Hamburg. Als HGV-Chef war er einer der mächtigsten Männer der Stadt – und doch kaum bekannt. Jetzt geht er in den Ruhestand.
Das muss man erst mal hinbekommen. Zwei Jahrzehnte lang war Rainer Klemmt-Nissen einer der entscheidenden und einflussreichsten Männer in Diensten der Hansestadt, war maßgeblich an allen großen „Deals“ der Stadt beteiligt – und konnte sich doch nahezu unerkannt durch Hamburg bewegen. Dass niemand davon Notiz nahm, wenn der schlanke, große Mann mit seiner ledernen Aktentasche in der Hand von seinem Büro am Gustav-Mahler-Platz in die Finanzbehörde oder ins Rathaus ging, konnte ihm nur recht sein. Denn die Anlässe waren nicht selten äußerst brisant, oft ging es um Milliardensummen. Diskretion war für ihn daher stets oberstes Gebot: Klemmt-Nissen blieb stets als graue Eminenz im Hintergrund und überließ das Rampenlicht seinen Gesprächspartnern.
Wie sehr die ihn schätzten, zeigte sich am Donnerstag im Rathaus. Da wurde Rainer Klemmt-Nissen als Chef der städtischen Firmenholding HGV auf eigenen Wunsch in den Ruhestand verabschiedet – nicht irgendwo, sondern im Kaisersaal, von Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) persönlich. Und der lange Beifall, der dem 64-Jährigen von den mehr als 100 Gästen – unter ihnen Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) und Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne), die früheren Senatoren Wolfgang Peiner (CDU), Thomas Mirow und Jörg Kuhbier (beide SPD) sowie die Chefs fast aller großen öffentlichen Unternehmen – gespendet wurde, sprach für sich. „Eine Ära geht zu Ende“, sagte ein bewegter Gast.
Unter dem Radar der Öffentlichkeit
Klemmt-Nissen sei „einer der wichtigsten Akteure der vergangenen 20 Jahre“ für die Stadt gewesen, sagte der Bürgermeister, der ein besonders enges Vertrauensverhältnis zu dem künftigen Pensionär pflegt. Denn als Tschentscher 2011 Finanzsenator wurde, war der promovierte Jurist bereits Geschäftsführer der HGV und hatte zudem weitere zehn Jahre als Leiter des Amts für Vermögens- und Beteiligungsmanagement in der Finanzbehörde auf dem Buckel. Kurz: Er kannte die städtischen Unternehmen wie kein Zweiter. Und diese Expertise war sehr gefragt, schließlich musste der neue Scholz-Senat ohne große Einarbeitungszeit Lösungen für schlingernde Unternehmen wie die HSH Nordbank oder die von der Schifffahrtskrise gebeutelte Reederei Hapag-Lloyd finden.
Dass Klemmt-Nissen dabei so ungestört unter dem Radar der Öffentlichkeit agieren konnte, liegt an der Konstruktion der HGV: Als 100-prozentige Tochter der Stadt hält sie de facto die Anteile an mehr als 180 öffentlichen Unternehmen von der Hochbahn bis zur HHLA, vom Flughafen bis zur Saga. Doch in Erscheinung treten fast nur die Chefs dieser Unternehmen oder die politisch zuständigen Senatoren.
„Ruf eines Top-Verhandlers“
Dass dazwischen noch eine Gesellschaft sitzt, die fast 14 Milliarden Euro in der Bilanz stehen hat, ist kaum bekannt – obwohl die HGV mit ihren gerade mal 24 Mitarbeitern zusammen mit der Beteiligungsverwaltung in der Finanzbehörde gewaltige Räder gedreht hat: Ob der Verkauf von Anteilen des Flughafens an den Baukonzern Hochtief, die Privatisierung des Landesbetriebs Krankenhäuser (heute Asklepios), die Strategie, private Großkonzerne wie Norddeutsche Affinerie (heute Aurubis), Beiersdorf oder Hapag-Lloyd durch einen Einstieg der Stadt am Standort zu halten, die Fusion der Landesbanken aus Hamburg und Schleswig-Holstein zur HSH Nordbank und jetzt der Verkauf an US-Investoren oder der sukzessive Verkauf der HEW-Anteile und spätere Rückkauf der Energienetze – immer war der HGV-Chef an vorderster Front involviert.
„Er genießt den Ruf eines Top-Verhandlers“, sagte Tschentscher und betonte: „Der Senat schätzt seinen Rat und konnte sich stets auf seine Empfehlungen verlassen.“ Nebenbei: Trotz Klemmt-Nissens sozialdemokratischer Prägung galt das gleichermaßen für die CDU-Senate von 2001 bis 2010.
„Meine Selbstwahrnehmung ist nicht so positiv“, sagte der angehende Pensionär in gewohnter Zurückhaltung. Allerdings verhehlte er im Rückblick auf die vielen großen Transaktionen der HGV nicht, dass ihm die aktuelle Phase der Rekommunalisierung besser gefallen habe als die der Privatisierungen zu CDU-Zeiten: „Aufbau ist interessanter als Abbau“, so sein trockenes Fazit.
Selbstkritisch zeigte sich Klemmt-Nissen beim Thema HSH Nordbank. Als Ende der 90er-Jahre Zweifel an dem Geschäftsmodell der Landesbanken aufkamen, hätte man sich schneller von dieser trennen sollen, anstatt sie mit dem Pendant in Kiel zur HSH zu fusionieren, ließ er durchblicken. Die Milliardenverluste – allein seine HGV musste 1,4 Milliarden Euro abschreiben – empfinde er als „bedrückend“.
Dennoch ging Klemmt-Nissen mit einem Schmunzeln: Dass er jetzt in den Ruhestand trete, begründete er, indem er seine Aktentasche hochhielt: „Wir sind jetzt 40 Jahre zusammen. Und die Abstände, in denen wir zum Schuster müssen, werden immer kürzer.“