Hamburg. Vor neun Jahren gab die Soul-Königin ihr letztes Hamburg-Konzert. Am Dienstag stellte sie das Musical ihres Lebens im Mojo Club vor.

Der Platz vor den Tanzenden Türmen über dem Hamburger Mojo Club ist schon bei „normalem“ Wetter die zugigste Ecke der Stadt, am Dienstag hingegen ist sogar der erste Herbstorkan nicht so mächtig wie der stürmische, minutenlange Applaus, als Tina Turner (78) auf die Mojo-Bühne kommt. Sie möchte nur kurz die frisch gekürte Hauptdarstellerin vorstellen, die sie vom 3. März an nebenan im Operettenhaus in „Tina – Das Tina Turner Musical“ sozusagen „vertreten“ wird.

Aber die 200 Medien- und Branchenvertreter, Verlosungsgewinner, Gäste sowie Musical-Regisseurin Phyllida Lloyd wissen, dass diese 15 Minuten alles andere als alltäglich sind. Tina Turner strahlt gerührt und erzählt Döntjes: „Endlich habe ich mal was von der Stadt gesehen. Den Hafen und die vielen großen Schiffe. Ich sagte zu meinem Mann, dass die mir ein bisschen Angst machen.“ Und lacht. Früher habe sie bei ihren Besuchen in Hamburg nur Hotels, Wagen, Backstageräume und die Bühne gesehen.

Früher. Es ist neun Jahre her, dass Tina Turner zuletzt in Hamburg war. Und doch sind es Eindrücke aus einer anderen Zeit: Im Januar und Februar 2009 gastiert Turner drei Abende lang in der ausverkauften Colorline-Arena, die seitdem mehrmals den Namen gewechselt hat wie das Volksparkstadion nebenan, in dem Turner 1987, 1996 und 2000 aufgetreten ist. Die Tournee im Jahr 2000 sollte eigentlich ihre letzte Konzertreise zu ihrem letzten Studio­album „Twenty Four Seven“ gewesen sein, aber dann wollte sie es doch noch einmal wissen. Und die Comeback-Tour 2008 und 2009 zu ihrem 50. Bühnenjubiläum wurde zu einem Triumphzug. Allein in Deutschland mussten zu den geplanten sieben Auftritten zehn Zusatzkonzerte gebucht werden, um der Nachfrage Herr zu werden. Am Ende waren es 1,2 Millionen Fans, die zu den mehr als 80 ausverkauften Shows in Nordamerika und Europa pilgerten.

Tinas Hamburger Konzert 2009 war ein Triumph

Tina war zurück. Mit „Get Back“ von den Beatles begann der erste von drei denkwürdigen Abenden in Hamburg. „Steamy Windows“ dampfte aus den Boxen, Turner, damals 69, stakste auf turmhohen Absätzen in silbernen Leggins mit ihrem berühmten Storchenschritt über die gigantische, mit opulenten Effekten, Hebebühnen und Schwenkrampen aufwartende Bühne. Der Saal rastete kollektiv aus und beruhigte sich drei Stunden lang nicht, während Tina sich durch 50 Jahre Popgeschichte sang, schrie, gurrte, schmachtete, flüsterte. „River Deep – Mountain High“, „What’s Love Got To Do With It?“, „Private Dancer“, „Golden Eye“, „The Best“, „Proud Mary“, „Nutbush City Limits“. Und zuletzt ein Song wie eine Bitte: „Be Tender With Me Baby“. Sei zärtlich zu mir.

Denn so furios sie auch über die Bühne wirbeln mochte, hinter dem Vorhang fiel es ihr von Abend zu Abend schwerer, die „Acid Queen“ zu geben, die Königin des Soul, die Königin des Rock, die Königin des Pop. „Nach dem letzten Konzert war mir klar, dass es das jetzt wirklich war, für immer“, blickte sie kürzlich in einem Interview mit der „Zeit“ auf ihre finale Show am 5. Mai 2009 in Sheffield zurück. Die Ironie wollte es, dass sich Tina acht Monate lang völlig verausgabte, um begeisterten Kritikern Sätze wie „Seht mich an! Ihr müsst keine Angst vor dem Alter haben“ zu entlocken.

