Hamburg. Jenisch, Sieveking, Petersen – diese Namen kennt fast jeder in der Stadt. Vierter Teil der Serie über große hanseatische Traditionen.

Hamburgische Geschichte lässt sich hier anfassen. Tatsächlich. Die gepolsterten Stühle im Wohnzimmer der Sievekings stammen ebenso wie der Tisch aus der Zeit des Hammer Hofs, eines früheren Domizils der Familie. Die wertvollen Stücke sind also gut und gerne 180 Jahre alt. Und im Schrank da­neben befindet sich Geschirr aus eben dieser Zeit – verziert mit dem Familien­wappen: ein dreiblättriges Kleeblatt, siebenstrahlige Sterne, ein Helm.

Bevor wir in vergangene Jahrhunderte eintauchen, lassen wir den Blick schweifen. Die hanseatische Villa im Herzen der Elbvororte ist von einem großen Garten umgeben. Gebaut wurde sie von Werner Sieveking, dem Bruder des ersten von der CDU gestellten Bürgermeisters der Nachkriegszeit, Kurt Sieveking. Die Einrichtung ist gediegen, keinesfalls protzig. Wer etwas darstellt, braucht keinen Pomp. Damals wie heute. Aktuell wohnt hier Werner Sievekings Sohn Karl mit Ehefrau Dietlind, einer Bayerin aus Schloss Elmau. Beide freuen sich über drei Kinder und sieben Enkel.

Karl Sieveking, ein hochgewachsener Jurist und Wirtschaftsprüfer von 80 Jahren, schüttelt kräftig die Hand. Anwesend sind zudem sein Sohn Johan sowie sein Vetter Arnold, in aktiven Berufsjahren einer der namhaftesten Notare Hamburgs. Einer wie der andere hat dem Rechtswesen unserer Stadt seinen Stempel aufgesetzt. Es gibt Tee, Kekse, Marzipan.

Ein Platz und zwei Straßen erinnern

Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Ursprünglich stammt die Sippe der Sievekings aus Westfalen. Bürger dieses Namens sind in Kirchenbüchern aus dem elften Jahrhundert verzeichnet. Sie lebten im Raum des Teutoburger Waldes. 1654 wurde Adelheid Sieveking als Opfer eines Hexenprozesses auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Hamburger Historie der Dynastie beginnt anno 1734, als der in Versmold bei Gütersloh ansässige Tuchhändler Peter Niclaes Sieveking nach Hamburg zog – der lukrativeren Geschäftsaussichten wegen. Bald drei Jahrhunderte ist das her.

Auch spätere Generationen waren von Kaufmannsgeist beseelt. Andere betätigten sich als Ärzte, Juristen, Theologen und Politiker. Ihr einnehmendes Wesen hinderte keinesfalls daran, Gutes zu tun. Wohltätiges Handeln für jene, die weniger besitzen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte.

Mehr als 200 Personen beim Familientreffen

Wie die 1794 geborene Amalie Sieveking bewies. Die ledige Hanseatin, eine gebildete Hauslehrerin, damals eine Ausnahme, hatte ein Herz für Arme und die christliche, soziale Nächstenliebe. Sie gilt als Mitbegründerin der organisierten Diakonie in Deutschland. Die unverändert aktive Amalie-Sieveking-Stiftung sowie das ebenfalls nach ihr benannte Krankenhaus in Volksdorf sind Beispiele des Wirkens. Vor allem während der Cholerazeit in Hamburg 1831 und 1832 leistete die couragierte Frau anpackende Hilfe.

„Ein Sohn ihres Bruders Eduard war übrigens Arzt“, wirft Arnold Sieveking in die Runde. Der promovierte Jurist mit Wohnsitz in Blankenese ist 82 Jahre alt. Mit zwei Kindern und vier Enkelkindern sorgt er ebenso wie sein Vetter Karl und andere dafür, dass der Familienname in Hamburg auch zukünftig vornehm präsent sein wird. Der erwähnte Mediziner mit dem an seine englische Wahlheimat angepassten Namen Edward Henry Sieveking wurde als Leibarzt der Britischen Königin Victoria und des Königs Edward VII. bekannt. Arnold Sieveking hat das Grab seines Vorfahren in London vor ein paar Jahren besucht.

Hamburg ist der Stammsitz der Sievekings

Zwar ist Hamburg nach wie vor Stammsitz der Sievekings, doch zogen weitere Mitglieder der Familie hinaus in die Welt. Zum bisher letzten Familientreffen in großer Runde kamen 1997 mehr als 200 Personen in das Alt Hamburger Bürgerhaus in der Deichstraße – auch aus England, der Schweiz, Australien, Chile und Guatemala. Nicht jeder sprach Deutsch. Mehrere Bücher widmen sich der Familiengeschichte. Es gibt Stammbäume und ein Geschlechterbuch. Die Verzweigungen zu verstehen ist eine Wissenschaft für sich.

