Hamburg . Ivo Nörenberg hat meist Bären oder Affen vor der Kamera. Doch nun dreht er in seiner Heimat – und sucht Tipps von Abendblatt-Lesern.
Das Wichtigste ist Geduld. Natürlich sollte man auch Abenteuer mögen, ein leidenschaftlicher Beobachter sein, minus 40 Grad ebenso aushalten können wie plus 40, nicht zwingend Zivilisation oder fließend Wasser brauchen und die Natur lieben. Doch ohne Geduld hilft das alles gar nichts.
Denn wer über Wochen täglich zehn Stunden lang in der Hitze Äquatorialguineas in einem kleinen, stickigen, schimmelig riechenden Nylonzelt sitzt, ohne zu reden, sich groß zu bewegen, dabei aber pausenlos nach draußen gucken muss, obwohl meistens nichts passiert, der muss ein sehr geduldiger Mensch sein. Und vermutlich total verrückt, gäbe es da nicht diesen einen Moment, in dem sich das Tier zeigt und die Kamera seine Bewegungen einfängt.
Einsatz an der Küste Westafrikas
Ivo Nörenberg lebt für diese Momente. An der Küste Westafrikas war es der Drill, auf den er jeden Tag aufs Neue gewartet hat, eine nur wenig erforschte und stark gefährdete Affenart, von der es weltweit nur noch etwa 2000 Exemplare gibt. Insgesamt gingen die Dreharbeiten über drei Jahre. Und gerade wartet der 48 Jahre alte Hamburger wieder. Darauf, dass die vor Kurzem geschlüpften Graugansküken aus ihrem vier Meter hohen Nest auf einer Eiche auf dem Ohlsdorfer Friedhof purzeln. „Warten“, sagt er, „muss man überall.“
Ivo Nörenberg ist einer der besten Tierfilmer Deutschlands. Er hat jagende Krokodile und Geparden in der Serengeti gefilmt, Bisons im Yellowstone-Nationalpark, Polarwölfe in der kanadischen Tundra, Bären in den Bergen Russlands und im indischen Dschungel, Vielfraße in den Wäldern Finnlands. Dafür hat er zahlreiche Preise bekommen, darunter 2012 den „Oscar des Tierfilms“, den Wildscreen Panda Award, für den ersten Film über Lippenbären, die übrigens die Vorlage für Balu den Bären aus dem Dschungelbuch lieferten.
Und jetzt dreht er in seiner Heimatstadt – eine Dokumentation über die wilden Tiere Hamburgs. Das heißt: Kraniche im Duvenstedter Brook, Füchse am Obergeorgswerder Deich, Kreuzottern am Flughafen und Schwäne an der Außenalster.
„Ja, das ist schon was anderes“, sagt Nörenberg und grinst. Doch er hatte gerade eine Lücke, sein Filmpartner Oliver Goetzl, den er als Jugendlicher beim Umweltschutzverband DBV kennenlernte und mit dem er 2004 die Gulo Film Productions gründete, muss den aktuellen Film schneiden. Zurzeit liegt Goetzl aber noch im Tropenkrankenhaus – auf der letzten Reise hat er sich etwas eingefangen. Berufsrisiko.
„Der Stadtlärm ist schon enorm"
Anders als sonst karrt Ivo Nörenberg seine hollywoodtaugliche Kameraausrüstung für die NDR-Produktion „Expedition ins Tierreich“ also allein zu den Drehorten zwischen Alster und Elbe. Und verglichen mit anderen Tieren geht es bei den Graugansküken geradezu rasant zu. Drei Tage, jeweils zwölf Stunden, muss er warten, ehe Mutter Gans das Nest verlässt und die Jungen zusammen mit Vater Gans zum Sprung überredet. Auch ist auf dem Friedhof deutlich mehr los als im Dschungel. „Sonst ist es um mich herum viel ruhiger“, sagt Nörenberg. „Der Stadtlärm ist schon enorm, selbst auf dem Friedhof.“ Ansonsten höre er beim Warten gern Hörbücher. Immer mit einem Stöpsel, damit er mit dem anderen Ohr die Geräusche der Tiere wahrnimmt.
„Trotzdem macht es Spaß, einen neuen Blick auf meine Heimatstadt zu bekommen“, sagt Nörenberg. Dieser sei faszinierend – und gleichzeitig deprimierend. „Unsere Tiere haben nicht viel Platz in der Stadt. Und es ist erschreckend, wie viel Lebensraum weiter verloren geht.“
Zu gepflegte Gärten, zu viel Dünger, keine Wildblumen, Rhododendren statt Hecken und Laubhaufen, zu flache Zierteiche, in denen die Frösche im Winter erfrieren, moderne Häuser ohne Nischen und Vorsprünge, in denen Vögel brüten könnten. „Die Tiere aus meiner Kindheit verschwinden, es gibt kaum noch Kiebitze, Schwalben oder Feuchtwiesenvögel, immer weniger Igel, Schmetterlinge und Insekten“, sagt der Tierfilmer, dem auch das Füttern von Wildtieren ein Dorn im Auge ist. Davon würden nur die Arten profitieren, die eh schon verbreitet sind und die die anderen weiter verdrängen. Oder es bewirkt das genaue Gegenteil, wie beim Hundefutter, das Besucher auf dem Friedhof vor einem Fuchsbau verteilt hatten. „Es hat die Füchse vertrieben, weil diese Angst haben, dass es andere Raubtiere anlockt." Und die Stinte! Ein dramatischer Rückgang, der wiederum Auswirkungen auf Schweinswale, Seeschwalben und Robben hat. Für Nörenberg eine Folge des Ausbaggerns der Elbe.
