Hamburg. Das Familienunternehmen ist 90 Jahre nach der Gründung der Branchenprimus in der Stadt – und besteht gegen Online-Konkurrenz.
Es ist ein Bild aus einer anderen Zeit. Das Schaufenster vollgestellt mit Büchern. Die neuesten Titel, ganz ohne Dekoration. Nichts, was ablenkt von der Leselust. Davor steht eine Passantin, fast wie versunken. Eine Straßenszene Ende der 1930er-Jahre in Eppendorf. Eine Welt in Schwarz-Weiß. Gerhard Heymann war gerade geboren, als das Foto der ersten Heymann-Buchhandlung aufgenommen wurde. Jetzt hängt es übergroß im heutigen Stammhaus des Familienunternehmens. Man kann das als Ausrufezeichen verstehen in einer Zeit, in der allerorten die Krise des gedruckten Buches ausgerufen wird. „Das Buch lebt“, sagt der Seniorchef des Hamburger Regionalfilialisten mit einem gewissen Nachdruck in der Stimme. Auch früher schon sei das Geschäft schließlich alles andere als einfach gewesen und nicht frei von existenziellen Notlagen.
Der Mann weiß, wovon er spricht. Die Buchhandlung Heymann gibt es seit 90 Jahren. „Man kann den Wind nicht ändern, aber die Segel anders ausrichten“, lautet einer der Wahlsprüche der Hamburger Buchhändler-Dynastie. Da passt es, dass sich die Heymanns zum runden Firmenjubiläum eine Runderneuerung der Läden in und um Hamburg verordnet haben. Der Umbau in der größten Filiale am Eppendorfer Baum ist gerade abgeschlossen. Roter Teppich auf drei Etagen, neue Regale aus sorgfältig abgestimmten Holzsorten, gemütliche Ecken und Leseinseln, sogar ein Kamin. Insgesamt 100.000 Titel auf 1000 Quadratmetern werden präsentiert. Die Kalender-Abteilung wurde vergrößert. Neu ist ein kleines Sortiment Musikalien und Schreibwaren. Am Treppenaufgang in die Familienabteilung im ersten Stock hängt das Foto des Ur-Betriebs. Tradition verpflichtet. „Eine Buchhandlung muss heute ein Erlebnisort sein“, sagt Heike Heymann-Rienau. Gemeinsam mit ihrem Bruder Christian führt die 54-Jährige das Kurt Heymann Buchzentrum in dritter Generation.
Heymann beschäftigt 200 Mitarbeiter
Von Ahrensburg bis Blankenese, von Bergedorf bis Winsen — mit 14 Ladengeschäften und einem Onlineshop versorgt Heymann Lesehungrige mit Literatur. 200 Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen, das inzwischen die größte inhabergeführte Buchhandlung der Stadt ist. 1928, als Kurt Heymann seine erste eigene Buchhandlung in Hamburg eröffnete, war das nicht einmal ansatzweise vorstellbar. Der HSV war gerade zum zweiten Mal Deutscher Meister geworden, Brechts Dreigroschenoper wurde in Berlin uraufgeführt und in den Boomjahren nach dem Ersten Weltkrieg bahnte sich die Weltwirtschaftskrise an. Heymann, gerade 28 Jahre alt, Buchhändler aus Leidenschaft mit großer Liebe zu Hermann Hesses Erstlingswerk „Peter Camenzind“ und Goethes „Faust“ übernahm am 1. Juli die Buchhandlung E. & Ch. Potthoff am Lehmweg. 1934 verlagerte er die Geschäftsräume an den belebteren Eppendorfer Baum. „Mein Vater lebte für Bücher und wollte Lieblingsbücher an die Menschen bringen“, sagt sein Sohn Gerhard Heymann.
