Hamburg. Felix Wieneke kommt, wenn andere gehen müssen und hilft am Flughafen Menschen, die Deutschland gegen ihren Willen verlassen.

Morgens um 5 Uhr. Am Flughafen rollt ein Handgepäckkoffer nach dem anderen über den blank geputzten Boden. Er ist so sauber wie der Tag, noch trägt er eine weiße Weste, noch ist fast nichts Schlechtes geschehen. Die Arbeit wartet, das Leben wartet, die Sonne geht auf. In den Gedankenblasen über den Köpfen der Menschen sieht man zu dieser Uhrzeit meist nur ein Wort: „Kaffee!“ Felix Wieneke geht an den Geschäftsreisenden vorbei und an den Urlaubern, die sich am meisten darauf freuen, gleich in den Flieger zu steigen. Dort, wo sie hinwollen, wartet eine schöne Zeit auf sie. Erholung. Unterhaltung. Ein Hotel.

Diese Vorfreude-Welt hat nichts mit der zu tun, in der sich Felix Wieneke für die nächsten Stunden bewegen wird. Ganz ruhig geht er in Richtung Bundespolizeiinspektion. Normalerweise klingt das nicht nach einem Kompliment, wenn man von jemandem sagt, er wirke wie ein Beruhigungsmittel. Bei Felix Wieneke ist das anders. Hätte er nicht diese gelassene Art, könnte er seinen Beruf gar nicht ausüben.

Kühlen Kopf bewahren

Der 29-Jährige arbeitet als unabhängiger Abschiebungsbeobachter, er sorgt dafür, dass in einer extremen Situation alle einen kühlen Kopf bewahren. „Guten Morgen, die Diakonie, Abschiebungsbeobachtung. Ich stehe am Hintereingang, können Sie mich bitte abholen?“, sagt Wieneke, als er vor seinem Ziel steht, einer Tür. Ein Beamter der sogenannten Rückführungsabteilung öffnet. Eintreten darf Wieneke nur allein, doch er kann erzählen, was er an seinem Arbeitsplatz tagtäglich erlebt.

Seit Mitte März arbeiten Sie als Hamburger Abschiebungsbeobachter, ein anstrengender Job?

Felix Wieneke: Jedenfalls kein gewöhnlicher. Die Tage verlaufen sehr unterschiedlich. Wann ich am Flughafen sein muss, erfahre ich immer erst am Tag zuvor von der Bundespolizei, aber meistens geht es sehr früh los. Was und wer mich dann dort erwartet, ist auch immer anders. Es gibt Situationen, die wirklich sehr aufreibend sind. Ich erlebe Menschen in Momenten, in denen es ihnen extrem schlecht geht. Natürlich versuche ich, mich davon abzugrenzen, aber etwas bleibt immer hängen, das ist klar. Eine herausfordernde Tätigkeit alles in allem, die für mich aber extrem sinnvoll ist.

Welche Situationen finden Sie besonders fordernd?

Wieneke: Sammelabschiebungen sind aufregend, weil da alles sehr gebündelt abläuft. Zehn bis 50 Personen, also wirklich viele, sollen da gemeinsam ein Flugzeug besteigen. Da habe ich weniger Übersicht, und die Stimmung ist noch einmal aufgeheizter als sonst. Mir fehlen Ruhe und Zeit, um mich mit dem Einzelnen zu unterhalten.

Wie beruhigen Sie die Menschen?

Wieneke: Ich kann die Menschen eigentlich nicht wirklich beruhigen. Ich kann ja nichts an der Abschiebung ändern. Aber durch Gespräche versuche ich das Gefühl zu vermitteln, dass da jemand ist, der ihre Situation versteht. Ich höre mir ihre Version der Dinge an oder frage, ob es eventuell noch wichtige Termine gibt. Bei einem anstehenden Gerichtstermin beispielsweise darf man nicht abgeschoben werden.

Kommt es vor, dass Sie eine Abschiebung nicht nachvollziehen können?

Wieneke: Selbst wenn ich persönlich der Einschätzung bin, dass im Heimatland der Familie ein fürchterlicher Krieg herrscht und dass eine Abschiebung in einen anderen Staat des Schengengebiets zu einer Kettenabschiebung oder in eine Situation des Elends führen würde (wie im Falle von Italien, wo Geflüchtete nachweislich Gefahr laufen, aufgrund fehlender Ar­beits- und Unterstützungsmöglichkeiten in Mittel- und Obdachlosigkeit zu leben), tun kann ich für die Betroffenen wenig. Informationen und Kontakte zu Hilfsorganisationen gebe ich weiter, das kann hilfreich sein. Ansonsten beobachte ich das Geschehen, bis die Menschen in das Flugzeug steigen.

