Hamburg. Matthias Pintscher dirigiert die klingende Utopie in der Elbphilharmonie. Verzicht auf waberndes Pathos.
Beethovens Neunte gibt es doppelt. Einerseits ist sie eins der populärsten Stücke des klassischen Repertoires überhaupt, plattgespielt und ausgeschlachtet – andererseits gilt diese Popularität einem Motiv aus wenigen Takten innerhalb der mehr als 70 Minuten Spielzeit. Den Hymnus „Freude, schöner Götterfunken“, den kann vermutlich jeder auf der Straße pfeifen. Der Rest des Werks aber ist knackig später Beethoven. Zersplittert, sperrig, eine Anstrengung, bisweilen eine Zumutung für alle Beteiligten, auch für das Publikum.
Damit das auch jeder merkt, beginnt der Wiener Arnold Schoenberg Chor bei seinem Musikfest-Gastspiel in der Elbphilharmonie mit einer ebenso harten Nuss. Das Chorwerk „Friede auf Erden“ hat der Namensgeber des Ensembles im Jahre 1907 komponiert, deutlich bevor er sich von der Tonalität abwandte und sich der Zwölftontechnik verschrieb. Dennoch verlangt „Friede auf Erden“ vom Chor höchste Virtuosität und von den Hörern die Bereitschaft, sich auf ständig wechselnde harmonische Bezüge einzulassen.
Ernüchternde Abstraktheit
Die allerersten Töne setzen die Sänger noch leicht tastend, aber dann sind sie in der Akustik und in dem vertrackten Stück angekommen. Singen in verzweifelten Stakkati von blutigen Taten und geharnischtem Streit, und selbst die versöhnlichen Passagen sind von ernüchternder Abstraktheit. Schönbergs Friede klingt nicht gerade nach Paradies.
Wie unverzeihlich, dass in den Pianissimo-Schluss eine eifrige Hörerin hineinklatscht und damit den nahtlosen Übergang zur Neunten torpediert, wie ihn der Dirigent Matthias Pintscher, gestisch unmissverständlich, haben wollte. Auch im Folgenden fühlt sich nach jedem Satz jemand bemüßigt zu applaudieren, obwohl im Programm die Bitte steht, darauf zu verzichten.
Die Sinfonie wird abgefackelt
Pintscher und das Mahler Chamber Orchestra lassen sich davon nicht beirren. Sie fackeln die Sinfonie regelrecht ab. Schneller dürfte die Neunte kaum je zu hören sein, und das in der atemberaubenden Perfektion, wie man sie von den von Claudio Abbado gegründeten Klangkörpern (wie auch dem Lucerne Festival Orchestra oder dem Orchestra Mozart) nicht anders gewohnt ist.
Das Gefühl bleibt bei dieser Leistungsschau ein wenig auf der Strecke. Zu Beethoven passt der kristalline, überpersönliche Charakter aber gar nicht schlecht. Packend wird das Stück durch die genaue Zeichnung der Stimmen, durch ungewohnte Klangfarben, durch den Verzicht auf waberndes Pathos. Und das Utopische, immerhin Motto des Musikfests? Zeigt sich besonders in den Vokalpassagen des Schlusssatzes. Die sind an der Grenze des Singbaren, selbst für ein so exzellentes Solistenquartett. Das ist, darf unterstellt werden, reinste Absicht vom Komponisten. Umsonst ist er nicht zu haben, der Götterfunke.