Hamburg. Der Vizechef des ADFC und die Radverkehrskoordinatorin der Stadt müssten dieselben Interessen haben. Oder?

Die Atmosphäre zwischen den Gesprächspartnern ist: ausbaufähig. Dabei haben Radverkehrskoordinatorin Kirsten Pfaue und Dirk Lau, Vizechef des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs Hamburg, eigentlich dasselbe Ziel – den Radverkehr in der Stadt zu fördern. Im Interview zum Ende des Abendblatt-Veloroutentests finden die beiden überzeugten Radfahrer aber nur selten zueinander. Über den Weg, das Tempo, den Mut und die Entschlossenheit der Hamburger Radverkehrsstrategie sind sie sich herzlich uneins.

Frau Pfaue, wie hat Ihnen der Veloroutentest gefallen?

Kirsten Pfaue: Die Schilderungen zeigen, dass sich die Stadt auf den Weg gemacht hat. Klar, Kritikpunkte sind da. Es gibt noch viele veraltete Radwege. Aber mehr als 250 Maßnahmen zum Veloroutenausbau in der ganzen Stadt haben wir angestoßen. Dies belegt den Prozess, in dem wir uns befinden. Seit dem Bündnis für den Radverkehr im Jahr 2016 ist viel erreicht worden. Die Maßnahmen auf den Velorouten, die bereits fertig sind, werden offensichtlich honoriert, es war sogar von „Radlerparadies“ die Rede. Das freut mich. Wir werden den Prozess weiter entschlossen und tatkräftig vorantreiben. 150 Kilometer sind in Planung, 25 Kilometer sind im Bau oder gebaut.

Herr Lau, die Einschätzung des Fahrradclubs ADFC in drei Sätzen?

Dirk Lau: Damit Menschen von fünf bis 95 sicher, entspannt und gern in Hamburg Rad fahren, braucht es Angebote wie hochwertig ausgebaute Velorouten, aber mit mehr Platz fürs Rad. Klar, dieser Test war nur eine Momentaufnahme, die Velorouten sind bislang größtenteils nur zu erahnen, aber sie werden eben auch nicht bis Ende 2020 fertig.

Warum nicht?

Lau: Weil es dem Senat an Mut fehlt, konsequent auf den Umweltverbund zu setzen, also dem Fuß-, Rad- und öffentlichen Nahverkehr Vorrang vor dem Autoverkehr zu geben. Stattdessen wird immer noch autogerecht geplant.

Frau Pfaue, wie bewerten Sie als Federführende den Ausbauzustand der Velorouten?

Pfaue: Zunächst ist es ein Wahnsinnsprojekt, den Radverkehr in einer bebauten Stadt modern und zukunftsweisend einzubeziehen. Allein die damit beschäftigten 30 Planungsbüros belegen die größte Radverkehrsförderung, die es je in der Stadt gab. Und wir sind im Plan. Nur eine Vergleichszahl: 2013 hat die Stadt 7,7 Millionen Euro in den Radverkehr investiert, im Jahr 2017 sind es 15 Millionen, also 8,33 Euro pro Einwohner nur für Baumaßnahmen, dazu kommen die Serviceangebote und die Öffentlichkeitsarbeit. Damit kommen wir auf mehr als 10 Euro pro Kopf. Das zeigt, wie viel wir zugelegt haben.

Das angestrebte Ziel, bis 2020 die 14 Velorouten als Alltagsstrecken des Radverkehrs fertig zu haben, verfehlen sie trotzdem.

Pfaue: Wir werden die Routen über­wiegend ausgebaut haben. Einzelne Teilbereiche verzögern sich wegen langer Planungsphasen, der abgestimmten Baustellenkoordinierung und des Grunderwerbs. Und wir wollen den Menschen auch Qualität bieten.

Geht es Ihnen schnell genug, Herr Lau?

Lau: Nein. Die Velorouten sind das einzige Fahrrad-Ziel des Senats, für dessen Umsetzung im Koalitionsvertrag ein konkretes Datum genannt wird, nämlich Ende 2020. Planungsstau und ausgebuchte Baufirmen als Gründe für die Verzögerung – schön und gut, aber warum setzt die Stadt dann nicht solange auf einfache, schnelle Verbesserungen an den Hotspots wie etwa an der Alster?

Was wären denn einfache Lösungen?

Lau: Zum Beispiel, eine von fünf bis sechs Fahrbahnspuren für den Radverkehr abzutrennen, Verkehrsberuhigung, Tempo 30, aber auch ein regelmäßiger Grünschnitt würde helfen.

Was halten Sie davon, Frau Pfaue?