Der Mensch hat vieles in der Hand
Der Mensch macht so viel falsch. Dabei könne er so viel richtig machen. Die Partei wählen, die die Natur bewahren will, Ökostrom beziehen und Bioessen kaufen. „Ich weiß, dass sich das nicht jeder leisten kann“, sagt Nörenberg. „Aber wenn einer einen Mercedes fährt und mir erzählt, ihm seien Biolebensmittel zu teuer, dann bin ich schon sprachlos.“
Nörenberg, der auch von einer Stadt nur mit Elektroautos träumt, kann ewig über dieses Thema sprechen. Das mag jetzt nach unsympathischem Weltverbesserer klingen, nach Belehrungen von oben herab, doch so ist Ivo Nörenberg nicht. Er weiß, wovon er spricht. Und dass er für die richtige Sache kämpft. Das macht er mit Leidenschaft. Seine Filme sind ein Weg, die Menschen zu informieren und ihnen die Augen zu öffnen.
„Man schützt nur, was man liebt“, sagt Nörenberg. „Darum müssen wir den Menschen zeigen, was es alles gibt.“ Wie viel Tierschutz in einen Tierfilm gehört, darüber diskutiert Nörenberg allerdings häufig mit Kollegen. Wenn es zu deprimierend werde, schalte der Zuschauer nach fünf Minuten ab. „Aber man kann ja auch nicht nur heile Welt zeigen“, sagt der Tierfilmer. Einen Mittelweg zu finden sei nicht immer leicht.
Wie viel Autofahren rechtfertigt ein Tierfilm?
Und auch er selbst sei im Zwiespalt: Zu seinen Drehs muss er fliegen, momentan fahre er viel zu viel Auto, um von einem Nest zum nächsten zu kommen. Wie viel Autofahren rechtfertigt ein Tierfilm? Das fragt er sich oft. Dabei fährt er keinen Jeep, wie man es sich klischeehaft vorstellen möchte, sondern einen Hybrid.
Darin geht es nun zum Obergeorgswerderdeich. In einem Haufen aus 4500 Jahre altem Holz, das bei Renaturierungsarbeiten gehoben wurde, soll eine Fuchsfamilie hausen. Nörenberg, der schon als Kind Taschenkrebse auf Sylt gesammelt und per sechs Meter langem Luftdruckauslöser Blaumeisen im heimischen Garten aufgenommen hat, hat an dem Holzhaufen eine Infrarotkamera mit Bewegungsmelder aufgestellt. Doch der Filmfallensteller hat Pech, die Kamera ist leer. Geduld, Geduld.
Tipps von Hamburgern
Doch manchmal muss man auch ganz schnell sein. In einem Schwanennest an der Außenalster auf Höhe des Hotels Atlantic sind die Jungen geschlüpft. Nörenberg hat die komplette Außenalster mit seinem Kajak abgepaddelt, um ein Nest zu finden. Seit zwei Wochen beobachtet er es schon, jetzt hat Schwanenvater Olaf Nieß angerufen, dass es so weit sei. „Ohne die Tipps von hilfsbereiten Hamburgern und Behörden könnte ich das nicht machen“, sagt Nörenberg. Doch er braucht noch mehr – und hofft dabei auch auf die Hilfe der Abendblatt-Leser. Nur so hat er das Rotkehlchennest in einem Briefkasten eines Hauses am Stadtrand gefunden. Oder das Krähennest mit der „Queen Mary“ im Hintergrund. „Ich muss dem Zuschauer ja zeigen, dass wir in der Stadt sind“, sagt Nörenberg. Das klappt nicht immer. Die Bilder von den Kranichjungen im Duvenstedter Brook, die im Morgennebel ihre ersten Schritte machen, sehen aus, als stammen sie aus der afrikanischen Savanne.
Sein erstes Tierbild machte er im Watt – von Flamingos
Doch die Schwanenfamilie hat sich netterweise mit Blick auf den Fernsehturm niedergelassen. Und nach nur etwa drei Stunden hat er die ersten guten Bilder im Kasten, inklusive eines Streits zwischen Schwanenmutter und einer Blässralle.
