Hamburg . Allerorten wachsen Wohnkisten. Investoren suchen Geldanlagen, Neubürger ein Dach über dem Kopf. Verliert die Stadt ihr Gesicht?
Manchmal liegen nur wenige Hundert Meter zwischen Architektur für Generationen und Bauten für den Moment. An der Behringstraße stadtauswärts Richtung Autobahn 7 trifft Vergangenheit mit Zukunft auf Gegenwart ohne Perspektive. Zwischen 1928 und 1930 errichtete die Baugenossenschaft „Selbsthilfe“ nach Plänen des Architekten Friedrich Ostermeyer den Friedrich-Ebert-Hof – eine gewaltige Anlage mit Kleinwohnungen für die Arbeiterschaft.
Der Bau ist so schlicht wie gelungen: Sprossenfenster, zurückspringende Eingänge und Backstein verleihen dem drei- bis vierstöckigen Block Struktur. In den großzügigen Innenhöfen treffen sich die Bewohner, spielen die Kinder, spannen die Menschen aus. Und gleich hinter dem Bau liegt ein richtiges Fußballstadion – so sah Stadtentwicklung vor einem Jahrhundert aus.
Ästhetik wird nicht mehr geschätzt
Heute ist Baugrund so sündhaft teuer, dass Sport, Bewegung und Freiflächen nur noch am Rande der Autobahn Platz finden. Jeder Quadratmeter wird ausgenutzt – Ästhetik spielt keine große Rolle mehr. 200 Meter weiter westlich ist an der Behringstraße in diesem Jahr ein fader Backsteinklotz aus dem Boden geschossen, acht Stockwerke hoch plus Staffelgeschoss. Rund 30 Quadratmeter kosten im Studentenapartmenthaus „Campus Hamburg“ schlappe 693 Euro warm – dafür bekommt man bei der Saga im Friedrich-Ebert-Hof eine Zwei- oder Dreizimmerwohnung mit 62 Quadratmetern, Küche und Bad. Und der nächste Neungeschosser mit 327 Apartments entsteht direkt daneben und lockt mit „Schnäppchenpreisen“ von 147.906 Euro für 23 Quadratmeter. Für die Verkäufer mag das ein gutes Geschäft sein – aber profitiert auch die Stadt davon? Oder wird Hamburg hässlich?
Ortswechsel. Am Rande des Bahnhofs Altona entsteht mit der Neuen Mitte ein neuer Stadtteil. Wie Stadt funktionieren kann, lässt sich wunderbar auf der anderen Seite der Gleise erforschen: Der alte Industriestandort Ottensen mit seiner Altbausubstanz ist längst zum In-Stadtteil aufgewertet und zählt zu den beliebtesten Vierteln der Stadt. Hier ist Dichte, hier ist Vielfalt, hier tobt Leben.
Ob es der Neuen Mitte auch einmal so ergeht? Die Wohnungen finden dort trotz Quadratmeterpreisen von 5000 bis 7000 Euro eifrig Abnehmer. Aber Dichte, Vielfalt, Leben? Vor knapp zwei Jahren hatten Bürgermeister Olaf Scholz, Investoren und Planer den Grundstein für die Neue Mitte Altona gelegt, inzwischen sind schon etliche Schlafregale in den Himmel gewachsen. Der Masterplan mit seiner Blockbebauung, Innenhöfen und der Unterscheidbarkeit der Häuser atmet die Gründerzeitherrlichkeit von gegenüber.
Aber die Umsetzung zeigt manche Beschränktheiten moderner Architektur. Trotz aller Träume von der Stadt der kurzen Wege bleibt das Auto allgegenwärtig. Sie parken am Rand der engen Straßen oder beanspruchen ganze Erdgeschosse für sich. So läuft der Flaneur nicht an Läden, Kneipen, gepflegten Vorgärten vorbei, sondern an Tiefgarageneinfahrten, die sich alle naselang wie gierige Mäuler aufsperren.
