Hamburg. 1300 freie Jobs – warum immer mehr Firmen gezielt nach älteren Mitarbeitern aus anderen Berufen suchen.
Mit mehr als 50 Jahren war Rautgundis Beutel trotzdem noch nicht die Älteste, als sie vor drei Jahren ihre Ausbildung zur Altenpflegerin bei „Pflegen & Wohnen“ begann. „Ich wollte noch einmal etwas Neues anfangen und suchte einen sicheren Job“, sagt Beutel, die erst seit wenigen Tagen als examinierte Altenpflegerin in einer Pflegeeinrichtung in Altona arbeitet, die sie bereits von ihrer Ausbildung kennt. „Die dreijährige Ausbildung war anspruchsvoll, aber sie eröffnet mir auch ein breites Arbeitsspektrum“, sagt Beutel.
Im August haben erneut knapp 50 Berufseinsteiger eine Ausbildung bei „Pflegen & Wohnen“ begonnen. „Wir haben keine Probleme, über 40- oder 50-Jährige in die Ausbildung zu nehmen“, sagt Thomas Flotow, Geschäftsführer von „Pflegen & Wohnen“. „Auch unser diesjähriger Ausbildungsjahrgang ist altersmäßig gut gemischt, und wir profitieren auch von dieser Zusammensetzung.“ Rund ein Drittel ist älter als 30 oder 40 Jahre und kommt aus ganz unterschiedlichen Berufen. So wie Rautgundis Beutel. „Vorher habe ich freiberuflich als Kostümbildnerin beim Fernsehen gearbeitet“, sagt die 54-Jährige.
1300 Stellen bei Indeed allein für Hamburg
Quereinsteiger sind nicht nur in der Altenpflege gefragt. Angesichts des Fachkräftemangels öffnen sich immer mehr Unternehmen für diese Zielgruppe. „Wir versuchen seit zwei bis drei Jahren unsere Stellenausschreibungen offener zu gestalten, um mehr potenzielle Bewerber anzusprechen“, sagt ein Sprecher des Hamburger Kaffee- und Handelsunternehmens Tchibo. Denn Fachkräfte sind auch in der Lebensmittelverarbeitung sehr rar.
Behörde lobt 100 Euro Prämie für neue Mitarbeiter aus
Das internationale Jobportal „Indeed“ listet allein für Hamburg knapp 1300 Stellen für Quereinsteiger auf. Andere Jobbörsen wie Stepstone werfen unter dem Suchbegriff Quereinsteiger Hunderte Jobs aus, die in Hamburg zu besetzen sind. Als Quereinsteiger gilt, wer einen Beruf gelernt hat und dann in eine Branche wechselt, für die er keine Ausbildung hat. Je nach Branche kann die neue Tätigkeit schnell während der Arbeit erlernt werden oder es ist eine weitere Qualifizierung notwendig, die der neue Arbeitgeber, das Arbeitsamt oder das Jobcenter übernehmen. „Im vergangenen Jahr haben wir 1660 Jobsuchende durch Qualifizierung in einen neuen Beruf gebracht und so ihre Arbeitslosigkeit beendet“, sagt Sönke Fock, Chef der Arbeitsagentur Hamburg. Wer gute Vorkenntnisse hat, kann innerhalb von zwölf Monaten zu einem neuen Berufsabschluss kommen. Im vergangenen Jahr wurden solche Qualifizierungen von Arbeitsagentur und Jobcenter in knapp 60 Berufen angeboten wie Kauffrau im Einzelhandel, Erzieherin, Fachlagerist, Mechatroniker, Koch, Bürokauffrau oder Florist.
Doch der Quereinstieg ist kein Selbstläufer
„Wer als Erwachsener noch einmal auf die Schulbank muss, braucht ein gefestigtes Umfeld, schulische Grundkompetenzen und sehr viel Motivation“, sagt Fock. Der Einstieg in die Altenpflege ist besonders anspruchsvoll. „Nur wer schon Pflegeassistent ist, kann die Ausbildung von drei auf zwei Jahre verkürzen“, sagt Flotow. Die frischgebackene Altenpflegerin Rautgundis Beutel hat drei Jahre lang die Pflegeschule besucht und viele praktische Erfahrungen etwa im Hospiz oder mit Wachkomapatienten gesammelt. „Ich habe richtig viel gelernt, auch wenn ich den Aufwand am Anfang etwas unterschätzt habe“, sagt sie.
In der Regel geht der Wechsel in einen neuen Beruf aber schneller. Bei der Hamburger Hochbahn können Interessenten, die den Pkw-Führerschein haben, innerhalb von drei Monaten Busfahrer werden. Sie erhalten vom ersten Tag an das Brutto-Einstiegsgehalt von 2262 Euro. Innerhalb eines Jahres kommen Jobwechsler bei der Deutschen Bahn (DB) zu einem neuen Beruf. Sie ist einer der größten Arbeitgeber für Quereinsteiger in Hamburg und hat etwa 120 Jobangebote für diese Zielgruppe. „Da viele bahnspezifische Berufe schwer zu besetzen sind, haben wir interne, zielgruppenspezifische Ausbildungen konzipiert“, sagt eine Bahnsprecherin.
