Hamburg. Designierte Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl 2020 sorgt für Debatten. Parteispitze verfolgt Doppelstrategie.
Bonn oder Stuttgart? Das sollte in Hamburg eigentlich keine Frage von größerer Bedeutung sein. Für viele der hiesigen Christdemokraten aber kann der Blick in die ehemalige Bundeshauptstadt und die Neckar-Metropole plötzlich sehr lehrreich sein. Seit CDU-Parteichef Roland Heintze und Bürgerschafts-Fraktionschef André Trepoll die frühere niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan am vergangenen Sonntag als Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl 2020 vorgeschlagen haben, diskutiert die Partei geradezu leidenschaftlich über diese Frage: Ist die Hamburgerin Özkan, deren Migrationshintergrund auch am Namen abzulesen ist, die Richtige für Listenplatz eins dieser mal mehr und mal weniger konservativen Partei?
In Bonn ist ein CDU-Politiker mit indischen Wurzeln OB
Diskutiert wird unabhängig davon, ob Özkan angesichts ihrer schweren Erkrankung, die Heintze und Trepoll ebenfalls am Sonntag öffentlich machten, die Aufgabe überhaupt übernehmen kann. Die Stimmung an der Parteibasis, das zeigte sich zum Beispiel beim Sommerfest der CDU am Donnerstag, ist durchaus von einer tiefen Skepsis gegenüber Özkans Kandidatur durchzogen, auch wenn sich niemand eindeutig öffentlich äußern mag. Zum Teil wird auch von empörten Austritten oder deren Androhung in einzelnen Ortsverbänden berichtet.
Die Befürworter von Özkans Spitzenkandidatur blicken hoffnungsvoll nach Bonn. Dort heißt der Oberbürgermeister (OB) seit 2015 Ashok-Alexander Sridharan und hat ein CDU-Parteibuch. Der Vater des 53 Jahre alten Juristen stammt aus dem Süden Indiens, seine Mutter aus Bonn. Sridharan hatte sich im ersten Wahlgang gegen die Konkurrenten von SPD und Grünen durchgesetzt und damit die 21-jährige Periode von SPD-Bürgermeistern beendet.
„Es geht also auch ohne einen deutschen Namen“, sagte Dirk Fischer mit einer Mischung aus Genugtuung und Zuversicht beim Fest im Garten des Ludwig-Erhard-Hauses am Leinpfad in Winterhude. Allerdings, so muss hinzugefügt werden, ist Sridharan Katholik im katholisch geprägten Rheinland. Özkan ist als Alevitin Muslimin, was in der Partei, die das christliche Bekenntnis im Namen trägt, zu anderen Debatten führt. Dirk Fischer, langjähriger CDU-Landeschef und Bundestagsabgeordneter, hatte Özkan 2004 überzeugt, in die CDU einzutreten, und ihr das erste politische (Ehren-)Amt verschafft: Deputierte in der Wirtschaftsbehörde.
Özkan-Kritiker blicken nach Stattgart
Die Özkan-Skeptiker blicken nach Stuttgart. Oberbürgermeister ist der Grüne Fritz Kuhn, enger Weggefährte von Joschka Fischer („Fischers Fritz“). Oberrealo Kuhn hatte sich bei der Wahl 2012 gegen den parteilosen Sebastian Turner durchgesetzt. Der IT-Unternehmer Turner war Kandidat der CDU und wurde auch von der FDP und den Freien Wählern unterstützt. Eine wichtige Ursache für Turners Niederlage in der CDU-Hochburg Stuttgart, so wird es in der Union erzählt, sei gewesen, dass seine Kandidatur von weiten Teilen der Parteibasis nicht mitgetragen worden sei. Turners Stuttgarter Scheitern dient nun in Hamburg als warnendes Beispiel dafür, dass die Partei gerade bei ungewöhnlichen Personalentscheidungen „mitgenommen“ werden müsse.
