Hamburg. Vor 50 Jahren wurde der Grundstein für Europas größten Konsum-Koloss gelegt. Ein Projekt, das ein ganzes Stadtviertel verschlang.

Das Projekt ist umstritten, die Stimmung gereizt, der Beschluss hart erkämpft. Im April 1968, 13 Jahre nach den ersten Plänen, gibt der SPD-Senat gegen den erbitterten Widerstand der CDU-Opposition endlich den Start für das neue Einkaufszentrum Hamburger Straße frei.

Bei der Grundsteinlegung im Juli 1968 freut sich Bürgermeister Herbert Weichmann, dass die „fast unüberwindlich erscheinenden Schwierigkeiten“ nun hinter ihm lägen. Der künftige Handelskammer-Präses Herbert Westerich lobt das „kaufmännische Kalkül“ ebenso wie die „nüchterne Planung“ und behauptet, das Projekt sei kein Exempel von „Maßlosigkeit“. Beide irren: Die Probleme fangen gerade erst an, und auch das hanseatische Understatement kann die Kritik nicht stoppen. Denn in der riesigen Baugrube ziehen 1600 Arbeiter einen Moloch auf, der bald ein ganzes Viertel verschlingt.

Der Anblick ist brutal

Bei der Eröffnung am 8. Mai 1970, nach 22 Monaten Bauzeit, steht in Barmbek der größte innerstädtische Konsum-Koloss Europas: 700 Meter lang, 90.000 Quadratmeter Geschossfläche, davon rund 50.000 Quadratmeter auf drei Ebenen für Warenhäuser, Läden, Cafés und Restaurants. 40.000 Quadratmeter Bürogeschosse. 1200 Arbeitsplätze, 2200 Parkplätze.

Der Anblick ist brutal: Mitten in der beschaulichsten Rotklinkersiedlung des alten Arbeiterquartiers scheint ein Schlachtkreuzer aus dem Weltall niedergegangen zu sein. Und „Brutalismus“ (nach „béton brut“ für „roher Beton“) heißt auch der Stil, mit dem der berühmte Stadtplaner Le Corbusier damals Wohnmaschinen und Büroburgen in die Städte stellt. Die Veränderungen sind nicht der erste radikale Bruch in der Geschichte des Stadtteils. 1862 ist die „Hamburger Straße“ noch ein Feldweg, auf dem Bauern aus dem Dorf Barmbek in die Stadt kutschieren. 1894 aber ziehen dort die beim Bau der Speicherstadt vertriebenen Hafenarbeiter mit ihren Familien in eilig hochgezogene Mietskasernen ein.

Die Hamburger Meile, wie sie heute aussieht
Die Hamburger Meile, wie sie heute aussieht © ECE/ Heiko Meyer

1903 eröffnen die Gebrüder Heilbuth das erste Kaufhaus. 1928 macht Karstadt daraus einen hochmodernen Konsumtempel mit Tuffsteinfassade, Dachgarten und einem 46-Meter-Turm, dessen Lichtsäule bis zur Alster strahlt. Nach den verheerenden Bombenangriffen im Jahr 1943 nennt der Volksmund die Hamburger Straße „Trümmerallee“. Die riesigen Schuttberge bleiben bis 1953 liegen. Erst 1961 raffen sich Grundeigentümer und Geschäftsleute zu neuen Plänen auf. Denn zu dieser Zeit schießen im Autoland USA die ersten Shopping Malls aus den grünen Wiesen – tödlich für den Einzelhandel in den Innenstädten.

Es ist zugig und feucht

Am rettenden Gegengift arbeiten diesmal nicht Politiker, Stadtplaner oder Wirtschaftsprofessoren, sondern Geschäftsleute, Architekten und Makler. Denn, so Bürgermeister Herbert Weichmann: „Wenn die Hamburger Straße zu neuem Leben erweckt werden soll, bedarf es in einer Zeit völlig neuer Entwicklungen des Städtebaus und der Einkaufsbedürfnisse der Bevölkerung einer neuen Planung, die am besten von der Wirtschaft selbst zu entwickeln ist.“

Und dabei vertraut der populäre Sozialdemokrat eher auf Tatkraft als auf Theorie: „Wir haben uns im Senat entschlossen, von herkömmlicher Behördenpraxis abzuweichen“, erklärt er, „und die Handelskammer sowie die Handwerkskammer anzuregen, dass sie die an der Hamburger Straße unmittelbar interessierten Kräfte veranlassen, eine Bauplanung für ein Einkaufszentrum zu entwerfen.“

Die privatwirtschaftliche „Kommission Einkaufszentrum Hamburger Straße“ legt ein Konzept großen Stils vor: Nebenstraßen werden verkleinert, überdeckt oder gekappt, die Hamburger Straße auf sechs Fahrspuren verbreitert, Anschlüsse an das Schnellbahnnetz und, damals für Hamburg noch ungewöhnlich, ein Parkhaus geplant. Dazu kommen später noch die Hochhaustürme des benachbarten Mundsburg-Centers.

Es gibt viel Streit

Die Idee ist gut, die Ausführung schwierig, es gibt viel Streit: Grundstückseigentümer, Anwohner, Investoren, Architekten, Gutachter und am meisten die Politiker kommen einander immer wieder in die Quere. Selbst der Name ist umstritten: „Einkaufszentrum Hamburger Straße“ sei viel zu lang, viel besser wäre „Hansa-Zentrum“ oder „Mundsburg-Zentrum“, sagen Kritiker. Doch ein „Hansa“ führen viele Firmen im Namen, und „Hamburger Straße“ ist seit ruhmvollen Vorkriegszeiten ein fast ebenso werbewirksamer Begriff wie „Mönckebergstraße“.

Das neue Bauen

Wichtigster Streitpunkt: Der Senat möchte Büroflächen für die Verwaltung mieten, die CDU stattdessen lieber Wohnungen bauen lassen. In der entscheidenden Bürgerschaftssitzung kontert Weichmann Widerspruch mit Hohn und Spott: Die Opposition suche offenbar verzweifelt nach „Angriffsflächen“ bei einem Senat, der „wohlweise regiert“. Daraufhin springt der kommende CDU-Fraktionschef Jürgen Westphal wütend auf: „Sie erinnern mich an Ludwig XIV. oder Friedrich den Großen!“, ruft er. „Fehlt nur noch, dass Sie sagen: Seht her! Hier stehe ich in meiner unendlichen Weisheit!“

Publikum ist irritiert

Als das Einkaufszentrum eröffnet ist, zeigt sich das Publikum irritiert: Die nackten Betonwände wirken deprimierend, überall ist es zugig, kalt und feucht. Durch das Glasdach regnet es durch, und vor den Läden bilden sich Pfützen. Den Kunden ist vor allem das Lebensmittelangebot zu teuer, die Händler klagen über schlechte Umsätze, schon bald geben die ersten auf.

Immer wieder wird ausgebessert, erneuert oder gleich ganz umgebaut. 2008 kommt endlich der große Wurf: Die Indoor-Ladenstraße wird auf 600 Meter verlängert und heißt jetzt „Shopping Mall“. Die Zahl der Geschäfte, Cafés und Restaurants an dieser steigt auf 150, und zur Eröffnung 2010 wird das „Einkaufszentrum Hamburger Straße“ in „Shopping-Center Hamburger Meile“ umbenannt – ein Meilenstein auf dem Weg der Freien und Hansestadt in die neue Zeit der großen Handelsmetropolen.