In fünf Monaten zum S-Bahn-Fahrer
In fünf Monaten werden Bewerber zum Rangierbegleiter oder in acht Monaten zum S-Bahn-Fahrer qualifiziert. Wer noch zwei Monate draufsattelt, ist dann Lokführer. „Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist neben der medizinischen und psychologischen Tauglichkeit Grundvoraussetzung für einen Quereinstieg“, so die Bahnsprecherin. Aktuell bietet die Bahn Funktionsausbildungen für zehn unterschiedliche Berufe an. Das Alter der Bewerber spielt keine Rolle. Besonders gesucht werden Quereinsteiger für den Bordservice, als Lokführer und Fahrdienstleiter. Verkehr, Logistik, Dienstleistungen, Einzelhandel und das Sicherheitsgewerbe sind die Branchen, die sich besonders stark für Quereinsteiger öffnen. „Sie bringen durch ihre Erfahrungen einen Perspektivenwechsel in das Unternehmen, von dem wir profitieren“, sagt Wiebke Spannuth, Sprecherin der Hamburger Drogeriemarktkette Budnikowsky. Mit Werbeplakaten in der U-Bahn sucht das Unternehmen nach Filialleitern als Quereinsteiger. „Der Zuspruch ist groß“, sagt Spannuth. „Denn Filialleiter können bei uns eigenverantwortlich und kreativ arbeiten.“ Bewerber müssen eine abgeschlossene Ausbildung haben und Führungserfahrungen mitbringen. Gefordert ist auch ein ausgeprägtes Zahlenverständnis. Auch Handelsketten wie Lidl oder Netto suchen nach Quereinsteigern für die Leitung ihrer Supermärkte.
Quereinsteiger können auch im akademischen Bereich punkten. Nach einer Studie des Hamburger Internetportals Gehalt.de bieten Unternehmensberatungen die besten Einstiegschancen für sie. Die Beschäftigten kommen aus 248 unterschiedlichen Stu- dienfachrichtungen. In dieser qualifizierten Dienstleistungssparte ist längst nicht mehr nur der BWL-Abschluss gefragt. Unternehmensberater haben Abschlüsse in Medizin, Lehramt, Mathematik, Psychologie oder Agrar- und Forstwissenschaften. „Die Vielfalt der Studiengänge verdeutlicht die branchenübergreifenden Fähigkeiten, die von Unternehmensberatern gefordert werden“, sagt Philip Bierbach, Geschäftsführer von Gehalt.de. Selbst Beschäftigte in der IT-Projektleitung kommen aus mehr als 200 unterschiedlichen Studienfächern. „Die Arbeit erfordert nicht zwangsläufig ein Informatikstudium, sondern Erfahrungen im Prozessmanagement“, sagt Bierbach. Auch im Personalwesen arbeiten viele Quereinsteiger, Juristen ebenso wie Sozialwissenschaftler oder Ingenieure.
In Hamburgs Schulen gibt es nur wenige Quereinsteiger
In Hamburgs Schulen sind Quereinsteiger weniger gefragt. Anders als in Berlin, wo an manchen Schulen jeder dritte Lehrer ein Quereinsteiger ist. „In der Regel gelingt es uns, Stellen mit fertig ausgebildeten Lehrern zu besetzen“, sagt Peter Albrecht, Sprecher der Behörde für Schule und Berufsbildung. Nur 2,5 Prozent der Neueinstellungen sind Quereinsteiger. Hamburg lege bei Lehrern großen Wert auf pädagogische und didaktische Fähigkeiten, heißt es.
Bei Rautgundis Beutel war die Arbeit als Kostümbildnerin für NDR und Studio Hamburg auch schon ein Quereinstieg. Zuvor hatte sie als Garderobiere gearbeitet, viel genäht und Spaß am kreativen Arbeiten. „Doch immer mehr Filmproduktionen sind nach Berlin abgewandert, ich wollte aber in Hamburg bleiben“, sagt Beutel, die nach dem Abitur Diplompädagogik studiert hatte, in dieser Fachrichtung aber nie gearbeitet hat. Ihren neuen Quereinstieg ist sie ganz pragmatisch angegangen. „Ich habe mich in der Nähe meiner Wohnung umgeschaut, welche Arbeitsmöglichkeiten es hier gibt.“ Ein Praktikum in der Altonaer Pflegeeinrichtung gab schließlich den Ausschlag. „Mir war schnell klar: Ja, das wollte ich machen.“ Besonders bewegt sie die Arbeit mit dementen Menschen. „Auf der emotionalen Ebene kann man bei diesen Patienten noch sehr viel erreichen.“