Hamburg. 15.100 Radsportler fuhren am Sonntag die 23. Cyclassics. Manche von ihnen erlebten das besondere Renngefühl zum ersten Mal.
Es ist kurz nach 7 Uhr, als Rebecca Fiege ihr acht Kilo schweres Rennrad in die S-Bahn auf St. Pauli hineinträgt. Zu viele Glassplitter auf der Party-Meile, jetzt bloß keinen Platten riskieren kurz vor dem großen Event. Zum ersten Mal wird die Hamburgerin bei den Cyclassics mitfahren, dem größten Radrennen Europas. 15.100 Teilnehmer sind in diesem Jahr dabei, schon früh morgens sieht man sie aus allen Ecken der Stadt in Richtung Alsterglacis und An der Alster aufbrechen, dort starten von 7.30 Uhr an die drei Jedermann-Rennen über 60, 100 und 160 Kilometer.
Rebecca Fiege will die 100 Kilometer fahren, das macht man nicht eben so. Die 34 Jahre alte Krankenschwester hat sich gut vorbereitet: Ein leichtes Frühstück zwei Stunden zuvor, isotonisches Pulver in den Trinkflaschen, gut gepolsterte Hose, ein Schlauch zum Wechseln in der Trikottasche und vor allem 2000 Trainingskilometer seit Juni. Die Beine sind fit, jetzt muss nur der Kopf mitspielen: „Die Anzahl der Teilnehmer kann einem Angst machen, ich hoffe, unfallfrei durchzukommen“, sagt Fiege.
Als Frau darf sie in diesem Jahr in einem Extrafrauenblock starten, die Verantwortlichen hoffen somit auf mehr Fahrerinnen. „Bislang sind nur 15 Prozent Frauen, wir hätten gerne 50 Prozent“, hatte Veranstaltungschef Oliver Schiek vorab gesagt. Aber Testosteron und „gib ihm!“, das liegt nicht jeder. „Ich bin schon aufgeregt, aber ich liebe die Geschwindigkeit, das wird bestimmt toll“, sagt Fiege, als sie beim Startblock F ankommt.
Mit 3000-Euro-Rädern bei den Cyclassics
Ihr Trainingspartner Vassilios Anastasiades wartet dort. Der 26-Jährige checkt noch einmal seine Luftpumpe, die so klein ist wie seine Handfläche, dann noch schnell für kleine Jungs, die nächsten drei Stunden wird er durch Norddeutschland düsen. „Diese Gelegenheit, Hamburg und Schleswig-Holstein mit dem Rad zu erfahren, die gibt es nur einmal im Jahr“, sagt der 26-Jährige, der zum vierten Mal dabei ist. Kurzer Wettercheck. Super Bedingungen! Nicht zu heiß, keine blendende Sonne.
Auf Anastasiades‘ Unterarm befindet sich ein Zeus-Tattoo, seine Beine sind rasiert, hier in Startblock F meint man es ernst, da zählt der Spruch „Erlebnis geht über Ergebnis“ nicht unbedingt. Die Bezeichnung „Jedermann-Rennen“ mag in dieser Hinsicht etwas irreführend sein. Alle Starter scheinen perfekt ausgerüstet, die Räder haben teilweise 3000 Euro gekostet, die angegebenen Durchschnittsgeschwindigkeiten liegen bei 30 Kilometern pro Stunde. Das schafft ein normaler Radler höchstens mit dem E-Bike.
„Möge euch das Lächeln vom Start begleiten“
Noch wenige Minuten bis zum Start. „Meine Taktik heißt: einfach fahren, immer voran!“, sagt Anastasiades, und die fünf Dänen neben ihm stimmen begeistert zu. Sie sind aus Fünen angereist. 160 Kilometer liegen vor ihnen. „Kein Problem“, sagt der eine. „Wir werden sehen!“, antwortet sein Teamkamerad. „Ich habe hier, glaube ich, die längste Anreise“, sagt ein Teilnehmer auf Spanisch, der in seiner Rückentasche Hipp-Baby-Früchtemus gebunkert hat. Ob er die Aufschrift im Supermarkt richtig übersetzt hat? Egal, jetzt bloß nicht verunsichern.
Carlos Rivero Santana kommt aus Kuba, arbeitet gerade in Thüringen, und obwohl er noch keinen Meter gefahren ist, findet er das Radrennen jetzt schon großartig: „Diese Stadt! Welche Schönheit! Und die Leute! Alle viel toleranter als anderswo!“
Der Countdown läuft: „5, 4, 3, 2, 1 und los!“ Aus den Lautsprechern hören die Fahrer die Ermahnung des Sprechers, vorsichtig zu sein: „Bitte nicht den Kopf an der Starlinie abgeben, keine Eile, ihr habt 100 Kilometer Zeit für eine gute Platzierung.“ Rebecca Fiege fährt los, zwei Minuten später Vassilios Anastasiades. „Möge euch das Lächeln vom Start begleiten!“, wünscht der Sprecher.
Tausende Radsportler fahren durch Hamburg
London begeistert von Hamburg
Während Tausende in die Pedale treten, gibt Sportstaatsrat Christoph Holstein Interviews. Ein TV-Team aus London ist gekommen, um einen Betrag über die Active City zu drehen. „Unsere Recherchen haben ergeben, dass Hamburg eine der aktivsten Städte der Welt ist“, erzählt der Produzent John Norman. Es sei ja der Wahnsinn, was hier an einem einzigen Wochenende stattfinde.
500.000 Zuschauer bei den Cyclassics, dann noch World Tour Finals im Beachvolleyball, Rollstuhl-WM und Deutsche Meisterschaft im Basketball – der Londoner zeigt sich beeindruckt. „Sport verbessert die Lebensqualität und gehört ins Zentrum einer Großstadt,“ sagt Holstein, den seine Frau gerne mal joggen schickt, wenn er zu gestresst nach Hause kommt. Funktioniere immer.
„Jedermänner“ erleben Massensturz
Auf der Mönckebergstraße treffen die ersten Fahrer der 60-Kilometer-Strecke im Ziel ein, darunter Alexander Jermolow, der die Distanz im Durchschnitt mit Tempo 42,9 bewältigt hat. „Ein schnelles Rennen und eine super Strecke. Bei Elmshorn roch es zum Beispiel plötzlich nach Wald, dazu das Summen unserer Räder, wie ein Bienenschwarm“, sagt Jermolow, der als Lehrrettungssanitäter und Radcoach arbeitet: „Ich habe auch einen Massensturz vor dem Kaiser-Wilhelm-Ring erlebt. Die Fahrer neben mir waren plötzlich weg.“ Auf der Reeperbahn stürzte am Vormittag ein 16-Jähriger in eine Absperrung und kam in ein Krankenhaus.
Rebecca Fiege und Vassilios Anastasiades bleiben davon verschont. Im Ziel haben sie Gänsehaut. Anastasiades’ Familie jubelt so laut, dass er sie im Publikum erblickt, und Fiege ist schneller gefahren als im Training: „Dieser Sog! Was für ein einmaliges Gefühl, wenn einen Hunderte Fahrer mitziehen“, sagt Fiege und trinkt einen Schluck alkoholfreies Weißbier. Ob sie 2019 wieder mitmacht? „Mal schauen, mir tut gerade alles weh, aber toll war es!“