Die Zweckmäßigkeit steht im Vordergrund
Auch wenn die Stichstraßen hamburgische Namen tragen wie Eva-Rühmkorf-Straße oder Helga-Feddersen-Twiete, ihnen fehlt vieles, was Hamburg, was Heimat ausmacht, es fehlen die kleinen Details, das Liebenswerte, das Ortstypische. Quadratisch, praktisch, mittelmäßig: Monotone Fassaden und überdimensionierte Balkone machen aus den Häusern unfreundliche, plumpe Klötze – die Gründerzeitbauten der anderen Straßenseite sind mit ihren fünf Stockwerken nur ein Geschoss niedriger, sie wirken aber durch Stuck und Gesimse geradezu filigran.
Viele Häuser des 21. Jahrhunderts funktionieren nach innen und bedienen den Trend des Cocoonings, des Rückzugs ins häusliche Privatleben; nach außen aber stoßen sie viele ab, weil sie nicht mit der Straße kommunizieren. Der Architekturkritiker Dankwart Guratzsch bringt es auf den Punkt: „Modern zu wohnen funktioniert wie Massentierhaltung. Hauptsache, wir sind an die Geräte angeschlossen, wärme- und lärmisoliert, global vernetzt und hausordnungskonform. Wo bleibt das Schöne?“
Wird Hamburg hässlich?
Fragen wir Menschen, die sich damit auskennen – und die gleich zur Gegenfrage ausholen. „War Hamburg schon mal im Ganzen schön?“, fragt etwa der Stadtentwicklungsexperte Martin Brinkmann. „Nein, und genauso wenig wird es im Ganzen hässlich werden.“ Der freie Architekt Mathias Hein reagiert ähnlich: „Diese Frage sollte man vielleicht eher umgekehrt stellen: Was macht Hamburg so schön, so einmalig, so einzigartig?“ Er verweist gleich auf mehrere besondere Qualitäten der Stadt.
Allem voran steht für Hein das Grün in der Stadt. „Hamburg sieht von oben aus wie eine Stadt im Wald. Diese Qualität wird durch das immer noch gültige Achsenentwicklungsmodell Fritz Schumachers aufrechterhalten.“ 1919 präsentierte der legendäre Oberbaudirektor seinen Plan der natürlichen Entwicklung des Organismus Hamburg, den Parks und Wasserläufe wie grüne Linien durchziehen. „So entsteht die Fülle attraktiver Wohnlagen im gesamten Stadtgebiet“, sagt Hein.
Das Grün ist ein Charakteristikum der Stadt – Hamburg ist deutlich grüner als andere Metropolen. Hier bricht eine der Hauptkonfliktlinien der kommenden Jahre auf: Das Wachstum der Stadt bedroht gewachsene Freiräume. Die Volksinitiative „Hamburgs Grün erhalten“ sammelte rasch 23.000 Unterschriften. Sollte daraus eine Volksbegehren werden, droht der Stadt eine empfindliche Niederlage – mehr Grün, weniger Bauten ist eine Ausrichtung, auf die man sich von weit rechts bis tief grün einigen kann – wenn man denn eine Wohnung hat.
Noch steht ein Volksbegehren nur als Drohung im Raum, aber sie wirkt. In den anstehenden Gesprächen wollen die Umweltschützer vom Nabu die Politik überzeugen, weniger Grünflächen in Bauland zu verwandeln. „Wir wollen nicht weiter zusehen, wie Fläche um Fläche immer mehr Grün für gewinnorientierte Bauprojekte geopfert wird. Es ist wichtig, dass wir die Debatte um eine klügere Stadtplanung angestoßen haben“, sagt der Nabu-Vorsitzende Alexander Porschke.
Stadtplanung braucht Stadtnatur. Karin Loosen, die Präsidentin der Hamburgischen Architektenkammer, spricht von einem „Recht auf Weite“. Dichte Bebauung werde akzeptiert, wenn es nahe gelegene Grün- und Freizeitflächen gibt. „In unserem Workshop ,Hamburg 2050‘ wurde genau das gefordert: ein Recht auf Weite in der dichter werdenden Stadt.“
Immense Nachfrage nach Wohnraum
Hein unterstützt den Ansatz: „Es nützt nichts, wenn für die Bebauung von Grünflächen in stadtnahen Lagen ein zusätzliches Naturschutzgebiet in den Boberger Dünen ausgewiesen wird. Die besondere Qualität im Zusammenspiel zwischen Grünflächen und bestehenden Wohnlagen geht verloren.“ Hamburg dürfe dieses wertvolle Gut nicht dem Druck des Wohnungsmarkts opfern.
