Hamburg. Im CityScienceLab finden Wissenschaftler an großen „Touchtischen“ digital und interaktiv Lösungen für die Planung der Stadt.

Der Raum erinnert an ein Labor: Das Licht ist schummrig, nur die riesigen Monitore leuchten. Die Wände sind aus rohem Beton, Leitungen und Lüftungsanlagen hängen offen unter der hohen Decke. Die Schreibtische im Nebenraum stehen dicht an dicht, die Chefin sitzt mittendrin, der Blick fällt durch die Fenster auf die Überseeallee. Ein Labor ist das CityScienceLab in der HafenCity Universität (HCU) tatsächlich – ein Labor für Stadtentwicklung. An großen „Touchtischen“ wird hier Hamburgs Zukunft geplant.

Ob Groß Borstel oder Bergedorf, die Neue Mitte Altona oder das künftige Quartier auf dem Grasbrook, ob Verkehr, Nahversorgung, Lärm oder Energieverbrauch: An den Modellen lassen sich die Effekte der Planung vorausberechnen und intelligente, abgestimmte Lösungen finden. Digital und interaktiv, anhand detaillierter Daten und oftmals mit Beteiligung der Bürger.

Der nächste Klick: Die Versorgung mit Kitaplätzen ist zu sehen

Hier wird Stadtplanung neu gedacht. „Das ist ein Paradigmenwechsel“, sagt Prof. Gesa Ziemer, Direktorin des CityScienceLab. „Man denkt ganz anders über Stadt nach, wenn man dies auf Basis einer riesigen Datenbasis machen kann.“ Und die Datenbasis, auf die die Wissenschaftler zugreifen können, ist gewaltig. Sie wird unter anderem bereitgestellt vom Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung (LGV) oder ist im Transparenzportal der Stadt Hamburg hinterlegt.

Wenn Stadtteile neu entstehen oder die städtischen Angebote verbessert werden sollen, kommen die Behördenvertreter häufig an die Überseeallee. Beispiel Groß Borstel: Der ganze Stadtteil liegt auf einem großen Monitor flach vor den Wissenschaftlern und Fachleuten. Die digitale Karte ist mit Symbolen übersäht. Die stehen für Schulen und Kindergärten, Geschäfte und Apotheken. Auf Knopfdruck werden farbig straffiert die Grünflächen angezeigt. Der nächste Klick – und Fahrradrouten, Buslinien und Straßen erscheinen. Wie ist die Versorgung der Groß Borsteler mit Kitaplätzen? Wie gut ist das Viertel verkehrlich angebunden? Und vor allem fragen die Wissenschaftler beim Projekt „Cosi“ (Cockpit Städtische Infrastruktur) des Urban Data Hubs in Zusammenarbeit mit dem LGV: Wie ändert sich die Versorgung, wenn das Viertel mit dem Bauprojekt Tarpenbeker Ufer und der Ansiedlung einer großen Flüchtlingsunterkunft rund 2500 neue Bewohner hinzubekommt? Wo müssen neue Angebote entstehen? Bleiben ausreichend Grünflächen bestehen?

Das Wissenschaftsprojekt wuchs und wuchs

Der nächste Klick und die Versorgung mit Kitaplätzen pro Kind im Kindergartenalter ist zu sehen. In Groß Bors­tel liegt sie bei 1,15, in Alsterdorf bei 1,32, in Winterhude nur bei 0,89 und in Eppendorf sogar lediglich bei 0,6. Auf der sogenannten „Heatmap“, auf der mit Kita-Plätzen besonders gut versorgte Stadtteile feuerrot markiert sind, zieht sich die rote Wolke von Ottensen um die Alster herum.