Sind die Fälle vor Ort denn immer klar?

Wieneke: Es kommt vor, dass sich die Rechtslage am Flughafen noch einmal ändert. Teilweise stellen Personen in letzter Sekunde einen Asylfolgeantrag, machen neue Fluchtgründe beim Bundesamt für Mi­gration und Flüchtlinge, kurz BAMF, geltend, das dann den Antrag prüft, während die Menschen schon im Terminal sitzen. Anwältinnen können bei Gericht Eilanträge stellen, um die Abschiebung vor Abschluss eines Verfahrens am entsprechenden Verwaltungsgericht zu verhindern, manchmal tauchen noch Unterlagen wie ärztliche Atteste auf, die ausschlaggebend sind.

Erfahren Sie jemals, was aus den Menschen wird, die abgeschoben wurden?

Wieneke: Nein, meine Zuständigkeit endet, wenn die Personen in das Flugzeug steigen. Eine dauerhafte Betreuung darf ich nicht leisten, ich würde es aber auch nicht wollen, denn dann käme ich ganz schnell an meine Grenzen.

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Hat Sie die Arbeit verändert?

Wieneke: Mich persönlich nicht, aber mein Verständnis von dem Thema hat sich sehr gewandelt. Es ist eben ein Unterschied, ob man sich so wie ich zuvor ehrenamtlich für Flüchtlinge engagiert oder ob man es beruflich macht. Ich muss jetzt viel professioneller mit dem Thema umgehen. Am Flughafen herrscht für mich und für die Bundespolizisten Routine. Natürlich liegt immer eine gewisse Anspannung in der Luft, denn es geht um Zwang, und es fügt sich auch nicht immer jeder. Das sind ja keine Urlaubsflieger, in die die Menschen steigen sollen.

Was passiert, wenn jemand nicht in das Flugzeug einsteigen will?

Wieneke: Die Polizei hat bestimmte rechtliche Befugnisse, wenn es darum geht, Verwaltungsvorgänge umzusetzen. Sie darf Handschellen einsetzen und kann auch Personen festnehmen. Das kann vorkommen. Manche Ausreisepflichtige werden auch ausfällig, viele Schimpfwörter kenne ich inzwischen in verschiedenen Sprachen. Aber die meisten sprechen Deutsch, einige haben bereits bis zu zehn Jahre in Deutschland gelebt. Vor allem die Kinder können teilweise schon sehr gut Deutsch.

Wie gehen Sie mit Familien um?

Wieneke: Abschiebungen, an denen Kinder beteiligt sind, finde ich besonders emotional. Ich schaue daher auf den Listen der Bundespolizei immer als Erstes, ob Familien oder ältere Menschen dabei sind, denn die benötigen meine Hilfe am dringendsten. Viele Kinder tragen die Last ihrer Eltern mit, die realisieren ganz genau, um was es gerade geht. Da habe ich andere Gefühle, als wenn beispielsweise ein Gefährder abgeschoben werden soll. Doch letztendlich muss ich alle gleich behandeln. Für alle gilt die gleiche Rechtsgrundlage. Manche Tage sind sehr belastend, da frage ich mich, warum muss das jetzt so sein, hätte es nicht noch einen anderen Weg gegeben, habe ich alles getan, was ich tun konnte? An anderen Tagen wiederum bin ich zufrieden, weil der Umgang und die Gespräche gut waren und ich den Eindruck hatte, es war gut, vor Ort gewesen zu sein.

Waren Sie in Ihrer Funktion auch schon einmal bei der Abschiebung eines Gefährders dabei?

Wieneke: Ja, und ich hatte ein wenig Angst. Wenn man weiß, was eine Person gemacht oder geplant hat, welche Verbindungen zu Terrornetzwerken bestehen, dann strahlt diese Person etwas Böses aus, selbst wenn sie gar nicht böse wirkt. Doch auch hier gilt: Ich behandele alle gleich. Will derjenige beispielsweise noch einmal seinen Anwalt anrufen, dann besorge ich ein Telefon. Wenn mir die Polizisten jedoch raten, besser Abstand zu wahren, dann halte ich mich daran.