Pfaue: Das machen wir, wie etwa ein breiter Radfahrstreifen als Umleitung an der Caffamacherreihe zeigt. Und an der Alster beginnen jetzt Zwischenlösungen auf der Seite des Hotels Atlantic mit besseren Ampelschaltungen und verbesserter Wegführung. Kurzfristige Maßnahmen werden also ergriffen, an der Alster beginnen diese noch in diesem Jahr.

Bisher fahren die Hamburger an den Hauptverkehrsstraßen, weil sie die Velorouten nicht finden: Wie wollen Sie das ändern?

Pfaue: Noch sind wir im Prozess. Werden mehr Maßnahmen sichtbar und lange Strecken zusammenhängend befahrbar, werden die Routen bekannter. Die Beschilderung kommt sinnvollerweise zum Schluss, wenn die Routen durchgängig sind. Mit der Ausschreibung dafür wird im kommenden Jahr begonnen.

Der ADFC hält neben Schildern eine intuitive Streckenführung auf dem Straßenbelag für sinnvoll. Was halten Sie davon?

Pfaue: Da rennt der ADFC bei uns offene Türen ein. Wir entwickeln gerade ein Piktogramm, das die Streckenführung der Velorouten sichtbarer machen könnte. Das haben wir im Blick.

Können die Velorouten damit das Rückgrat des Radverkehrs in Hamburg werden?

Lau: Ich hoffe es. Noch sind sie es nicht, sondern ein halb fertiger Flickenteppich.

Warum sind Sie so skeptisch?

Lau: Man muss auf den Velorouten hohe Standards bauen – und das heißt, dem Radverkehr mehr Platz zu geben als üblich. Leider ist das bei vielen Planungen nicht der Fall. Zweirichtungsradwege und gemeinsame Geh- und Radwege haben auf Velorouten entlang von Straßen nichts verloren. Wie gesagt: Um dem Radverkehr mehr Platz zu geben, muss dem Autoverkehr etwas genommen werden, und dazu ist der Senat an vielen Stellen nicht bereit. Das ist das Grundproblem.

Machen Sie zu viele Kompromisse für das Ziel, eine Fahrradstadt zu werden?

Pfaue: Wir wollen keinen Umsturz. Wir wollen einen langsamen gesellschaft­lichen Wandel und dafür den Radverkehr nachhaltig in die Stadt integrieren. Das ist der einzige tragfähige Weg. Im Übrigen ist das Einbeziehen aller Verkehrsteilnehmer auch Ausdruck unseres demokratischen Systems.

Dem ADFC ist das zu halbherzig, nicht radikal genug, um die Wende im staugeplagten, schadstoffträchtigen und lärmintensiven Großstadtverkehr zu schaffen.

Lau: Ganz konkretes Beispiel ist der neue, unterdimensionierte Radstreifen an der Verbindungsbahn. Der ist schlicht zu schmal, damit sich Menschen, die dort von Lkw mit Tempo 60 eng überholt werden, sicher fühlen können. Andere Radfahrer zu überholen ist auch ausgeschlossen. Da muss nachgebessert werden, wird es aber nicht, weil die politische Vorgabe lautet: Wir wollen zwei Fahrspuren pro Richtung für den Autoverkehr erhalten, also bleiben nur 1,85 Meter für Radler – zu wenig.

Pfaue: 2008 hatten wir 720.000 tägliche Radfahrten, 2017 waren es schon 900.000. Das ist ein Anstieg von 25 Prozent. Die Hamburger sind also bereit zum Radfahren. Wir brauchen Platz für die Radler, und den geben wir ihnen auch. Die Fahrradstraße am westlichen Alsterufer oder die Planungen am Ballindamm zeigen das. Aber sicher, es gibt auch Engpässe in einer Großstadt. Doch die Hamburger setzen auf das Rad.

Lau: Ja, aber nicht wegen, sondern trotz der Politik. Da gebe ich Ihnen recht.

Wie interpretieren Sie Ihre Rolle als Radverkehrskoordinatorin?

Pfaue: Solange ich dieses Amt habe, wird Hamburg Tag für Tag fahrradfreundlicher, dafür stehe ich.

Lau: Frau Pfaue ist ja keine Fahrrad­beauftragte, also keine Repräsentantin der Radfahrer, sondern hat eine wichtige Behördenfunktion, um die vielen Ämter, die mit dem Radverkehr zu tun haben, zu koordinieren. Übrigens eine alte Forderung von uns, deren Erfüllung wir ausdrücklich begrüßen. Aber es braucht auch Politiker, die den Mut haben und sagen, Radfahrer, Fußgänger und der Umweltverbund sind die Zukunft der Stadtmobilität – wie die Pariser Bürgermeisterin Anne Hildalgo zum Beispiel.

