Als Neunjährige büßte Veronika Wolter fast ihr gesamtes Gehör ein. Sie kämpfte sich dennoch durch ihr Medizinstudium.
Eingebettet in dunklem Filz liegen in dem schmalen Etui elektronische Bauteile wie ein Soundprozessor mit Mikrofon, Spulen sowie ein Magnet mit hauchdünnen Elektroden. Dr. Veronika Wolter erklärt, wie sie das Implantat in das Knochenbett hinter dem Ohr einsetzen wird, einen Kanal durch den Schädelknochen zur Cochlea, zur Hörschnecke, bohrt, um dann – vorsichtig, ganz vorsichtig – die Elektroden einzusetzen. Und für einen Moment entstehen Assoziationen an den legendären Erfinder Q, der James Bond auf gefährliche Missionen im Auftrag des britischen Geheimdienstes vorbereitete.
In Wahrheit spielt die Szenerie an diesem sonnigen Morgen nicht in einem abgeschirmten Labor in London, sondern im ersten Stock der Asklepios Klinik Nord-Heidberg an der Tangstedter Landstraße. Die Oberärztin erklärt ein Cochlea-Implantat (CI). Und wahrscheinlich gibt es niemanden, der dies besser könnte als Veronika Wolter. Die 36-Jährige zählt zu den renommiertesten Cochlea-Implantat-Experten in Deutschland, viele solcher Innenohr-Prothesen hat sie in einer Klinik in München schon operativ eingesetzt.
Vor allem aber trägt die Medizinerin selbst zwei Implantate. „Vor Ihnen sitzt eine vollkommen taube Frau, ich höre nur über diese Prothesen“, sagt Veronika Wolter.
Eine Hirnhautentzündung löste die Hörschädigung aus
Wer begreifen will, wie Veronika Wolter trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer gesundheitlichen Einschränkung zu einer hoch spezialisierten HNO-Ärztin aufsteigen konnte, muss zurück in die frühen 1990er-Jahre. Nach Niederweimar, einem 2500-Seelen-Dorf, sechs Kilometer südlich von Marburg.
Die neunjährige Veronika aus einem behüteten Elternhaus gehört in der dritten Klasse zu den besten Schülerinnen. Doch dann wird sie krank, wochenlang bleibt sie mit hohem Fieber daheim. Sie nimmt die Außenwelt akustisch nur noch dumpf war, typisch für eine schwere Grippe. Doch als das Fieber abklingt, hört sie weiter schlecht. Bei Diktaten schreibt sie Sätze nach eigener Fantasie weiter, sie kann die Lehrerin kaum noch verstehen. Ärzte der Marburger HNO-Klinik diagnostizieren einen mittel- bis hochgradigen Hörschaden, ausgelöst durch eine Hirnhautentzündung. Keine Operation kann ihr Hörvermögen wieder völlig herstellen, die Haarzellen im Innenohr sind irreparabel geschädigt. „Ich will kein Hörgerät hinter dem Ohr, wie es Omas und Opas tragen. Ich brauche ein Im-Ohr-Gerät, das man kaum sieht“, fleht Veronika. Die Mediziner erfüllen den Wunsch, doch sie können an den engen Gehörgängen nichts ändern, ständig entzünden sich ihre Ohren.
Wie soll es nun weitergehen in der Schule? Kann sie es dort mit diesem Handicap schaffen? Eine Hörgeschädigten-Schule in der Nähe meldet sich: „Du kannst zu uns kommen. Bei uns tragen alle Kinder ein Hörgerät.“ Doch Veronika lehnt ab, sie will an ihrer Schule bleiben. Ihre Lehrerin bestärkt sie: „Wenn es jemand mit dieser Beeinträchtigung schaffen kann, dann du.“
Vielleicht ist es ein Glück, dass die Neunjährige nicht wissen kann, wie oft sie in den nächsten Jahren diese Entscheidung noch bereuen wird. Manche Kinder lachen sie aus, wenn sie Anweisungen der Lehrer nicht versteht: „Ich wurde gemobbt.“ Später, am Gymnasium, fordert der Englisch-Lehrer sie immer wieder auf, das „th“ zu sprechen. „Heute weiß ich, dass ich das mit meiner Schädigung gar nicht hören konnte, das ‚th‘ lag für mich in einem zu hohen Frequenzbereich“, sagt die Ärztin heute. Damals heulte sie Rotz und Wasser und fragte ihren Lehrer, warum er sie vor versammelter Klasse immer wieder bloßstelle. Seine Antwort: „Wenn du das nicht kannst, hast du auf dem Gymnasium eben nichts verloren.“
„Es war ein harter Weg, so oft ausgegrenzt zu werden“, sagt Veronika Wolter. Dass sie das Abitur dennoch mit Bravour geschafft hat, lag an ihrem Ehrgeiz („Wenn andere draußen gespielt haben, habe ich den Stoff mit ganz viel Lesen nachgeholt“) und guten Freundinnen, die sie nicht im Stich ließen, sondern ihr Zettel zuschoben, wenn sie im Unterricht nicht mehr mitkam.