Tina Turner zog sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück

In den Folgejahren zog sich Tina Turner weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und lebte fernab des Showgeschäfts mit ihrem deutschen Manager und späteren Ehemann Erwin Bach im Château Algonquin in Küsnacht am Zürichsee. Statt Rock ’n’ Soul sang die Buddhistin spirituelle, buddhistische und christliche Gesänge auf drei Alben des „Beyond“-Projekts, engagierte sich für den Sterbehilfe-Verein „Exit“ und wurde 2013 Schweizer Staatsbürgerin. Aber ein Leben in Ruhe war ihr nach wie vor nicht beschieden, wie in der gerade erschienenen neuen Autobiografie „My Love Story“ zu lesen ist, dem Nachfolger von „I, Tina“ aus dem Jahr 1986.

Darin erfährt der Leser nicht nur die viel erzählte, immer noch erschütternde und doch bewegende Geschichte ihrer Beziehung zu ihrem ersten Ehemann und genialen musikalischen Partner Ike Turner, der 2007 mit 76 an einer Überdosis Kokain starb, und von ihrer Trennung von Ike und dem harten Karriere-Neuaufbau mit 36 Cent in der Tasche in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren, sondern auch, wie es Tina Turner seit ihrem Rückzug vom Rampenlicht erging. Leider nicht so gut, wie man es dieser Frau nach so vielen Erfolgen und Verdiensten wünscht. Drei Wochen nach ihrer Hochzeit mit Erwin Bach im Jahr 2013 erlitt sie einen Schlaganfall und musste das Gehen und Sprechen neu erlernen.

2017 benötigte Tina Turner eine neue Niere

2016 wurde Dickdarmkrebs diagnostiziert, und 2017 benötigte sie eine neue Niere – Erwin Bach war der Spender. Tina Turner nennt es sarkastisch ihre „Krankheits-Seifenoper“, die vor wenigen Monaten noch mit einem Sturz und doppeltem Beckenbruch ergänzt wurde. „Ich lerne gerade zum dritten Mal in meinem Leben laufen“, sagte Turner. Und im Juli 2018 nahm sich Tina Turners Sohn Craig aus unbekannten Gründen das Leben. 1958 geboren, aus einer Liaison mit dem Saxofonisten Raymond Hill stammend und von Ike Turner adoptiert, erschoss er sich mit einer Waffe, die er von Tina Turners Mutter geerbt hatte.

Doch obwohl Tina Turner Rückschlag nach Rückschlag überstehen musste, ist sie an diesem verregneten, ungemütlichen Dienstag nach Hamburg gekommen. Ihr Mann hatte gespürt, dass Tina Turner eine Aufgabe brauchte, und das Engagement für „Tina – Das Tina Turner Musical“ war und ist eine Aufgabe, zu der sich Turner seit 2016 erst widerwillig überreden ließ, die sie aber doch wie immer anging: professionell und aufrecht.

Warum das alles? Tina Turner ordnet ihr Vermächtnis für die Nachwelt, und eine Show, die ihren Namen trägt, gehört dazu, „weil mir klar geworden ist, dass ich dem Ende näher komme. Wenn es irgendetwas gibt, das man von Tina Turner erinnern soll, dann muss ich mich jetzt darum kümmern“, wie sie im „Zeit“-Interview sagte.

„Was wollen wir singen?“, fragt Tina Turner im Mojo

Und so blickt sie wie bei ihrem letzten Auftritt in Hamburg vor neun Jahren wieder in Blitzlichter, hört den Jubel. Die Frau mit dem Beckenbruch scherzt und tänzelt sogar kurz, bevor sie „Tina“-Darstellerin Kristina Love vorstellt und ihren Segen gibt. „Was wollen wir singen, ,Proud Mary‘ oder ,The Best‘ oder beides?“, fragt Tina, und plötzlich kommt eine komplette Band inklusive dreier „Ikettes“ auf die Bühne.

Die ersten Takte von „Proud Mary“ erklingen, Tina und Kristina wiegen sich, summen, grooven sich ein. Im Publikum hört man ein ergriffenes Schluchzen. Aber ein harter Akkord knallt, Tina Turner zuckt erschrocken zusammen und überlässt Kristina Love die Bühne. Im Halbdunkel sitzt Tina auf einem Stuhl und lächelt. Alles nur Show. Von der Besten.