Die Entstehung des CityScienceLab geht auf eine Delegationsreise des früheren Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD) in die USA zurück. Am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Boston sah Scholz die City Scopes genannten Modelle zur digitalen Planung städtischer Entwicklung – und wollte sie für Hamburg haben. Aber nicht als teure Dienstleistung vom MIT, sondern in Form einer Kooperation, zu der Hamburg mit einer Unterstützungsförderung für beide Institutionen von 1,2 Millionen Euro für drei Jahre beiträgt. Schnell war klar, dass die HCU als Uni für Metropolenforschung die richtige Heimat für die innovative Technik ist. Kaum war das interaktive Stadtmodell 2015 da, wurde es in der Hochzeit der Flüchtlingszuwanderung 2016 im CityScienceLab der HafenCity Universität für das Projekt „Finding Places“ genutzt, um Bürger in die Suche nach geeigneten Orten für die Unterbringung von Flüchtlingen einzubeziehen. „Technisch war das für uns eine Herausforderung“, erinnert sich Ziemer. „So etwas gab es bisher nicht.“ In nur neun Wochen rüstete sie – damals unterstützt von Studenten und nur wenigen Mitarbeitern – das Modell für die Standortsuche von Flüchtlingsunterkünften. Am Ende gewann das CityScienceLab damit für Hamburg die EU-Auszeichnung „Good Practice City“.

Große Aufgaben im CityScienceLab

Das Wissenschaftsprojekt, das wie ein Start-up begann, wuchs und wuchs. Aus den Stadtmodellen, bei denen die Infrastruktur wie am MIT mit weißen Legosteinen und Farbcodes abgebildet wird, wurden die digitalen „Touch“-Tische. Aus einem wurden 14 Projekte, mit denen das Team vom ScienceCityLab – Informatiker, aber auch Kulturwissenschaftler und Stadtplaner – beschäftigt ist. Sie sind allesamt extern finanziert. „Digitale Planung wird zu einem Riesenthema; wir schreiben laufend Anträge und haben eine hohe Trefferquote“, sagt Ziemer. Die deutsch-schweizerische Doppelbürgerin ist von Haus aus eigentlich Philosophin – eine ungewöhnliche Karriere. Sie kam 2012 an die HCU, hat eine Professur für Kulturtheorie und ist Vizepräsidentin Forschung der Hochschule.

Die Möglichkeiten in ihrem CityScienceLab sind so groß wie die Aufgaben. An einem anderen Digital-Tisch hilft ein LocationFinder, der vorerst ein Prototyp ist, bei der Standortsuche. Beispielsweise für ein Kongresshotel mit 1000 Betten, einem Konferenzsaal und folgenden Vorgaben: Es soll nicht mehr als acht Kilometer vom Flughafen entfernt sein, mindestens 20.000 Quadratmeter Nutzfläche bieten, Restaurants in der Nähe haben, in höchstens zehn Minuten zu Fuß von einer U- oder S-Bahnhaltestelle zu erreichen sein, auf einer bisher unbebauten Fläche entstehen, und das Baurecht muss vorhanden sein. In kürzester Zeit ermittelt der Algorithmus elf denkbare Standorte, deren Qualität sich zudem anhand von spinnennetzartigen Grafiken gut vergleichen lässt. „Das ist viel effizienter, als sich durch Datenbänke zu wühlen“, sagt Prof. Ziemer. Hinzu kommt: Wenn die Investoren und Stadtplaner, Behördenvertreter und Wissenschaftler um den Digitaltisch herumstünden, die verschiedenen Darstellungen anklickten und immer wieder Parameter veränderten, kämen sie ganz anders miteinander ins Gespräch, und es werde ihnen selbst klarer, wo ihre Prioritäten liegen, ergänzt Wirtschaftsinformatiker Till Degkwitz.

2019 zieht das CityScienceLab in größere Räume

Das gilt auch für Politik und Verwaltung, die häufig im CityScienceLab zu Besuch sind. Staatsräte und Bezirksmitarbeiter, Fachleute aus der Schul-, der Stadtentwicklungs- oder der Gesundheitsbehörde versammeln sich dann um die „Touch“-Tische, probieren aus, diskutieren, verwerfen. „Wir bieten die Werkzeuge“, sagt Ziemer. „Die Lösungen müssen die Fachleute erarbeiten.“ Um die Verbindung zwischen Wissenschaft und Verwaltung werde Hamburg beneidet. So waren auch Vertreter anderer Bundesländer da, um sich das ScienceCityLab anzusehen. „Dies ist die Zukunft der Stadtplanung“, glaubt Ziemer, und die Hansestadt sieht sich als Vorreiter. „Hamburg kann Modellstadt sein für die Digitalisierung der Verwaltung und digitale Planung.“