Ivo Nörenberg hat es schon immer in die Natur gezogen, wie er sagt. Für sein erstes Tierfoto lief er auf einer Klassenreise weit raus ins Sylter Watt, wo sich aus einem Zoo ausgebüxte Flamingos niedergelassen hatten. Sein Lehrer war alles andere als begeistert, der junge Ivo vollends von Tieren begeistert. Sein Vater, von Beruf Werbefotograf, brachte ihm das professionelle Fotografieren bei und führte ihn auf Radtouren durch die Wiesen und Wälder Hamburgs. Als Jugendlicher engagierte er sich bei der Vogelbeobachtungsstation in Fährmannssand bei Wedel. Alles andere brachte er sich selbst bei.
Trotzdem führte für ihn der Weg auch erst über die Werbefotografie, unter anderem für die Zeitschrift „Schöner Wohnen“. „Doch das war mir zu viel drinnen, ich wollte nach draußen“, sagt Nörenberg, der im Blankeneser Treppenviertel lebt. Er startete eine Ausbildung als Kameraassistent und konnte 1999 zum ersten Mal für einen Tierfilm drehen. Es ging ins „Wilde Masuren“ in Polen. Von dort führte kein Weg in sein altes Leben zurück. „Meinen Lebensplan bestimmen seitdem die Tiere“, sagt Nörenberg. Und das heißt, pro Film drei bis viermal im Jahr für Wochen oder Monate unterwegs sein und das über zwei bis drei Jahre. Kann man davon leben? „Man kann überleben“, sagt Nörenberg und lacht.
Schneeleoparden und Wölfe besonders beliebt
Sein Lohn sind vor allem die Erlebnisse mit den Tieren. Schneeleoparden und Wölfe haben es ihm besonders angetan und natürlich Vielfraße. Ja, es gibt tatsächlich ein Tier, das so heißt, der größte Land-Marder der Welt, wissenschaftlich „Gulo gulo“. Nörenberg und Goetzl haben ihn in Finnland aufgespürt, obwohl mehrere Tierfilmer vorher gesagt hatten, dieses Tier vor die Kamera zu bekommen, sei unmöglich. „Vielfraße sind wahnsinnig schlau, die klauen den Jägern heimlich das Fleisch aus den Fallen“, sagt Nörenberg. „Und sie haben einen unfassbaren Willen.“ Kein Wunder, dass er und sein Partner den Namen für ihre Filmproduktionsfirma gewählt haben.
Zutrauliche Wölfe
Das wohl größte Abenteuer für Nörenberg und Goetzl war bisher aber wohl der Dreh mit den Wölfen auf der kanadischen Insel Ellesmere Island. Auf der zehngrößten Insel der Erde leben gerade einmal 250 Menschen. Ansonsten gibt es schneebedeckte Tundra, so weit das Auge reicht. „Ein Hubschrauber hat uns dort im Nichts abgesetzt, mit einem Zelt und Proviant für zwei Monate“, erzählt Nörenberg. „Getrunken haben wir Schneewasser.“ Einmal am Tag mussten sie sich per Satellitentelefon melden, dass sie noch leben. Das Tolle an so viel Einsamkeit: Da die Wölfe quasi nie einen Menschen zu Gesicht bekommen, sind sie total zutraulich und kommen neugierig gucken. Die cremeweißen Tiere jagen zwar Moschusochsen und Schneehasen, Ivo Nörenberg und Oliver Goetzl sahen sie aber nicht als Beute. „Eine Wölfin ist sogar vor unseren Augen verhungert, anstatt uns anzugreifen.“
Doch auch hier war Geduld gefragt: Nachdem sie schon vom ersten Tag an eine Polarwolfsfamilie filmen konnten, ließen sich nach dem fünften Tag, an dem ein fremdes Rudel die Höhle überfallen und alle Welpen getötet hatte, wochenlang keine Tiere mehr blicken. Auch das ist Abenteuer.
„Tiere sterben überall weg"
Und selbst dort in der totalen Einöde hat er Umweltverschmutzung gesehen: alte Ölfässer, die einfach zum Rosten liegen gelassen wurden. Naturschutz wird auf der ganzen Welt missachtet, selbst in Nationalparks hat Nörenberg Wilderer beobachtet. „Tiere sterben überall weg“, sagt Nörenberg.
Doch vielleicht ist im abenteuerlichen Hamburg noch was zu retten. Bis zum Herbst ist Nörenberg hier noch unterwegs, dann hofft er auf Rehe bei der Brunft und Seehunde in der Elbe. Im kommenden Frühjahr geht es dann weiter. Über zwei Jahre werden die Dreharbeiten dauern – für am Ende 45 Minuten Film. Der Rest ist Warten.
Hinweise gesucht
Kennen Sie kuriose Orte in Hamburg, an denen sich wildlebende Tiere aufhalten? Wissen Sie, wo ein Fuchs, Dachs oder Iltis seinen Bau hat? Leben bei Ihnen Igel oder besondere Vögel? Dann melden Sie sich bei Ivo Nörenberg unter hamburgstiere@gmail.com. Auf Wunsch können die genauen Orte im Film unkenntlich gemacht werden.