Spezialisten am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg setzen eine Prothese ein, die beide Ohren stimuliert - bisher waren dafür zwei Operationen nötig
Hamburg. Sie muss nie wieder von den Lippen lesen. Helga Boehmfeld ist deutschlandweit die erste Patientin, die ein Spezialimplantat erhalten hat, das trotz nur eines einzigen operativen Eingriffs sowohl das rechte, als auch das linke Ohr stimuliert. "Normalerweise benötigt man für die Versorgung beider Ohren zwei Operationen und zwei Implantate. Dank des beidseitigen Cochlea-Implantats können wir die Prozedur bei geeigneten Patienten nun auf einen Eingriff beschränken", sagt Dr. Thorsten Zehlicke, Hals-NasenOhrenarzt (HNO) am Bundeswehrkrankenhaus in Wandsbek.
Helga Boehmfeld hat diese Innovation neue Lebenskraft gegeben. Noch vor wenigen Monaten konnte die 79-Jährige so gut wie nichts mehr hören. Nach dem achten Hörsturz half auch das Hörgerät nicht mehr, das Boehmfeld seit ihrem ersten "Ohrinfarkt" 1990 stets getragen hatte. "Das Hören ist mit der Zeit immer schlechter geworden", sagt die rüstige Dame, "aber seit Februar war ich quasi taub."
Boehmfeld lebt allein in Bergedorf. Sie konnte weder Wecker noch Klingel wahrnehmen und auch kein Radio mehr hören. "Das Schlimmste für mich war allerdings, dass ich nicht mehr mit meiner Tochter telefonieren konnte", erzählt Helga Boehmfeld. Die Rentnerin zog sich immer weiter zurück, ging kaum noch in die Öffentlichkeit. Als sich erste Zeichen einer Depression bei ihr andeuteten, schickte Boehmfelds HNO-Ärztin sie ins Bundeswehrkrankenhaus.
Dort bereitete man gerade eine Operation vor, bei der Gehörlose oder schlecht hörende Patienten mit einem beidseitigen Cochlea-Implantat ausgestattet werden. Die Methode ist erprobt, wird in Frankreich und Großbritannien bereits seit Jahren durchgeführt. "Wir haben uns mit den Kollegen ausgetauscht - insbesondere mit Professor Jeremy Lavy vom Royal National Throat, Nose and Ear Hospital - und sind zu dem Schluss gekommen, dass das Spezialimplantat vor allem für ältere Patienten geeignet ist, denen man keine zwei Operationen zumuten möchte", sagt Zehlicke.
Helga Boehmfeld war die Erste, die davon profitierte. Nach zahlreichen Voruntersuchungen und Tests setzte Zehlicke ihr vor rund neun Wochen die neue Hörprothese ein. Das hinter dem rechten Ohr eingebettete Implantat wurde auf dem Schädelknochen befestigt; die Elektroden, die dem Hörnerv neue Impulse geben, wurden durch das Mittelohr in die Hörschnecken beider Ohren geschoben. Bei gesunden Menschen sitzen dort Tausende Haarzellen, bei tauben Patienten sind die Zellen abgestorben oder sie funktionieren nicht mehr. "Durch kodierte elektrische Impulse der Elektroden wird der Hörnerv wieder aktiviert, sodass erneut Höreindrücke entstehen können", erklärt Zehlicke das Verfahren.
Neu ist, dass einer der beiden am Cochlea-Implantat befestigten Elektrodenträger am Kopf des Patienten unmittelbar unter der Haut bis zur anderen Hörschnecke geleitet wird. Auf diese Weise werden beide Ohren mithilfe nur eines Implantats versorgt.
Bei Helga Boehmfeld war der rund vierstündige Eingriff ein voller Erfolg. "Ich habe mich bereits kurz nach der OP wieder sehr gut gefühlt, hatte überhaupt keine Schmerzen. Nur die erste Aktivierung des Implantats war sehr anstrengend", sagt sie. Plötzlich habe sie alles unheimlich laut wahrgenommen. Mithilfe von Werner Wempe, dem Audiologen des Krankenhauses, musste die Lautstärke des Signale verarbeitenden Prozessors reguliert werden, damit Boehmfeld die Töne und Umgebungsgeräusche ihrer Umwelt als angenehm empfand. "Die Patienten müssen das Hören wieder neu erlernen", sagt HNO-Arzt Thorsten Zehlicke. Deshalb sei die sechs Wochen nach dem Eingriff beginnende Rehabilitation entscheidend für den Erfolg der Schallaufnahme und -verarbeitung.
Die Therapie dauert etwa drei Monate. Neben der kontinuierlichen Lautstärkenanpassung durch den Audiologen müssen die Patienten zusätzlich ein logopädisches Training absolvieren. Im Bundeswehrkrankenhaus kümmert sich Hör- und Sprachtherapeutin Francesca Pillitteri mithilfe verschiedener Übungen darum, dass die Betroffenen ähnlich klingende Laute und Worte voneinander unterscheiden lernen. "Es ist ein großer Vorteil, dass wir hier mit dem Rehateam Hand in Hand arbeiten und alle Bereiche in einem Gebäudekomplex liegen", sagt Zehlicke, "so ist eine optimale Nachsorge möglich - zur Not auch über die dreimonatige Rehazeit hinaus."
Etwa ein Jahr dauert es, bis die Patienten mit ihrer neuen Hörprothese vollkommen vertraut sind. Ein langer Weg - auch für Helga Boehmfeld. Sprache kann sie bereits wieder gut verstehen. Doch bis sie wieder Radio hören und telefonieren kann, wird noch etwas Zeit vergehen.
Ihre Entscheidung zugunsten der Operation bereut sie nicht. "Es gab keine Alternative. Das Leben hat mich endlich wieder", sagt sie. Wie Boehmfeld sollen in den kommenden Monaten fünf weitere Patienten im Bundeswehrkrankenhaus ein beidseitiges Cochlea-Implantat erhalten. "Für viele ältere Menschen ist es die Zukunft", sagt Thorsten Zehlicke.