Dabei werden oft auch Bürger einbezogen. Zusammen mit der Stadtwerkstatt in der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen und dem LGV arbeitet das CityScienceLab an einem digitalen System zur Bürgerbeteiligung. Einen ersten Praxistest erlebte das ‘Digitale Partizipationssystem’ DIPAS kürzlich bei der Entwicklung eines neuen Leitbilds für den Bezirk Bergedorf. Während bei Bürgerworkshops bislang noch analog mit Fähnchen gearbeitet wird, können die Wünsche der Bergedorfer online und auch digital vor Ort am „Touch“-Tisch eingegeben und miteinander – und mit einer Vielzahl verfügbarer Daten – in Beziehung gesetzt werden. Was sich die Bürger wünschen? Der Klick auf die Symbole auf der Karte gibt Antworten: Blumen auf dem Bahnhofsvorplatz, eine bessere Ampelschaltung, um vom Schleusengraben zu Fuß ins Zentrum gehen zu können, die Ansiedlung eines Handwerkerhofs anstelle eines weiteren Möbelmarkts im Gewerbegebiet

In Vorbereitung ist im Science City Lab ein „Touch“-Tisch, der bei der Planung des neuen Stadtteils auf dem Grasbrook in Zusammenarbeit mit der HafenCity GmbH helfen soll – ein Projekt mit riesigem Potenzial für die Hamburger Stadtentwicklung, aber genauso großen Herausforderungen. Allein schon die Insellage stellt die verkehrliche Erschließung vor Probleme. Dann die unterschiedlichen Ansprüche von Wohnungsbau und Hafenwirtschaft. Auch müssen die Menschen, die dort leben sollen, vor dem Lärm der Hafenbetriebe geschützt werden. Und schließlich wird der neue Stadtteil mitten hineingesetzt zwischen die schicke neue HafenCity und das alte Arbeiterviertel auf der Veddel. Klar ist schon jetzt, dass nicht für alle künftigen Bewohner ein Parkplatz bereitgestellt werden kann – der Grasbrook soll zu einem Modellstadtteil in Sachen Verkehr werden. Aber wie bindet man ihn am geschicktesten an? Wie viele Geschäfte braucht das Viertel, wie viele Kitas und Schulen? Wie müssen Straßen und Plätze gebaut werden, damit das Viertel wie geplant vollständig barrierefrei sein kann? In welcher Form kann der Radverkehr von vornherein breiten Raum bekommen? „Wir fangen gerade an, Daten zu sammeln und unsere Werkzeuge zu entwickeln“, sagt Ziemer.

Längst sind die 300 Quadratmeter großen Räume in der HCU zu eng geworden für die mittlerweile rund 30 Mitarbeiter und die vielen Besucher. Deshalb soll das CityScienceLab Anfang 2019 ein paar Hundert Meter weiter an die Elbarkaden umziehen, nahe dem Maritimen Museum und der Greenpeace-Zentrale. Große Delegationen aus aller Welt – von Mexiko bis Australien, Indien bis Ägypten kommen, um sich anzusehen, wie in Hamburg Stadtentwicklung neu gedacht wird.

„Wir sind zu einem Showroom für digitale Stadt geworden“, sagt Ziemer. An den Elbarkaden werden der Showroom mit den Modellen, seine wachsende Mitarbeiterschaft und die Besucher dann rund 800 Quadratmeter Platz haben.

Die Zukunft des Wohnens mit Smarthouses, intelligente Verkehrskonzepte, die auf die Verknüpfung vielfältiger Mobilitätsformen setzen – an Forschungsfeldern für das CityScienceLab mangelt es nicht.

Weitere Möglichkeiten eröffneten sich, wenn es gelänge, bewegte Daten auf die Tische zu legen, zum Beispiel Echtzeitverkehr, um den Verkehrsfluss zu verbessern. Der LGV arbeitet bereits an der Bereitstellung der Echtzeitdaten. „Doch deren Sichtbarmachung“, sagt Ziemer, „ist noch Zukunftsmusik.“