Das wissen Heintze und Trepoll selbstverständlich auch. Das Problem ist, dass die innerparteiliche Überzeugungsarbeit, die Aygül Özkan jetzt mit Besuchen in jedem CDU-Ortsverband beginnen sollte, aufgrund ihrer Erkrankung entfallen muss. Diskutiert wird aber trotzdem. Das CDU-Führungsduo hatte die Kandidatur Özkans sehr diskret und über lange Zeit erstaunlich unbemerkt vorbereitet. Die beiden setzten ganz auf das Überraschungsmoment, das die Präsentation der für die CDU mindestens ungewöhnlichen Kandidatin bedeuten würde.
Özkan soll mit ihrer Aufstiegsbiografie und ihrem türkischen Hintergrund das Label „moderne Großstadtpartei“ verkörpern, das der Union nach Meinung vieler im Laufe der vergangenen Jahre abhandengekommen ist. Dahinter steht eine Doppelstrategie: auf der einen Seite Partei und Fraktion, die das konservative Profil im Bereich der inneren Sicherheit, der Verkehrs- und Wirtschaftspolitik weiter schärft – auf der anderen Seite mit Özkan eine Frau, die für die Vielfalt der Stadt stehen soll und dafür, dass, wer sich anstrengt, es auch bei eher ungünstigen Startbedingungen hier zu etwas bringen kann.
Aspiranten-Kreis für Plan B eingeschränkt
Özkans Spitzenkandidatur ist zunächst einmal eine Rathaus-Idee. Die Juristin und Mutter eines 16 Jahre alten Sohnes soll auch ein Angebot – so die Hoffnung – für Wähler sein, die zuletzt ihre Kreuze eher bei SPD oder Grünen gemacht haben. Es geht Trepoll und Heintze zugleich um eine Machtoption für die CDU, die etwa in einem Jamaika-Bündnis liegen kann. Ein Grund für die historisch schlechten 15,9 Prozent, die die CDU 2015 eingefahren hat, war das Fehlen einer Machtoption. Zu wenig Wähler trauten der CDU zu, bei der Regierungsbildung eine Rolle zu spielen.
Und die ersten Signale aus dem Lager der Grünen zeigen, dass diese Strategie aufgehen könnte. „Es ist ein Zeichen, dass die CDU in Hamburg bei aller konservativen Rhetorik offenbar doch Ansprechpartner bleiben will für alle, die eine Stadtgesellschaft aufbauen wollen, bei der Vielfalt und Zusammenhalt keine Gegensätze sind“, kommentierte der frühere Grünen-Parteivize Michael Gwosdz auf Facebook die Ankündigung der Kandidatur. Zuvor hatte der SPD-Regierungspartner von den Grünen der CDU die kalte Schulter gezeigt.
Sollte Aygül Özkan aus gesundheitlichen Gründen verzichten müssen, stehen Trepoll und Heintze vor einem Dilemma. Wenn sie glaubwürdig bleiben wollen, müssen sie ihre Doppelstrategie mit einer konservativen Partei und einer „öffnenden“ Spitzenkandidatin oder einem solchen Mann weiterfahren. Das schränkt den Kreis der Aspiranten für den Plan B ein. Und: Klar ist auch, dass der bisherige Favorit – Fraktionschef Trepoll – die Aufgabe, Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) herauszufordern, nicht übernehmen kann.
Viele hatten mit Kandidatur Trepolls gerechnet
Trepoll ist selbst zu der Überzeugung gelangt, dass er zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung eher für das konservative Element der Partei steht. Viele Christdemokraten hatten mit ihm als Spitzenkandidaten gerechnet. Insofern hat Trepoll Parteifreunde auch enttäuscht, ist aber selbst offenbar weiterhin entschlossen, nicht zu kandidieren.
Klar ist auch, dass Plan B nicht noch einmal so unter Ausschluss der Partei entwickelt werden kann wie das bei Plan A der Fall war. Dazu ist das Rumoren über die Nichtbeteiligung an dieser wohl wichtigsten Entscheidung der Partei auch auf der mittleren Funktionärsebene der CDU zu groß gewesen.
Wahrscheinlich war es Labsal für Heintze und Trepoll, dass sie für ihren riskanten Kurs Unterstützung von prominenter Seite bekamen. Ausgerechnet Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, konservative Hoffnung der Merkel-Frustrierten in der Union, nannte Aygül Özkan beim CDU-Sommerfest „die Richtige“ für Hamburg.