Jetzt sitzt der 81-Jährige in dem kleinen Büro seines Sohnes im ersten Stock der Buchhandlung am Eppendorfer Baum schräg gegenüber des früheren Ladengeschäfts. „Es gab schwere Zeiten“, erinnert er sich an Krieg, Krisen und Papierrationierung. Während sein Vater nach 1945 auf dem Bau das Geld für die sechsköpfige Familie ranschaffte, verkaufte die Mutter Bücher aus der Privatwohnung. 1949 startete der Firmengründer in den zwischenzeitlich untervermieteten Geschäftsräumen neu. „Er hat mir freigestellt, ob ich in die Buchhandlung einsteigen will“, sagt Gerhard Heymann. Er wollte: 1958 übernahm der gelernte Buchhändler den Familienbetrieb und baute ihn aus. 1979 eröffnete er in Winterhude die erste Filiale außerhalb von Eppendorf.
Unternehmen setzt auf Konzept der Stadtteilbuchhandlung
Das heutige Stammhaus des Familienunternehmens ist seit 1982 das umgebaute Jugendstilgebäude an der Ecke Eppendorfer Baum/Hegestraße. In den folgenden Jahren übernahm Heymann diverse kleine Buchhandlungen, die keinen Nachfolger hatten. Statt auf Buchkaufhäuser mit immer größeren Flächen setzte der Familienbetrieb auf das Konzept der Stadtteilbuchhandlung. Und bewahrte im Wachstum Individualität. Das funktioniert. Heute gratuliert sogar die Konkurrenz zu dem weitsichtigen Konzept der mittelständischen Buchhandelskette. Aber natürlich stecken dahinter auch Zeiten mit harten Unternehmensentscheidungen, um sich gegen die großen Konkurrenten wie Thalia zu behaupten. „Wir wollten mit den kleinen Buchhandlungen die Kunden in den Stadtteilen halten“, sagt der Seniorchef, der sein Geschäft mit 65 Jahren an die Kinder übergab. Er betont auch die guten Beziehungen zu anderen Buchhändlern wie der Ottensener Buchhandlung Christiansen, die mit 140 Jahren sogar noch länger besteht.
Bücher als Teil der Nahversorgung, so wie Brot, Milch oder Gemüse. Was für eine sympathische Vorstellung. Vielleicht auch eine idealistische. Denn nicht nur Amazon, die Rund-um-die-Uhr-Bestellplattform, macht der Buchhandlung um die Ecke das Leben schwer. Auch die Zahl der Menschen, die Bücher kaufen wollen, sinkt kontinuierlich. Man könnte von einer Massenabwanderung sprechen. Nach einer aktuellen Studie im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels lag der Schwund zwischen 2012 und 2016 bei sechs Millionen auf 30,8 Millionen Buchkäufer, E-Books mitgerechnet. Besonders jüngere und mittelalte Menschen greifen immer seltener zum Buch, sind stattdessen online unterwegs, in sozialen Netzen, auf Spieleplattformen oder bei Videostreamingdiensten. Dass das Minus bei den verkauften Büchern vergleichsweise niedrig ist, liegt an einer anderen Entwicklung: Pro Käufer ist die Zahl der Titel gestiegen. 2012 waren es laut der Studie im Schnitt 10,8 Bücher, 2016 schon 12,2.
„Die Kunden, die kommen, sind bereit mehr auszugeben“, bestätigt Heike Heymann-Rienau den Trend. Auch deshalb hat das Familienunternehmen seine Filialen mit modernem Ladendesign ausgestattet und neue crossmediale Services wie den Buchfinder entwickelt. Allein die Investitionen in den Umbau des Eppendorfer Hauptgeschäfts liegen bei 750.000 Euro.