Aber dieser Druck ist erheblich und wächst noch weiter. 2011 gewannen die Sozialdemokraten die Bürgerschaftswahlen mit dem einfachen Versprechen, jährlich 6000 Wohnungen zu bauen. Inzwischen ist der Senat bei 10.000 Wohnungen pro Jahr angekommen. Doch auch das reicht nicht aus, um die immense Nachfrage zu befriedigen. Angesichts eines überhitzten Markts sieht der Mieterverein zu Hamburg schon jeden dritten Mieter in der Hansestadt bedroht. „Rund 30 Prozent der Hamburger werden sich in den nächsten Jahren ihre Miete nicht mehr leisten können“, warnt der Vorsitzende Siegmund Chychla.
Wachstum in die Höhe
Eine Reaktion ist das Wachstum in die Höhe. Waren Neubauten bis vor wenigen Jahren selten höher als vier Stockwerke plus Staffelgeschoss, legt man nun zwei bis drei Stockwerke drauf. „Wenn wir wieder dichtere Quartiere bauen als in den letzten Jahrzehnten, ist das nichts Schlechtes. Niemand will schließlich wieder Großwohnsiedlungen errichten“, sagt Loosen.
Emsig fahnden Stadtentwickler nach Lücken, potenziellem Bauland und Konversionsflächen – es ist aber wie im Märchen von Hase und Igel: Das Problem wächst schneller, als die flinkeste Baukolonne arbeiten kann. Und der Platz ist endlich. Einfach bauen sich in Hamburg nur noch Luftschlösser.
Die Nachfrage ist dem Angebot längst davongeeilt. Gleich mehrere Entwicklungen treiben die Preise: Angesichts historisch niedriger Zinsen flüchten immer mehr Anleger in Betongold. „Der Immobilien- und Baubereich befindet sich gegenwärtig in einer überhitzten Phase. Aufgrund der Niedrigzinspolitik fließt sehr viel Geld in den Immobilienmarkt in der Hoffnung auf gute Renditen“, sagt Loosen. Manchmal würden Projekte geplant, bei denen fraglich ist, ob sie ökonomisch und städtebaulich noch Sinn ergeben.
Hinzu komme, dass Bauindustrie und Handwerk auf Jahre ausgelastet sind. „Projekte scheitern mittlerweile, weil sie auf Jahre hinaus nicht realisiert werden können oder weil die enorm gestiegenen Baukosten nur über entsprechend überhöhte Mieten und Kaufpreise wieder hereingeholt werden können, die der Markt gar nicht mehr hergibt“, so Loosen. „Wie so etwas enden kann, sehen wir gerade bei der Bauruine des ehemaligen Allianz-Gebäudes in der Innenstadt.“
Hamburg als großes Monopoly-Spielfeld?