Bekommt Ihr Wort im Senat genügend Gehör, Frau Pfaue?

Pfaue: Ich habe umfassende Informations- und Beteiligungsrechte und brauche mir über Wucht und Dynamik, die das Thema Radverkehrsförderung genießt, keine Sorgen zu machen. Das Bündnis läuft. Mit Tatkraft gehen 19 Partner verzahnt voran. Wir verbessern die Infrastruktur mit allen sieben Bezirksämtern, dem Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer und der Hamburg Port Authority. Wir stärken den Service  mit Bike+Ride-Stationen an allen U- und S-Bahnhöfen, in die wir 30 Millionen Euro bis 2025 investieren. Wir bauen unser Fahrradleihsystem aus. Wir investieren in Personal und Maschinen bei der Reinigung der Wege. Was Hamburg macht, findet bundesweite und internationale Beachtung. Darauf kann die Stadt stolz sein.

Sie haben sogar „Vortragsrecht beim Bürgermeister“. Wie oft haben Sie davon schon Gebrauch gemacht?

Pfaue: Einmal jährlich haben wir eine Veranstaltung zum Stand der Radverkehrsförderung unter Leitung des Bürgermeisters. Darüber hinaus musste ich noch nicht bei ihm vorstellig werden. Von meinen Rechten habe ich bisher auf Staatsratsebene Gebrauch gemacht. Da haben wir gute Lösungen gefunden.

Kann Hamburg seinen Radverkehrsanteil von derzeit 17 Prozent auf angestrebte 25 Prozent steigern?

Lau: Schwer zu sagen. Wir haben zwar seit 2008 einen Zuwachs beim Radverkehr, dessen Förderung natürlich in unserem Sinne ist. Aber um mit anderen europäischen Metropolen gleichzuziehen und das Mobilitätsverhalten der Hamburger zu ändern, braucht es wesentlich mehr Mut und keine halbherzigen Sachen. Nur positive Anreize zu setzen reicht nicht, man muss auch die Attraktivität des Autoverkehrs einschränken, was ja nicht heißt, das Autofahren zu verbieten. Beispiel Thadenstraße, die Fahrradstraße werden soll. Warum lässt die Stadt dort weiter alle Autos rein statt nur die Anlieger? Das ist absurd. Und auch der zögerliche Ausbau der Velorouten lässt mich skeptisch bleiben.

Pfaue: 250 Maßnahmen auf den Velorouten sind kein zögerlicher Ausbau. Das Projekt ist riesig und braucht Zeit. Ich würde mir wünschen, dass man die Komplexität des Themas annimmt. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist die systematische Radverkehrsförderung in den Bereichen Infrastruktur, Service und Kommunikation.

Und damit kriegen wir 25 Prozent hin?

Pfaue: Der Anteil des Radverkehrs steigt. Wir schaffen qualitativ hochwertige Angebote, um in einer wachsenden Stadt verstopfte Straßen zu vermeiden. Wir wollen quirliges Leben mit Fußgängern und Radfahrern auf den Straßen, um andere davon zu begeistern. Dazu gehört ein höherer Infrastrukturstandard. Die Stadt von morgen ist für Menschen gebaut – und daran arbeiten wir.

Warum drängt sich der Eindruck auf, dass ADFC und Radverkehrskoordinatorin nicht auf einer Welle reiten?

Lau: Weil wir ungeduldig sind und uns aus der Behörde oft nur Floskeln erreichen. Der Fahrradklimatest fällt für Hamburg jedes Mal mies aus, der Veloroutentest hat erhebliche Mängel aufgezeigt, aber die Behörde macht weiter wie bisher und sagt: Wir sind auf einem guten Weg, statt auf die Menschen einzugehen, die täglich auf den Straßen unterwegs sind.

Pfaue: Ich führe viele Gespräche, und wir haben eine repräsentative Umfrage durchgeführt, die zeigt, dass die Hamburger dem Radverkehr wohlgesonnen gegenüberstehen. Das spornt mich an und bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Deswegen werden wir ihn weitergehen. Dazu gehört auch, dass wir akzeptieren, dass Bürger weiterhin andere Fortbewegungsmittel nutzen wollen. Der Austausch und das Miteinander sind dabei entscheidend. Erst dann wird es konstruktiv. Der Ausbau der Radinfrastruktur, der  gut angenommen wird, zeigt doch, dass wir alle einen langen Atem brauchen. Und da appelliere ich an den ADFC, dieses große Projekt weiterhin mit voranzubringen.