„Vor allem die jungen Leute wollen anders angesprochen werden, wollen sich selbst orientieren und brauchen eine andere Übersichtlichkeit des Angebots“, sagt die Geschäftsführerin. Auf der verwinkelten Fläche finden sich Leseempfehlungen einzelner Mitarbeiter, saisonale Themenschwerpunkte und eine Wand mit Lieblingsbüchern der Teams aller 14 Filialen. Wer will, kann ein Lieblingsbuch-Abo abschließen. „Man muss immer wieder neue Ideen für die Vermarktung haben“, sagt die Buchhändlerin, die den Bereich Personal verantwortet. Dahinter steckt mehr als bei Schrauben oder Nagellack. Eine Buchhandlung ist auch ein vertrauensbildender Ort. „Es geht darum, das Buch an den richtigen Käufer zu bringen.“
Umsatz liegt im zweistelligen Millionenbereich
Mit konkreten Unternehmenszahlen halten sich die hanseatischen Unternehmer zurück. Der Umsatz der Kette liegt nach eigenen Angaben im mittleren zweistelligen Millionenbereich. „Wir haben Umsatzsteigerungen“, sagt Heymann-Rienau, die seit 1986 in der Firma ist. Auch wenn Zuwächse von acht bis zehn Prozent der Vergangenheit angehören, sei man zufrieden mit stabilen und leichten Steigerungen. Laut des im Bundesanzeiger veröffentlichten Jahresabschluss 2016 erwirtschafte der Betrieb einen leichten Überschuss von 286.000 Euro. Wie bereits 2016 beteiligte die Familie auch im vergangenen Jahr seine Mitarbeitern mit einer Bonuszahlung am Erfolg. Vor allem die Belletristik läuft gut, aber auch Kinder- und Jugendbücher sowie Krimis. Wachstumsfaktor ist der Onlineshop, den immer mehr Kunden für ihre Buchbestellungen in die nächste Buchhandlung oder nach Hause nutzen.
Eine wichtige Rolle spielt die Literaturvermittlung. Seit den 1980er-Jahren bestimmt die Buchhandlung, die 2016 mit dem Deutschen Buchhandelspreis ausgezeichnet wurde, mit ihren Veranstaltungen das Leseprogramm der Hamburger mit. 60 Autorenlesungen, Abende mit Buchtipps, auch eine Programmreihe mit Literaturverfilmungen in Kooperation mit dem Abaton-Kino bietet das Team jedes Jahr. Heymann ist regelmäßig beim Harbour Front Literaturfestival dabei, wie auch beim Hamburger Krimifestival.
Loren kam zur Signierstunde, Wickert ist Stammkunde
Natürlich gibt es in neun Jahrzehnten auch Geschichten und Anekdoten in so einem Buchbetrieb. Zum Beispiel die von Sophia Loren, der Inhaber-Sohn Christian 1979 einen Blumenstrauß vor der Signierstunde im elterlichen Buchladen ins Hotel bringen sollte und der dann mit der Schauspiel-Ikone auf einem Foto im Hamburger Abendblatt landete. Oder die von dem ungarischen Autor Péter Esterházy. Eine Kundin war in der Eppendorfer Filiale auf der Suche nach einem seiner Bücher. Als sie zu dem Regal kam, stand dort ein Mann mit weißem Haar. Es war der Autor selbst, der ihr das Buch dann reichte. Journalist und Schriftsteller Ulrich Wickert ist regelmäßiger Kunde, und muss beim Besuch schon mal einen Stapel seiner Bücher signieren.
Bleibt die Frage, wie es weitergeht, in der neuen Zeit. Aus Sicht der Heymanns ist das Geschäft für die Zukunft gut aufgestellt. Auch eine Nachfolge an der Firmenspitze des Familienunternehmens ist bei fünf Urenkeln von Firmengründer Kurt Heymann nicht unrealistisch. Genau wie ihre Eltern und ihr Großvater sollen sie die Wahl haben. „Die Ausgangssituation hat sich stark verändert“, sagt Geschäftsführerin und Mutter Heymann-Rienau. „Früher war es Buchladen, jetzt ist es eine Unternehmen mit 200 Beschäftigten, das strategisch geführt werden muss.“