Zugleich zieht die florierende Hansestadt neue Bewohner an: In den vergangenen vier Jahren gewann sie durch Zuwanderung mehr als 70.000 Einwohner. Karin Loosen warnt vor einer zu negativen Sicht: „Die Stadt blüht und gedeiht, sie zieht Menschen und Unternehmen an. Das Gegenteil, ein stagnierendes, dahindämmerndes Hamburg wie in den 1980er-Jahren, kann niemand wollen.“
Die aktuellen Veränderungen seien im Vergleich zu den großen Umbrüchen und Wachstumsphasen in der Stadtgeschichte vergleichsweise moderat: „Ich nenne nur die Neukonzeption weiter Stadtbereiche nach dem Großen Brand 1842, den Bau ganzer Stadtteile in kürzester Zeit in vormals ländlichen Gegenden nach Aufhebung der Torsperre 1841, den Abriss der Gängeviertel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts oder den Wiederaufbau nach 1945.“
Genauso viele Einwohner, aber 50 Prozent mehr Wohnungen
Allerdings wird das Wachstum nur selten analysiert: Es ist nach den Zahlen des Statistischen Landesamts eine Migration über Grenzen: Während in den vergangenen vier Jahren 80.000 Ausländer in Summe mehr nach Hamburg kamen als gingen, zogen unter dem Strich über 8000 Deutsche mehr fort. Der Exodus gerade vieler Familien ins Umland hält an, sie wird nur durch die Migration überkompensiert. Die Politik der offenen Grenzen ist längst in Hamburg angekommen. Seltsam, wie wenig dieser Aspekt diskutiert wird. Schon 1993 schrieb der inzwischen verstorbene Oberbaudirektor Egbert Kossak: „Stadtwachstum kann zu einer Zumutung für alle Bürger werden, denn seine Auswirkung in Zukunft muss nicht zwangsläufig auch Wohlstandswachstum sein.“
Zuwanderung ist aber nur ein Grund, warum es Wohnungsmangel gibt. Die Ansprüche an die eigenen vier Wände steigen. So hat die Hansestadt heute so viele Einwohner wie in den 60er-Jahren – die Zahl der Wohnungen aber liegt 50 Prozent höher. Wohnten 1964 rund 1,86 Millionen Hamburger in 630.000 Wohnungen, waren es 2016 knapp 940.000 Wohnungen für 1,8 Millionen. In einer Single-Stadt werden mehr Einheiten benötigt als in einer Metropole der Familien und Wohngemeinschaften. Begnügte sich vor 50 Jahren jeder Hamburger mit rund 20 Quadratmetern, müssen es heute doppelt so viele sein. Diesem Wandel von Ansprüchen kann die Politik kaum folgen – da hilft auch der Verweis auf die Gründerzeit wenig, als teilweise mehr als 20.000 Einheiten pro Jahr gebaut wurden.
10.000 Wohnungen jährlich
Heute machen schon 10.000 Wohnungen jährlich genug Mühe. Mit dem Drittelmix – ein Drittel Sozial-, ein Drittel Miet- und ein Drittel Eigentumswohnungen – hat die Stadt eine Steuerung der Mischung erreicht. In dem Maße aber, in dem es vor allem um Zahlen geht, rücken ästhetische Ansprüche in den Hintergrund. Kann man angesichts eines Massedenken Städtebau betreiben? Schlägt Quantität Qualität? Ja, lässt sich das Wachstum noch gestalten, oder ist es längst in ein Wuchern übergegangen? „Es besteht, ähnlich wie in den 1960er- und 70er-Jahren, die Gefahr, dass Zahlen, Statistiken und Effizienzdenken immer mehr unser Denken und Handeln bestimmen“, warnt Architekten-Präsidentin Loosen.
Stadtentwickler Brinkmann verweist auf eine Fülle von Anforderungen, die kaum noch unter einen Hut zu bringen sind. Die Häuser sollten nachhaltig und ökologisch sein, sämtliche differenzierte Wohnansprüche erfüllen und „Heimat im Quartier“ ermöglichen. „Und dann soll alles auch noch urban und kulturell vielfältig sein und für jeden Geldbeutel passen.“
Für Brinkmann ist Baukunst und Stadtplanung daher nicht nur die Gestaltung schöner Gebäude, sondern die Gestaltung des öffentlichen Raums. „Es geht darum, ein Umfeld zu gestalten, das den Charakter eines Straßenzugs oder eines ganzen Quartiers für Bewohner wie Besucher erlebbar macht.“
Wie „Kraut und Rüben"
Der Stadtentwicklungsexperte führt Beispiele an. Lange Abschnitte der Kieler Straße oder der Wandsbeker Chaussee wirkten wie „Kraut und Rüben: null Ästhetik und null Charakter inklusive der rollenden und am Rande geparkten Blechlawine auf diesen vier- bis sechsspurigen Ausfallstraßen“. Erst wenn man links oder rechts in Quartiere des 19. Jahrhunderts abbiege, stelle sich eine „Wohlfühlatmosphäre“ ein. Die Häuser sind gut in Schuss, Gewerbe und Gastronomie mischen sich unter die Wohnbauten, „wenig Stellplätze, breite Bürgersteige zum Flanieren oder für den eiligen Einkauf nach Feierabend – und eine bunt gemischte Bewohnerschaft nach Alter, Nationalitäten und Geldbeutel“.
