Hamburg. Vor 19 Jahren verschwand das Mädchen – nun gibt es einen neuen Zeugen, der damals etwas Verdächtiges beobachtet hatte.
Der Zeuge begleitet die Polizei im Morgengrauen in das Waldstück. In diesem Teil des Altonaer Volksparks müsse es gewesen sein, sagt er den Beamten; sie rücken mit mehr als 50 Bereitschaftspolizisten, Kriminaltechnikern, einer Psychologin, Spürhunden und Baggern an. Es flammt die Hoffnung auf, nach 19 Jahren die Lösung für eines der größten Rätsel in Hamburgs Kriminalgeschichte zu finden: den Fall Hilal Ercan.
Die damals Zehnjährige verschwand im Jahr 1999, als sie bloß eben Süßigkeiten nahe der Wohnung ihrer Eltern kaufen wollte. Um das Mädchen zu finden, wurde die damals größte Suchaktion seit dem Zweiten Weltkrieg ausgerufen. Vergeblich. Über Jahre vernahm die Polizei immer wieder Zeugen; der verurteilte Kinderschänder Dirk A. aus Osdorf legte erst ein Geständnis über den Mord an Hilal ab, wiederrief es jedoch kurz darauf. Das Schicksal des Mädchens, heißt es in Polizeikreisen, habe keinen der ermittelnden Beamten jemals losgelassen.
Neuer Zeuge nach „Cold Cases“-Aufruf
Der neue Zeuge meldete sich nun auf einen Aufruf der Abteilung „Cold Cases“ für ungelöste Verbrechen. Offenbar hatte er vor 19 Jahren etwas Verdächtiges in dem Waldstück beobachtet. Am Montag legen die Beamten den Waldboden auf zwei benachbarten Flächen mit einer Gesamtgröße von etwa einem Fußballfeld frei.
„Wir werden den Bereich zunächst mit Sondierungsstäben abgehen und später die Erdschichten abtragen“, sagt Polizeisprecher Ulf Wundrack am Montag vor Ort. Die Spürhunde schlagen bei der Suche mehrfach an. Die Beamten finden jedoch im Waldboden nur weggeworfene Plastiktüten und Kleidungsstücke, die sich zunächst nicht Hilal Ercan zuordnen lassen. Die Einsatzleitung entscheidet, den gesamten Bereich detailliert abzusuchen. Das Suchteam ist bis 2 Uhr am Dienstagmorgen im Einsatz. Dann wird die Suche vorerst beendet.
Schon einmal wurde die Leiche im Volkspark vermutet
Bereits vor 13 Jahren war die Leiche von Hilal Ercan in dem Gebiet an der Nansenstraße vermutet worden. Dirk A. galt damals als Hauptverdächtiger in dem Fall und gab zwischenzeitlich an, die Leiche des Mädchens im Volkspark verscharrt zu haben. Auch eine Reihe von Indizien belastete den Mann, wesentliche Details des Verschwindens von Hilal Ercan sind jedoch rätselhaft.
Polizei sucht nach Leiche von vermisster Hilal
Rückblick: Am Vormittag des 27. Januar 1999 kommt Hilal Ercan mit ihrem Halbjahreszeugnis aus der vierten Klasse nach Hause in die Wohnung ihrer Eltern an der Luruper Spreestraße. Als Belohnung für die guten Noten gibt Hilals Vater ihr eine D-Mark, um sich im Supermarkt des nahe liegenden Einkaufszentrums Elbgau-Passage etwas Süßes zu kaufen. Ein Beleg aus dem Kassensystem zeigt später, dass um 13.22 Uhr eine Packung Hubba-Bubba-Kaugummi verkauft wurde – ob das Mädchen zu diesem Zeitpunkt allein war, daran kann sich die Kassiererin später nicht mehr erinnern.
Reihe von Indizien belastet Kinderschänder Dirk A.
Ein Gemüsehändler will das Mädchen im Einkaufszentrum gesehen haben – weitere Zeugen gegen 13.30 Uhr auf dem Parkplatz an der Spreestraße, keine 100 Meter vor der Wohnung ihrer Familie in einem Hochhaus. Danach gibt es keinerlei Spur mehr zu Hilal.
Die damals gegründete Soko „Morgenland“ stößt im Jahr 2000 erstmals auf Dirk A. als möglichen Verdächtigen. Der Mann soll sich zuvor bereits an insgesamt sieben Kindern sexuell vergangen und ein Mädchen beinahe zu Tode gewürgt haben. Sein Schwager gibt dem gelernten Maler zunächst ein Alibi für den Tag des Verschwindens von Hilal Ercan – dieses wird von den damaligen Ermittlern nicht hinterfragt, wie die Polizei später einräumt.
Erst im Jahr 2005 wird Dirk A. in der forensischen Psychiatrie erneut und mehrfach von der Polizei vernommen. Er legt schließlich ein Geständnis ab und gibt an, die Leiche von Hilal Ercan im Altonaer Volkspark verscharrt zu haben. Beamte bringen ihn zu dem Waldstück, um sich den genauen Ort zeigen zu lassen; als dort ein Journalist auftaucht, bricht Dirk A. die Aktion jedoch ab. Später nimmt der psychisch gestörte Mann sein Geständnis zurück.
Dirk A. ist in der geschlossenen Abteilung
Genügend Beweise für eine Anklage lagen bislang nie vor. Dirk A. fuhr jedoch zur Zeit des Verschwindens von Hilal Ercan einen BMW, der zu der Zeugenbeschreibung einer Frau in dem vermissten Fall passte. Auch passte die äußerliche Täterbeschreibung von Zeugen grob mit dem Mann überein. Darüber hinaus soll er vor dem Verschwinden eine Weile im selben Haus wie die Familie von Hilal Ercan gewohnt haben.
Dirk A. ist bis heute in einer geschlossenen Abteilung im Haus 18 der Asklepios Klinik in Ochsenzoll untergebracht. Neben dem Mann wurde zwischenzeitlich der ebenfalls polizeibekannte Kinderschänder Joachim Q. verdächtigt, Hilal Ercan entführt und möglicherweise getötet zu haben. In den vergangenen Jahren gingen Ermittler auch der Frage nach, ob die rechtsextreme Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) für das Verschwinden des Mädchens verantwortlich gewesen sein könnte – jedoch ohne Ergebnis.
Polizei will gesamten Bereich durchkämmen
Die Hamburger Kripo hat den Fall nie beiseitegelegt. Steven Baack, der Chef der Abteilung „Cold Cases“ bei der Polizei, brachte im Januar dieses Jahres ein permanentes Schild mit der Bitte um Hinweise an dem Einkaufszentrum Elbgau-Passage an.
Die Suchaktion im Altonaer Volkspark dauerte in der Nacht zum Dienstag noch an. Am Abend wurde zusätzlich Personal und Gerät des Technischen Hilfswerks angefordert. Bis Mitternacht blieb die Suche ohne Erfolg. Dies müsse aber für die Ermittlungen nicht von Nachteil sein, hieß es aus Polizeikreisen. Die Einsatzleitung ging davon aus, dass die Arbeiten noch in der Nacht beendet werden können und das gesamte Gelände dann durchkämmt ist.