Für das Medizinstudium entscheidet sie sich nach einem Besuch mit der Oberstufe in der Uni Marburg: „Keine andere Vorlesung fand ich so spannend.“ Sie studiert in Leipzig und Hamburg, absolviert Auslandssemester in den USA, der Schweiz und Italien. Das Fach fasziniert sie – nur ihr Hörvermögen nimmt immer weiter ab. Als weltweit dritte Patientin lässt sie sich in ihrer Verzweiflung ein komplettes Hörgerät implantieren, obwohl die völlig neue Technik noch nicht ausgereift ist. Der Akku versagt, eine weitere Nachoperation geht schief – Veronika Wolter droht die vollständige Taubheit. Mit eisernem Willen schafft sie dennoch ihren Abschluss, wechselt zum Deutschen HörZentrum (DHZ) Hannover, dem weltweit größten Zentrum für implantierbare Hörsysteme. Doch Kollegen weigern sich, mit ihr Nachtdienste zu machen. Veronika Wolter macht ihnen rückblickend keinen Vorwurf, im Gegenteil: „Stellen Sie sich vor, ich höre nicht, wie eine Krankenschwester ruft, dass ein Patient extrem blutet. Und der Mann stirbt dann.“ Die Klinik schlägt ihr vor, ins Controlling oder ins Labor zu wechseln – Abteilungen, wo keine direkte Kommunikation mit Patienten notwendig ist.
Doch Veronika Wolter will weiter als klassische Ärztin arbeiten. Sie entscheidet sich für die nächste Operation. Für Cochlea-Implantate. Wohl wissend, dass sie damit auch den Rest ihres Hörvermögens riskiert. Wer sich implantieren lässt, hört ganz anders. Ein auf der Ohrmuschel liegendes Mikro nimmt die Schallwellen auf, ein Prozessor verwandelt sie in digitale Signale. Diese Impulse stimulieren den Hörnerv. Das Gehirn lernt dann Sprache, Klang oder Geräusch zu differenzieren.
Wer Veronika Wolter heute, acht Jahre nach der Operation erlebt, kann kaum glauben, dass sie eine Hörschädigung hat. Sie versteht jedes Wort, spricht klar und deutlich, allein der geschwungene schwarze Sprachprozessor auf der Ohrmuschel sowie die Magnetspule zeigen, dass sie auf ein künstliches Innenohr angewiesen ist.
Das Hören mit einem Implantat muss neu gelernt werden
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass nicht jeder der inzwischen 45.000 Implantat-Träger in Deutschland so gut hört wie sie. „Ich hatte insofern Glück im Unglück, dass ich bis zu meinem neunten Lebensjahr keinerlei Probleme mit meinem Gehör hatte. Daher war meine zentrale Hörbahn zum Zeitpunkt der Schädigung bereits ausgereift. Betroffene, die früher ertauben, tun sich deutlich schwerer.“
Wie hart es ist, sein Gehör von analog auf digital umzuschulen, demonstriert Veronika Wolter an ihrem Computer. Aus dem Lautsprecher klingt eine verzerrte Stimme, unterlegt mit Piepen und Pfeifen. Erst nach mehrmaligem Hören kann man den Satz „Ist das Flugzeug gestartet“ erahnen. „So hören zunächst viele Implantierte“, sagt Wolter. Deshalb sei es mit der Operation allein nicht getan. Entscheidend seien die perfekte Anpassung des Sprachprozessors und das Hörtraining mit Spezialisten. Deshalb stellt Veronika Wolter als neue Leiterin des Hanseatischen Cochlea Implantat Zentrums (HCIZ) der Hamburger Asklepios Kliniken auch die Nachsorge so sehr in den Mittelpunkt.