Hieran, so kritisiert Brinkmann, scheitert derzeit der Wohnungsbau. „Eine auf Masse und daher auf eine immer gleiche Bauweise ausgerichtete Wohnungsproduktion tut sich schwer, Siedlungen mit Charakter auszubilden.“ Er warnt, der Preis- und Nachfragedruck erzwinge quasi industriell erzeugte Massenfertigung – unter Aufgabe ästhetischer Ansprüche und quartiersbildender Strukturen.
Architekt Hein sieht es ähnlich. Funktionierende Quartiere müsse man nicht neu erfinden. „Man sollte sie auch nicht in nostalgischer Architektur nachbauen, sondern könnte sie mit den technischen und gestalterischen Mitteln unserer Zeit neu interpretieren“, sagt er. „Allein: Der ökonomische und politische Druck, der in Zeiten akuten Mangels an Wohnraum schnell und massenhaft bezahlbaren Wohnraum vorschreibt, lässt eine solche Idee schnell als romantische Spinnerei erscheinen.“ Warum eigentlich? Auch Karin Loosen vermisst bei manchen Investoren Kreativität und den Mut, für die Zukunft zu planen, dabei auch einmal die ausgetretenen Pfade zu verlassen. „Die Lebensmodelle und damit auch die Wohnwünsche der Menschen verändern sich, das Angebot leider bislang nicht.“
Stattdessen gibt es Sündenfälle, die noch vor einem Jahrzehnt kaum denkbar gewesen wären. In Eidelstedt, direkt an der Autobahn 23, baut ein privater Investor ein Quartier mit rund 890 Wohnungen. Eine 21 Meter hohe durchsichtige Schallschutzwand sowie spezielle Fenster sollen die Bewohner vor Lärm schützen, die dann in siebengeschossigen Gebäuden leben. Es ist eine Flucht in die Peripherie: an Autobahnen, Schienenstränge, unter Hochspannungsmasten.
Alte Warnungen
Und es birgt das Risiko, alte Fehler aus der Zeit der Wohnmaschinen zu wiederholen: Droht hier erneut „das Verlöschen des eigentlich Städtischen, das von Babylon bis zum kaiserzeitlichen Berlin durchhielt und ein besonderes Wohngefühl, nämlich: das emotionale Stadterlebnis, möglich machte“? So warnte der Schriftsteller und Verleger Wolf Jobst Siedler in seinem Buch „Die gemordete Stadt“. Das war 1964.
Seitdem hat man vieles gelernt, besser gemacht, verändert. Aber manches geht in Zeiten der „10.000-Wohnungen-aber-schnell“ verloren. Vielfalt, in allen Kulturfragen stets ein Wert an sich, ist in der Architektur kaum gefragt: Die derzeit 90 großen Bauprojekte beispielsweise sind mit vier Ausnahmen von Flachdächern gekrönt, überall regiert die kubische Form – es triumphiert die optimierte Flächennutzung vulgo Investorenlogik. Nur vier Projekte, mit einer Ausnahme in Wilhelmsburg alles Luxusobjekte, heben sich ab – hier investiert eine zahlungskräftige Kundschaft in einen Luxus mit Dach, „für Individualisten“, dichten die Makler und haben ausnahmsweise recht.
Über Geschmack lässt sich streiten – aber auffällig ist, dass der alte Satz „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler“ in den Architektur- und Städtebaudebatten Empörung auslöst. Glaubt man den Leserbriefen, Debattenbeiträgen und Umfragen, unterscheiden sich der Geschmack der Bürger und der Baumeister beträchtlich.
Dabei ist Ästhetik ein Faktor der Nachhaltigkeit. „Schöne Gebäude und gut anlegte Stadtquartiere werden vermutlich länger Wirkung ausstrahlen und stehen bleiben als die geplanten Acht-Euro-Mietshaussiedlungen oder manch eine Wohnunterkunft, die während der Flüchtlingswelle aus dem Boden gestampft wurde und eine Restnutzungsdauer von 15 Jahren hat“, sagt Brinkmann. Ihnen hafte von vornherein das Fluidum des Scheiterns des sozialen Gefüges an. „Wenn ein Bauherr oder Investor, um seine Marge zu erhalten, die Baukosten drückt, bis es quietscht, leidet irgendwann auch die Qualität“, sagt auch Loosen.