Lau: Das fällt schwer, wenn die Stadt selbst auf Velorouten die Standards nicht einhält und gemeinsame Geh- und Radwege plant. Das ist übrigens auch nicht im Interesse der Fußgänger.

Pfaue: Konflikte mit Fußgängern werden durch unsere Planungen deutlich reduziert. Wir teilen den Straßenraum klar auf, für alle Verkehrsteilnehmer. Entscheidend ist die konkrete Situation vor Ort. Verallgemeinerungen wie „kombinierte Rad- und Fußwege sind inakzeptabel“ bringen uns nicht weiter. Gerade weil es absolute Ausnahmen sind.

Halten Sie „mehr Platz für Radfahrer“ für eine Maximalforderung, Frau Pfaue?

Pfaue: Nein. Platz schafft Sicherheit. Aber Maximalforderungen helfen generell nicht, weil wir die gesamte Stadt für ein Verkehrskonzept fit machen müssen.

Lau: Mehr Platz ist keine Maximalforderung, sondern das berechtigte Interesse einer hoffentlich wachsenden Zahl von Menschen in der Stadt, die Rad fahren wollen. In Kopenhagen ging die Veränderung von unten aus. Das wird auch in Hamburg nötig sein, denn von den ängstlichen und letztlich konservativen Politikern erhoffe ich mir immer weniger.

Der Senat will Autofahrer als Wähler nicht verprellen, richtig?

Pfaue: Es gibt viele Menschen, die haben Sorge, dass wir die Stadt zu sehr verändern. Dazu gehört, dass die Hoffnung auf einen Parkplatz stirbt. Das Ziel der Radverkehrsförderung teilen alle, aber wenn dafür Teile der gewohnten Infrastruktur aufgegeben werden müssen ...

Lau: ... braucht es Mut­ ...

Pfaue: ... kommt es zu Diskussionen, die wir ernst nehmen müssen. Das ändert nichts an den Megatrends, aus denen deutlich wird, dass wir handeln müssen. Für bessere Luft, weniger Lärm und weniger Stau ist Radverkehr ein Schlüssel. Aber der Senat agiert nicht mit Überbügeln, sondern im gesellschaftlichen Prozess.

Das heißt, das Beste kommt noch?

Pfaue: Auf jeden Fall. Kopenhagen hat sich in den 70er-Jahren aufgemacht, aber es hat bis in die 2000er gedauert. Der Veloroutenausbau wird sich in den kommenden Jahren entfalten. Diese Zeit sollte man dem Riesenprojekt geben.

Lau: Solange man sein Handeln von rückwärtsgewandter Panikmache vor Veränderungen wie dem Abbau von Parkplätzen bestimmen lässt, wird man die Verkehrs- und Umweltprobleme Hamburgs nicht lösen.

Ist es denkbar, in Hamburg ganze Straßen oder die City für den privaten Autoverkehr zu sperren wie in anderen Metropolen?

Pfaue: Wir setzen auf den Netzausbau und beziehen den Radverkehr bei allen Baumaßnahmen ein. Das ist Systematik, die ohne große Symbole auskommt, aber lange, zusammenhängende Radstrecken und damit ein sehr gutes Angebot schafft. Ich finde diesen Hamburger Weg zielführend und überzeugend, weil wir nicht spalten, sondern ein modernes Verkehrskonzept anbieten wollen. Dafür brauchen wir keinen Umsturz, sondern den gesellschaftlichen Wandel.

War das nicht versöhnlich, Herr Lau?

Lau: Wir wollen auch keinen „Umsturz“, sondern den Wandel Hamburgs hin zu einer lebenswerten Stadt – mehr Radverkehr ist besser für alle, für die Menschen, für die Umwelt. Dazu braucht es den politischen Mut, den individuellen, „faulen“ Autoverkehr unattraktiver zu machen, so, wie es sich andere Metropolen trauen. Davon profitiert auch der notwendige Autoverkehr. Warum fangen wir nicht an und machen die City autofrei?

Pfaue: Hamburg setzt auf Angebote, nicht auf Verbote.

Also finden wir doch nichts Versöhnliches?

Lau: Doch, die Idee von Velorouten als Rückgrat des Alltagsradverkehrs ist gut und sinnvoll. Mit Radschnellwegen ins Umland eröffnen sich noch mehr Chancen. Man müsste beim Ausbau nur deutlich mehr Platz für Radfahrer einplanen, dann würden wir auch nicht ständig meckern müssen.

Pfaue: Und wir nehmen die Hinweise des ADFC auch immer sehr ernst.