Steigen Gefährder wie die anderen in normale Linienflugzeuge?

Wieneke: Bei Fluchtgefahr und der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wird ein Flugzeug gechartert, und Bundespolizisten begleiten den Gefährder bis in sein Heimatland. Das kostet den deutschen Staat natürlich Geld. Elf Millionen Euro waren es 2017 für Abschiebungen auf dem Luftweg. Wenn es um unsere Sicherheit geht, finde ich diese Kosten allerdings gerechtfertigt. Ich habe auch schon erlebt, dass Piloten sich weigern, bestimmte ausreisepflichtige Personen an Bord zu nehmen.

Kommt es vor, dass sich manche mit Händen und Füßen wehren?

Wieneke: Manchmal leisten die Personen so viel Widerstand, dass die Abschiebung abgebrochen wird. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Es bringt nichts, ich würde das niemandem empfehlen, wenngleich ich verstehen kann, dass die Leute extrem handeln. Hier wird etwas gegen ihren Willen getan, die Message lautet klar: Ihr habt hier keine Chance mehr.

Was halten Sie vom sogenannten Spurwechsel?

Wieneke: Wenn Menschen abgeschoben werden, die bereits gute Sprachkenntnisse erworben, Anschluss gefunden und sogar Angebote für Ausbildungs- oder Arbeitsplätze erhalten haben, dann kann ich das unter rationalen Gesichtspunkten schwer nachvollziehen. Diesen Menschen im Rahmen einer Integration in den Arbeitsmarkt eine Chance auf ein Bleiberecht zu ermöglichen und damit gleichzeitig auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu reagieren halte ich für eine sinnvolle Idee. Außerdem sind unsere bürokratischen Hürden sehr hoch, viele Betriebe scheinen verunsichert, ob sie sich darauf verlassen können, dass die Menschen tatsächlich langfristig in Deutschland bleiben dürfen. Diese Hürden müssten abgebaut und Regelungen transparenter und einfacher gemacht werden. Gleichzeitig darf unser Asylrecht nicht abgebaut oder untergraben werden.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit der Bundespolizei?

Wieneke: Gut! Allein die Bereitschaft, sich an einem Monitoring-Projekt zu beteiligen, signalisiert ja, dass die Behörde Transparenz schaffen möchte und in einen Dialog zu einem kontrovers diskutierten, hochsensiblen und gleichzeitig emotionalen Thema tritt. Selbst wenn dieser nicht einfach und von unterschiedlichen Positionen gekennzeichnet ist. Kommunikation ist daher wichtig, nicht nur zwischen mir als Beobachter und den Beamten vor Ort im direkten Geschehen, sondern auch innerhalb des Flughafen-Forums Hamburg. Dort sitzen Ent­-scheidungsträgerinnen der Behörden und Vertreterinnen von Menschenrechtsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden, sie besprechen sich alle drei Monate und arbeiten meine Berichte auf.

Manchmal fahren Sie ganz umsonst zum Flughafen, wie kommt das?

Wieneke: Wenn die Polizisten die Ausreisepflichtigen nicht angetroffen haben in ihrer Unterkunft, dann können sie natürlich nicht abgeschoben werden. Passiert leider häufig. Seit den Novellen des Asylpakets III kündigt man Abschiebungstermine nicht mehr an. So sollte verhindert werden, dass Personen sich nicht mehr einfach den Maßnahmen entziehen können. Doch nun verbringen sie die Nächte lieber draußen auf der Straße, um nicht gefunden werden zu können. Ich halte die Regelung für falsch, da irren Menschen durch die Kälte!

Gibt es weitere Dinge, die Sie ärgern?

Wieneke: Verallgemeinerungen wie die von Horst Seehofer helfen überhaupt nicht. Er spricht einfach von Zahlen, aber hinter jeder Maßnahme steht ein besonderes Schicksal. Selbst wenn es unangenehm ist, sich mit dem Einzelnen auseinanderzusetzen, müssen wir es tun. Mehr Res­triktionen und weitere Einschnitte führen vielleicht dazu, kurzfristig bestimmte Meinungen bedienen zu können. Aber die konkrete Situation der Leute wird dadurch nicht verbessert, und die Bedürfnisse unserer Gesellschaft werden unter Umständen auch nicht befriedigt. Die Mauern immer höherzuziehen, das funktioniert nicht ewig.