Gründerzeitviertel wurden anfangs auch gescholten
Wird Hamburg hässlich?
Die Stadt weiß doch, wie es anders geht. Im ausgehenden 19. Jahrhundert sind unter großem Zeitdruck großflächige Stadterweiterungen entstanden. Paris und Barcelona sind Vorbilder bis heute. „Hier kann man studieren, wie wichtig und fortdauernd segensreich zusammenhängend gedachte urbane Strukturen sein können“, sagt Architekt Mathias Hein. Hamburg hat diesen Prozess damals in kurzer Zeit durchlaufen. „Große Teile von Eppendorf, Eimsbüttel und Winterhude entstanden in der Gründerzeit nach einem einheitlich geformten städtebaulichen Leitbild, das auch heute nichts von seiner Attraktivität verloren hat – im Gegenteil.“ Selbst Architekten, Stadtplaner und Politiker drängt es genau in diese Viertel. Aber sie bauen anders, ganz anders. Zwar versprach Senatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) eine Orientierung „an der Kulisse der Gründerzeit“ – meinte damit aber offenbar nur die Höhe, nicht die Gestalt.
Es gehört zur Wahrheit dazu, dass die heute geliebten Gründerzeitviertel wenige Jahrzehnte nach der Fertigstellung übel beleumundet waren. Die „Hamburger Knochen“ aus der Phase von 1893 bis 1914 galten als industriell gefertigte Mietskasernen der Spekulationsjahre, die Bebauung war eng, die Wohnungen wegen des Schlitzbaus dunkel. Davon setzten sich Hamburgs Oberbaudirektor Fritz Schumacher und Bausenator Gustav Oelsner in Altona radikal ab: Der sozialreformerische Ansatz mit dem Ziel von Licht, Luft und Sonne hatte sie geprägt. Tatsächlich wurden die Innenhöfe durch die neue Blockbebauung viel größer, Querlüftung möglich, die Wohnungen heller. Ihnen gelang eine Stadt, die dicht bebaut und offen, sozial gerecht und ästhetisch zugleich war – und das in Zeiten der Wirtschaftskrise. „Die Jarrestadt, Dulsberg, Barmbek-Nord waren extrem kostensparend und für das damalige Anspruchsniveau des einfachen Mannes geradezu luxuriös“, sagt Hein. „Warum sollte das heute grundsätzlich unmöglich sein?“
Qualitäten vergangener Zeiten
Schaut man sich in den Neubauquartieren um, vermisst man viele dieser Qualitäten vergangener Zeiten – etwa im Othmarschen Park. In Zeiten von Netflix, Amazon Prime und DHL spielt sich das Leben nicht mehr in den Straßen und auf den Plätzen ab, sondern in den eigenen vier Wänden. Wenn der nächste Laden einen Mausklick entfernt ist, verkümmert jede Einkaufsstraße. Und wenn sich auf 80 Quadrametern Singles und DINKS (Double Income, No Kids) konzentrieren, bleiben Spielstraßen allen Bemühungen zum Trotz Toträume.
Die Präsidentin der Architektenkammer Loosen sieht Probleme auf städtebaulicher Ebene: „Noch immer werden neue Quartiere errichtet, in denen nur gewohnt wird – und noch dazu oft von Menschen der gleichen Einkommensschicht.“ Das sei grundfalsch, denn nur eine soziale und funktionale Mischung führe zu lebendigen Quartieren. „Wir müssen deshalb den Drittelmix möglichst überall umsetzen, unterschiedliche Wohnungsgrößen und -typologien anbieten und an belebten Straßen Läden, Werkstätten, Cafés und Kitas in den Erdgeschosszonen vorsehen – auch wenn die Investoren sagen, dass sich dies nicht lohne.“
Wird Hamburg hässlich?
Das muss nicht sein, meint Architekt Hein. Sein Ratschlag an die Politik für einen vorbildlichen Quartiersbau mit kleinteiliger Durchmischung von Wohnen, Kleingewerbe und kulturellen Angeboten lautet: Die Stadt sollte mit ihren gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen wieder häufiger als Bauherr auftreten, statt sich auf den Grundstücksverkauf mit entsprechenden Genehmigungsauflagen zu beschränken. Dadurch könnte ein gesunder Wettbewerb mit privaten Investoren, nicht nur um den günstigsten Preis, sondern um das bessere Konzept in Gang kommen.