Dr. Christoph Külkens, HNO-Chefarzt der Klinik, nennt die neue Ärztin „einen Glücksfall“ für sein Haus: „Da sie selbst betroffen ist, kann sie Patienten ganz besonders kompetent beraten.“
Wie schwierig die Entscheidung für oder eben gegen dieses Verfahren sein kann, zeigt ein aktueller Prozess in Goslar um ein gehörloses Kleinkind. Eine HNO-Fachklinik in Braunschweig sieht Implantate als einzige Chance, dass der eineinhalbjährige Junge hören und damit auch leichter sprechen lernt. Die Mediziner schalteten das Jugendamt ein. Die ebenfalls gehörlosen Eltern lehnten den Eingriff ab. Zum einen berge die Operation Risiken wie eine Schädigung des Gesichtsnervs, zum anderen könnten weder Eltern noch die ebenfalls hörgeschädigten Geschwister dem betroffenen Kind das Sprechen beibringen. Der Gehörlosenverband spricht sich strikt gegen eine Zwangsimplantation aus: „Insbesondere gehörlose Eltern könnten ihren gehörlosem Kind zahlreichere und bessere Lebenswerkzeuge einschließlich der Gebärdensprache vermitteln.“ Letztlich dreht sich alles um die Frage: Geht es einem gehörlosen Kind schlechter als einem Kind mit Gehör? Die Gebärdendolmetscher vom Reha-Institut der Berliner Humboldt-Universität sagen: „Der Wert des Hörens ist nicht der einzige Wert, der zählt. Ein hörgeschädigter Mensch ist kein Mensch mit Defiziten oder ein pathologischer Fall.“
Die Klinik lehnt Implantate gegen den Willen der Eltern ab
Chefarzt Külkens könnte jetzt von seinen Patienten berichten. Von Patienten wie Uwe U. (47), der als 18-Jähriger sein Gehör verlor und im HCIZ implantiert wurde. Uwe U. sagt: „Es ist wie neugeboren zu sein. Das klingt pathetisch, aber ich bin ein ganz anderer Mensch geworden.“ Aber Külkens respektiert dennoch jede Entscheidung gegen ein Implantat: „Taubheit ist schließlich nicht lebensbedrohend.“ Zwangsimplantate bei Kleinkindern lehnt er schon aus pragmatischen Gründen ab: „Wir brauchen das Engagement der Eltern bei der Nachsorge, beim Hörtraining.“
Womöglich taugt als Vermittlerin in dieser Frage niemand besser als Veronika Wolter. Sie kennt die Welten der Hörenden und Nichthörenden nur zu gut. Und sie weiß, dass in beiden Welten glückliche Menschen leben: „Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Mensch für sich entscheidet, weiter gehörlos zu bleiben.“ Auch deshalb wägt sie mit jedem Patienten Chancen und Risiken des Eingriffs gründlich ab: „Mir geht es überhaupt nicht darum, möglichst viele mit einem Implantat zu versorgen.“ Sie ist froh, dass es inzwischen nicht mehr ein Entweder-oder gibt: „Wir können jetzt auch Hybrid-Lösungen empfehlen, eine Kombination aus Implantat und Hörgerät.“
Doch auch modernste Technik kann den menschlichen Faktor nicht ersetzen. Veronika Wolter hatte das Glück, dass sie in einer Münchner Klinik für einen Chefarzt arbeitete, der – gemeinsam mit dem Integrationsamt – nicht die Probleme sah, sondern Lösungen: „Er hat etwa dafür gesorgt, dass für die Patienten und für mich der erste komplett schallisolierte Untersuchungsraum in einer deutschen HNO-Klinik gebaut wurde. Damit konnte ich Tag für Tag zusätzliche Höranstrengung einsparen und mit ihm gemeinsam ein neues CI-Versorgungszentrum aufbauen.“
Nach ihrem Wechsel nach Heidberg lebt sie nun mit ihrem Mann, einem Unternehmer, und dem gemeinsamen 18 Monate alten Baby östlich von Hamburg, die 20 Kilometer nach Heidberg fährt sie bei fast jedem Wetter mit dem Rennrad. Nachts legt sie den Sprachprozessor beiseite, ein Vibrationskissen, verbunden mit Babyfon, Wecker, Türklingel und Rauchmelder, weckt sie im Fall der Fälle. Auch im Urlaub schaltet sie mitunter im wahrsten Sinne des Wortes komplett ab, etwa wenn es am Pool zu laut ist, um konzentriert zu lesen.
Dann genießt Veronika Walter die vollkommene Stille.
Die Cochlea-Implantate
Der italienische Physiker Alessandro Volta wagte um 1800 ein Selbstexperiment und führte zwei mit einer Batterie verbundene Metallstäbe in sein Ohr ein. Er bemerkte „ein Rütteln in seinem Kopf“ und registrierte ein Geräusch – das Grundprinzip der Cochlea-Implantate war entdeckt. Aber erst 1957 wurde einem gehörlosen Patienten ein solches Implantat eingesetzt. inzwischen gilt die Implantation als Routineeingriff, Komplikationen sind sehr selten.
Standort des Hanseatischen Cochlea Implantat Zentrums (HCIZ) ist die HNO-Abteilung der Asklepios Klinik Nord Heidberg an der Tangstedter Landstraße 400. Partner sind die Asklepios-Kliniken Harburg, St. Georg
und Altona.
Kontakt: HNO.nord@asklepios. com, www.asklepios.com/hciz, 040/
18 18 87 30 55,