Unfähigkeit der Großen Koalition, Gesetze mit Hand und Fuß zu beschließen“, sagte Steffen. „Ohne Not werden die Sozialgerichte an den Rand der Belastbarkeit geführt. Dieses verantwortungslose Verhalten ist durch nichts zu entschuldigen. Der Bund muss das von ihm verursachte Problem umgehend lösen.“
Die Präsidentin des Hamburger Sozialgerichts, Elisabeth Kreth, hofft, dass „die Akteure im Gesundheitswesen sich auf Bundesebene an einen Tisch setzen und nach Lösungen suchen“. Die Klagewelle treffe die Sozialgerichte „bundesweit mit großer Wucht“ und sei ein "Ergebnis ungelöster bundesweiter Finanzierungskonflikte im Gesundheitswesen".
Die Hamburger Sozialgerichte hatten In der Woche vor dem 9. November fast 3000 Klagen von Krankenkassen entgegennehmen müssen. Das entspricht einem Drittel des jährlichen Klageaufkommens – in allen Rechtsgebieten zusammen. In Niedersachsen waren es 10.000 neue Fälle, in Bayern 13.000, in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz verdoppelte sich das Aufkommen der Klagen vor den Sozialgerichten innerhalb von nur gut einer Woche. In den anderen Bundesländern sieht es ähnlich aus. Die Gerichte erklärten unisono, mit dieser Menge an Klagen heillos überfordert und auf Jahre beschäftigt zu sein.
Gesetzgeber halbiert die Verjährungsfrist – rückwirkend
Grund für die Klagewelle ist das neue Pflegepersonal-Stärkungsgesetz aus Berlin. Es verkürzt die Verjährungsfristen für die Beanstandung vermeintlich fehlerhafter Abrechnungen von Kliniken von derzeit vier auf zwei Jahre. Die im Gesetz festgelegte Übergangsregelung dafür war jedoch so spät bekannt geworden und mit dem Ablauf am 9. November so knapp terminiert, dass die Kassen ihre Chancen auf Erstattungen nur wahren konnten, indem sie in einer großen Kraftanstrengung innerhalb weniger Tage Klage für jeden Zweifelsfall einreichten.
Unstrittig ist, dass der Gesetzgeber den Gerichten eher helfen und mit der Verkürzung der Verjährungsfristen die Klagen in Abrechnungsfragen reduzieren wollte. Doch das ist gründlich daneben gegangen. Der Gesetzgeber hatte zwar die Übergangsregelung für die verkürzte Verjährung extrem kurzfristig in die Vorlage aufgenommen und den Stichtag für die Übergangsregelung so gelegt, dass sie mit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2019 bereits verstrichen sein wird. Stichtag und der Termin der dritten Lesung des Gesetzes im Bundestag fielen zusammen. Aber Berlin hat die Krankenkassen offenbar unterschätzt und es nicht für möglich gehalten, dass sie in so kurzer Frist so viele Klagen einreichen könnten.
Es fehlt ein Schlichtungsmechanismus für Abrechnungsstreitigkeiten
Für Experten dagegen war die Reaktion der Kassen absehbar, weil sie anders ihre Ansprüche gar nicht hätten wahren können. Die Gerichte aber können und wollen die ungelösten Konflikte der Lobbyisten in Berlin nicht ausbaden. „Es muss auf jeden Fall vermieden werden, dass Bürgerinnen und Bürger, die sich wegen für sie dringender sozialer Anliegen an das Sozialgericht wenden, als Folge der jetzigen Klagewelle länger auf den Abschluss ihres Verfahrens warten müssen“, sagte Kreth. Sie bemängelte das Fehlen von Schlichtungsmechanismen außerhalb der Gerichte.
Derzeit ist in Abrechnungsfragen zwar ein außergerichtlicher Schlichtungsmechanismus im Gesetz vorgesehen. Aber er ist freiwillig und sieht auch eine „Schlichtungsperson“ vor, zielt also nicht auf große Fallzahlen. Es gebe zwar Streitfragen von grundsätzlicher Bedeutung, es gebe aber auch viele Fälle, denen diese Bedeutung nicht zukomme und die deshalb auch nicht vor Gericht landen müssten, hieß es aus dem Umfeld der Sozialgerichte.
Kassen und Kliniken beschuldigen sich gegenseitig
Die Streitparteien ergingen sich in gegenseitigen Vorwürfen. Die Krankenhäuser sehen in der Klagewelle der Kassen eine reine Geldbeschaffungsmaßnahme. „Es geht um medizinisch absolut korrekt erbrachte Leistungen“, sagt Joachim Odenbach, Pressesprecher der deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Dachverband der Kliniken. „Die Kassen versuchen, gnadenlos Geld zu sparen.“ Bei den meisten Klagen gehe es um Abrechnungen für Schlaganfall-Patienten. „Dabei wird überhaupt nicht differenziert, es werden unterschiedslos alle Fälle beklagt“, so Odenbach.
Das stellt auf der Gegenseite im Spitzenverband der gesetzlichen Kranken und Pflegekassen (GKV) auch niemand in Abrede. „Durch die rückwirkende Verkürzung der Beanstandungsfrist von Abrechnungen für die gesetzlichen Krankenkassen waren diese gezwungen, schnell noch vor dem Inkrafttreten der Verkürzung der Verjährung Klagen einzureichen, um die Ansprüche der Krankenkassen und damit der Beitragszahler nicht zu verlieren“, teilte GKV-Sprecherin Janka Hegemeister auf Anfrage mit. „Hätte der Gesetzgeber auf die Rückwirkung der Verkürzung der Verjährungsfrist verzichtet, hätten wohl die allermeisten dieser Klagen vermieden werden können, denn es wäre Zeit gewesen, die Fälle im Dialog beispielsweise mit den Krankenhäusern zu klären.“
Wird schon die nächste Eskalationsstufe gezündet?
Für diesen Dialog zeichnet sich bereits die nächste Eskalationsstufe ab: Krankenhausgesellschaftssprecher Oldenbach warf den Kassen vor, dazu übergegangen zu sein, die Beträge aus den beanstandeten Abrechnungen einfach bei anderen Abrechnungen einzubehalten. Odenbach: „Die Krankenkassen sollten zur Vernunft kommen und die Schlaganfallversorgung nicht gefährden.“ Sollten die Kliniken zu Unrecht einbehaltene Beiträge eintreiben wollen, müssten sie vor Gericht ziehen – oder sich eben mit den Kassen an einen Tisch setzen. Die Kassen wiesen darauf hin, dass sie das Geld der Patienten nur treuhänderisch verwalten, woraus eine besondere Verantwortung erwachse. Das Gesundheitssystem verschlingt im Jahr gut 200 Milliarden Euro.