„Wenn Hamburg seine Flächen nicht mehr verkauft, sondern verpachtet, könnte die Stadt die soziale Stadtentwicklung verstärken und sich Gestaltungsspielräume eröffnen“, fordert auch die Präsidentin der Architektenkammer. Grundstücke könnten günstiger verkauft werden, wenn damit bestimmte Auflagen wie festgelegte Mietpreise oder innovative Wohnansätze verbunden seien. „Finanz- und Bodenpolitik ist Stadtentwicklungspolitik!“
Ähnlich sieht es Stadtentwickler Brinkmann: „Der genossenschaftliche Siedlungsbau ist seit Jahrzehnten ein gutes Beispiel dafür, dass sich die nachhaltige und auf eine lange Lebensdauer angelegte Entwicklung eines Wohnungsbestandes nach und nach zu Siedlungen und Wohnanlagen mit Charakter entwickeln kann.“ Zugleich zeige aber etwa das Quartier 21 auf dem Gelände des alten AK Barmbek, dass auch private Projektentwicklungen die Stadt bereichern könnten.
Gerade die viel gescholtenen Immobilienentwickler – auch das ist Teil der Wahrheit – haben vor sich hin dämmernde Perlen aufpoliert, etwa die Stadthöfe, den Alten Wall oder die Alte Oberpostdirektion. Zugleich aber möchte die Stadt prägende Architektur wie das Deutschlandhaus, das Commerzbank-Ensemble am Neß und den City-Hof abreißen. Sogar die Norderelbbrücken, dieses „Stahlgewitter traditioneller Ingenieursbaukunst“, wie es Stararchitekt Volkwin Marg nennt, steht zur Disposition.
Wird Hamburg hässlich?
Schwenken wir in die HafenCity: Die anfänglich scharfe Kritik an dem „Würfelhusten am Wasser“, wie Hadi Teherani 2008 lästerte, ist längst leiser geworden. Ganz rund aber läuft die Stadterweiterung nicht. Hein verweist auf das südliche Überseequartier, das infolge der Finanzkrise lange Zeit brachlag. Nun soll das Pariser Konsortium Unibail-Rodamco die Fläche entwickeln und rund eine Milliarde investieren. „Dem Investor geht es begreiflicherweise darum, seine Ertragsziele zu erreichen. Dafür muss möglichst viel Fläche, insbesondere Verkaufsfläche, her“, sagt Hein. Dafür müsse die geplante Shoppingmall nun doppelt so groß werden wie ursprünglich von den Stadtplanern erdacht. Insgesamt 419.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche werden hier realisiert, davon 80.500 Quadratmeter für den Einzelhandel und 21.000 für die Gastronomie und Entertainment inklusive Multiplex-Kino.
Noch mehr Filialisten?
„Das geht nur, wenn öffentliche Straßen und Plätze über- und unterbaut werden. Der Komplex stellt seine ausufernden Baumassen direkt vor die Elbe.“ Hein fragt sich, ob die Hamburger an diesem so wertvollen Ort tatsächlich noch mehr „Flagshipstores“ und „Käfighaltung für Filialisten“ in dieser Dimension bauchen und wollen. „Worin liegt der Zugewinn für Hamburg und die HafenCity? Wer läuft denn eigentlich ins Überseequartier, um dort bei H&M einzukaufen statt an der Mönckebergstraße? Und was passiert, wenn sich der ganze Konsumtempel genauso wenig rentiert wie das schon gefloppte nördliche Überseequartier?“
Die Stadt hat viele Baustellen, in doppelter Hinsicht. Wird Hamburg hässlich? Martin Brinkmann zuckt die Schultern. „Nö, aber auch nicht nur schöner.“
Ein Trost – den Titel „schönste Stadt der Welt“ kann Hamburg ohnehin nicht verlieren, weil er so anmaßend wie seltsam ist. Aber auf ihr Antlitz achten muss die Stadt allemal.