Hamburg. Feilschen und futtern zu später Stunde in der Ottenser Fabrik. Wegen großen Andrangs musste der Zugang zeitweise gesperrt werden.
Die Ansage erfolgt um 20.25 Uhr: „Bitte alles dichtmachen, Mike.“ Der Ordner am Haupteingang der „Fabrik“ reagiert prompt. Charmant, indes bestimmt, teilt das sanftmütige Kraftpaket den Wartenden mit, dass leider nichts mehr geht. Absolut gar nichts mehr.
Unmittelbar nach Eröffnung des spätabendlichen Flohmarktes ist der Andrang auf beiden Etagen des Kulturzentrums in Ottensen dermaßen groß, dass noch mehr Gedränge nicht zu verantworten wäre. Folglich wird nur – kostenfreien – Eintritt gewährt, wenn andere das Gebäude verlassen. Zug um Zug. Die Schlange reicht bis zur Bahrenfelder Straße. Ein Segen, dass die Luft lau ist. Wilde Händler auf dem Vorplatz profitieren vom Andrang.
Zu der Zeit sind Paulina und Toni drinnen schon mächtig in Schwung. Die Schwestern haben alle Hände voll zu tun, an ihrem Stand inmitten des Erdgeschosses alles im Griff zu behalten. Auch hier ist der Zuspruch enorm. Beider Freunde Felix und Lenny haben sich aufgemacht, aus dem Restaurant in Etage eins Wraps mit Hühnerfleisch und Salat zu organisieren. Man muss Prioritäten setzen. Es gilt Nerven zu bewahren und Kraft zu tanken für die kommenden Stunden. Denn dieser Nachtflohmarkt, das sagt der Name, klingt erst zur Geisterstunde aus.
Zum fünften Mal im Frühjahr
Bis dahin haben Handel, Hökern und Klönschnacks Hochkonjunktur. Insgesamt 1600 Besucher und mehr als 100 Aussteller feiern am späten Sonnabend eine Verkaufsparty der besonderen Art. Bewusst ist die Beleuchtung in der „Fabrik“ gedämpft; Musik belebt das Geschäft. Zum vierten Mal wird dieses Ereignis veranstaltet. Durchgang fünf ist für das Frühjahr 2019 geplant. Die nächtliche Variante rundet ein Paket von etwa ein Dutzend „Fabrik“-Flohmärkten im Jahr ab. Auch Angebote für Kinder und Musikliebhaber gehören dazu.
Doch zurück zu Paulina und Toni: Mittlerweile sind die Jungs mit den Wraps zurück. Vor dem vier Meter langen Stand (Gebühr zwölf Euro pro Meter) staut es sich. Paulina, Modetrend- und Markenmanagementstudentin in Hamburg, und Toni, Lehramtsstudentin aus Braunschweig, können jeden Euro gut gebrauchen. Umso besser, dass die Mutter und die Großmutter Präsenz zeigen. Im Angebot befinden sich Schuhe, Modeschmuck, DVDs, CDs, eine Kaffeemaschine, Klamotten, Klamotten und noch mal Klamotten. Erstaunlich, was die 20 und 22 Jahre alten Schwestern in ihren Schränken verwahrten. Was bis Mitternacht nicht verkauft ist, wird an eine soziale Organisation gespendet.
„Bei den beiden letzten Nachtflohmärkten lagen die Einnahmen jeweils zwischen 300 und 400 Euro“, ruft Paulina. Der Lärm ist ohrenbetäubend. So soll’s sein. Ein bisschen wie auf einem orientalischen Basar. Irgendwie schaffen es die beiden jungen Frauen, gleichzeitig Preise zu nennen, zu verhandeln, zu kassieren, Rede und Antwort zu stehen. Und Wraps zu essen. Zwei quicklebendige Naturtalente. Um den Umsatz zu befeuern, lockt Hochprozentiges: Für mehr als zehn Euro Umsatz wird ein Shot kredenzt. „Berliner Luft“ heißt der Drink, ein Pfefferminzlikör. Gefiel einem so gut, dass er die ganze Pulle kaufen wollte. Die Damen lehnten ab.
Piratenbilder, Perücken und Schnupftabak
Allerorten gute Stimmung. Da gewerbliche Händler und Kunsthandwerker draußen bleiben müssen, ist das Angebot vielseitig. Es gibt fast alles: Perücken, Zinkkrüge, Messingleuchter, altes Spielzeug, Kugelbahnen, hochhackige Stiefel, verwegene Hüte. Selbst ein Ölgemälde mit Piratenmotiv, Schlittschuhe oder Schnupftabakdosen werden feilgeboten. Einer der attraktivsten und besonders liebevoll arrangierten Stände hinten backbords haben Julia, Nicola und Claus aufgebaut. Schönheitssinn vom Feinsten. Im Foyer sind Viva con Agua sowie Hamburg Leuchtfeuer im Einsatz.
Die meisten Besucher sind unter 35 Jahre alt. Und die Frauenquote fällt stark aus. Flirten bringt zwar keinen Umsatz, aber Gewinn. Und Spaß. Ein Kunststück, in dem geschäftigen Gewusel klaren Kopf zu behalten. Natalie Mycroft-Kutz und ihre Mutter Christel Mycroft schaffen es bravourös. Das Team arbeitet seit 40 beziehungsweise 25 Jahren in der „Fabrik“.
Feilschen und futtern
Natalie, die hier von allen ausschließlich „Nats“ gerufen wird, kümmert sich sonst um den Kartenvorverkauf im Kulturzentrum. Aber Flohmärkte, das ist ihr Leben. „Wir könnten viel mehr Nachtflohmärkte ausrichten“, verrät sie. Dagegen sprechen zahlreiche andere Wochenendveranstaltungen vor Ort. Außerdem, das weiß jeder Höker, erhöht ein geringes Angebot die Nachfrage. Wo sonst in Hamburg stehen Leute klaglos eine halbe Stunde Schlange, um Zutritt zu einem Flohmarkt zu erhalten?
Wer genug geguckt und gefeilscht hat, kann sich an den Buden im Erdgeschoss versorgen oder im Restaurant oben Platz nehmen. Es gibt nicht nur Wraps, sondern auch Weißwürste, Frikadellen, Kartoffelsalat, Night Hot Dogs oder Bier der Marke Bayreuther Hell.
Melanie und Pessi haben Cremant gebunkert
Melanie und Pessi schätzen es eine Nuance vornehmer. An ihrem sieben Meter langen Stand steuerbords in der Halle haben sie Cremant gebunkert. Exklusiv für den Eigenbedarf. Die Mitstreiter Christian und Andreas, letzterer hauptberuflich ein Arzt, halten sich lieber an Brause und Bier.
Die beiden Frauen offerieren gut und gerne 250 Teile aus ihrem privaten Fundus. Erstaunlich. Entsprechend liegt die dicht gedrängte weibliche Kundenquote fast bei 100 Prozent. „Ein unfassbar heißes Teil“, empfiehlt die Diplom-Modedesignerin Melanie temperamentvoll. „Stammt ursprünglich aus der ABC-Straße.“ Tatsächlich sind sechs Euro für ein „Fast-Nichts“ von Abendkleid praktisch geschenkt. „Macht nichts“, sagt Melanie. „Mein Dachboden ist leer, es bringt Spaß, und ich freue mich, wenn meine Lieblingsstücke von früher in gute Hände kommen.“ Höchste Zeit mithin für ein weiteres Schlückchen Cremant.