Konzentrieren wir uns auf einige entscheidende Vertreter, die teilweise politische Weichen ebneten. Unter dem Strich stellten die Sievekings zwischen 1861 und 1957 vier Senatoren, von denen zwei auch Bürgermeister wurden: Friedrich und Kurt. Kein Wunder, dass in der Hansestadt heutzutage kaum ein Weg an den Sievekings vorbeigeht. Straßen und Plätze sind danach benannt; es gibt Büsten und Bilder und Schriftstücke zuhauf im Staatsarchiv.

Anno 1829 übernahm der wohlhabende Hamburgische Syndikus, Diplomat und Kunstmäzen Karl Sieveking das eingangs beschriebene Landhaus (Hammer Hof) und das 56 Jahre zuvor von Jacques de Chapeaurouge gekaufte Anwesen auf dem Gelände des heutigen Hammer Parks. Er war Mitbegründer des Kunstvereins und des Rauhen Hauses, einer 1833 ins Leben gerufenen Stiftung der Diakonie. Seitdem ist diese Institution eine Ehren- und Herzenssache der Familie. Verheiratet war Karl Sieveking übrigens mit einer de Chapeaurouge. Apropos: Über die Jahrhunderte kam es immer wieder zu ehelichen Verbindungen vor Ort wegweisender Familien.

So verwoben sich die Sievekings beispielsweise mit den Amsincks, Petersens, den Lorenz-Meyers, den Mönckebergs, den Mercks oder den Baurs. Siehe bisherige und künftige Teile dieser Serie. Es passt ins Bild, dass viele Mitglieder dieser Dynastien auch heute noch exzellente Kontakte pflegen. Man hat diese Verbindungen traditionell, spricht jedoch nicht darüber. So gehört es von jeher zum guten Ton des gehobenen Hamburger Bürgertums. Typisch Hamburg. Diskretion gehört zum Geschäft – im wahrsten Sinn des Wortes.

Was Vorfahr Friedrich Sieveking Mitte des 19. Jahrhunderts als Erster Bürgermeister begann, setzte Kurt Sieveking 1953 als Primus inter pares im Rathaus fort. Der Christdemokrat, Rechtsanwalt und Syndikus des Bankhauses Warburg wurde gut vier Jahre nach Gründung der Bundesrepublik als Nachfolger Max Brauers zum Bürgermeister gewählt. 1957 gewann die SPD eine absolute Mehrheit. Brauer kehrte zurück.

Das Mausoleum ist das älteste in Hamburg

Es ist verblüffend, wie detailliert die Mitglieder dieser Teestunde im Vorfrühling 2018 im Hause Dietlind und Karl Sievekings über die Vergangenheit ihrer Familie Bescheid wissen. „Das ist nicht nur eine Frage der Tradition, sondern auch des Herzens“, sagt Johan Sieveking, der Sohn des Gastgebers. Nach dem Zweiten Weltkrieg half Werner Sieveking, das Gebäude der Patriotischen Gesellschaft wiederaufzubauen. Mehrere Sievekings hatten dort den Vorsitz inne.

Als Kind im Haus seines Großvaters Werner Sieveking, in das regelmäßig auch Bürgermeister Kurt Sieveking mit seiner Familie kam, bewegte Johan die Familienhistorie nur am Rande. Aktuell ist sie für den 52-Jährigen von großem Interesse. Der ebenso wie sein Vater Karl und sein Ururgroßvater Friedrich, dem Namensgeber des Sievekingplatzes, in der Kanzlei Esche, Schümann, Commichau Am Sandtorkai (HafenCity) aktive Steuerberater hat einen zwölfjährigen Sohn und eine zwei Jahre ältere Tochter. Es handelt sich um die zehnte Generation, seit Urahn Peter Niclaes 1747 das Hamburger Bürgerrecht erlangte.

Ein Kapitel für sich

Ein Ölgemälde des Bürgermeisters Friedrich Sieveking hängt heutzutage in der Wohnung seines Nachfahren Peter Sieveking in der Parkresidenz Alstertal. Der promovierte Jurist und Notar im Ruhestand verfügt im Alter von 87 Jahren über ein famoses Gedächtnis. Seine beiden Kinder in Berlin und Potsdam sowie sieben Enkel können das bestätigen. So schildert der betagte, geistig äußerst rege Hanseat präzise den Werdegang seines Vaters Nikolaus.

Es ist ein Kapitel für sich. Daher in Kürze: Der Buchhändler, Bibliothekar und Privatgelehrte Nikolaus Sieveking hinterließ ein umfangreiches Schrifttum. Sein Tagebuch aus der Zeit des Nationalsozialismus wurde erst nach seinem Tod 1953 gefunden. Die Abrechnung mit dem NS-Regime, die den Autor früher Kopf und Kragen gekostet hätte, wurde nachgedruckt und ist in Buchform erhalten. Zu Recht sind die Sievekings stolz auf eine solche unbeugsame Persönlichkeit.

Es ist alles andere als ein Zufall: Das Mausoleum der Sievekings ist das älteste der Hansestadt. Es steht auf einer Anhöhe neben der Hammer Kirche. In diesem Dorf setzte Karl Sieveking 1829 eine Familiengeschichte fort, die längst nicht am Ende angelangt ist.

5. Teil am kommenden Freitag: Familie Schües