Entscheidende Veränderungen, aber auch viele Legenden: eine Rückschau und Einordnung aus drei Perspektiven. Von Insa Gall und Matthias Iken
Wie hat 1968 die Gesellschaft verändert – und was ist davon geblieben? Ein Gespräch mit Ex-Finanzsenator Wolfgang Peiner (CDU), dem früheren Altonaer Bezirksamtsleiter Hans-Peter Strenge (SPD) und dem Historiker Prof. Rainer Nicolaysen.
War 1968 eine Zeitenwende?
Wolfgang Peiner: 1968 war mehr als eine Episode, es hat zu Veränderungen in vielen Bereichen geführt, die sich bis heute auswirken – auch wenn nicht alles Wirklichkeit wurde, was sich die Protagonisten 1967/68 erhofft haben. Das Aufbrechen der Strukturen war überfällig, das sehe ich positiv. Ich war damals Gründungsmitglied einer Reform-Wahlgemeinschaft bürgerlicher Studenten bei den Wirtschaftswissenschaftlern. Wir waren mit Sicherheit nicht links, aber es war notwendig, die alte Ordinarienuniversität durch andere Strukturen abzulösen und mit neuen Inhalten zu füllen. Es gab allerdings nicht nur den Wunsch nach liberalem Aufbruch, sondern auch das Ziel, die Gesellschaft nach links zu rücken – viel Indoktrination und Besserwisserei bei dem damaligen SDS und den Kommunisten. Es hat gedauert, bis sich das zurechtgeruckelt hat.
Bei den Hochschulen waren die Veränderungen mit dem neuen Universitätsgesetz am sichtbarsten. Aber 1968 hat viele Bereiche des Lebens verändert.
Rainer Nicolaysen: 1968 ist zur Chiffre geworden für eine Entwicklung, die viel weiter reicht. Es fasst einerseits die Kernphase der Proteste 1967 bis 1969 zusammen, wobei der Begriff der „68er-Generation“ erst nachträglich, ab 1978, geprägt worden ist. Mit dem gleichen Recht hätte man auch von „67ern“ sprechen können, denn das einschneidende Ereignis für eine Verbreiterung der Bewegung waren die Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 und die folgenden Reaktionen. Historiker sehen „1968“ aber in einem noch größeren Kontext. Hier hat sich durchgesetzt, die Endsechzigerjahre als Kulmination der „langen 60er-Jahre“ zu verstehen, die vom letzten Drittel der 50er-Jahre bis ungefähr 1973/74 reichen – als ein dynamisches Jahrzehnt des Aufbruchs, in dem sich politisch und gesellschaftlich ein fundamentaler Wandel in Richtung Liberalisierung und Demokratisierung vollzog. Die Wurzeln vieler Entwicklungen, die 1968 sichtbar wurden, findet man schon in den zehn Jahren davor.
Peiner: Wobei das ja nicht nur ein deutsches Phänomen war. In den USA gab es die großen Vietnam-Demonstrationen, in der Tschechoslowakei den Prager Frühling, in Frankreich den revolutionären Mai 1968. Europa und die Welt waren im Aufbruch.
Nicolaysen: Für die westlichen Demokratien hieß es, das, was in den Verfassungen steht, auch tatsächlich zu leben. In unserem Grundgesetz von 1949 ist festgeschrieben, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte haben. Realität aber war in den 50er-Jahren etwa, dass Ehefrauen die Unterschrift ihres Mannes brauchten, wenn sie ein Konto eröffnen oder einen Arbeitsvertrag abschließen wollten. Wir können uns die Zeit vor dem Liberalisierungsprozess der langen 60er-Jahre heute kaum noch vorstellen, weil die damals errungenen Veränderungen für uns so selbstverständlich geworden sind.
Peiner: Das betraf nicht nur die Universitäten. Auch die Führungskräfte in den Unternehmen waren vielfach frühere Offiziere aus der Nazizeit; Menschen, die in autoritären Strukturen groß geworden waren. Die hatten bis weit in die 60er-Jahre das Sagen. Die ganze Autoritäts- und Führungskultur hat sich Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre verändert, von der Schule über die Universitäten bis zu den Unternehmen.
Nicolaysen: Ja, autoritäre Strukturen wurden in einer sich demokratisierenden Gesellschaft massiv infrage gestellt. Persönliche Freiheiten wurden wichtiger als Gehorsam. Das alles fand in einer sich rasant modernisierenden Gesellschaft statt. Denken Sie etwa an die neuen Möglichkeiten des Konsums, das Fernsehen als neues Medium, die Massenmotorisierung, das veränderte Freizeit- und Urlaubsverhalten, die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer, die Bildungsexpansion – um nur diese zu nennen. Besonders sichtbar wurden die Veränderungen auch in der Jugendkultur: Musik, Kleidung und Frisuren wurden zu Merkmalen eines neuen Lebensstils.
Peiner: All diese Veränderungen haben sich aber 1967/68 wie unter einem Prisma verdichtet – auch die Sicht auf das Dritte Reich beispielsweise. Die jüngere Generation hat plötzlich die Eltern gefragt: „Was habt ihr damals gemacht?“ Die Autorität manchen Vaters wurde damit von den Kindern hinterfragt. Das Hochschul- und Bildungssystem hat sich verändert. 1968/69 brachte einen Schub.
Unterm Strich wurde also die demokratische Verfassung, die die Bundesrepublik 1949 erhielt, mit Leben erfüllt?
Peiner: Das war das Ergebnis, damals allerdings nicht das Ziel vieler Protagonisten. Der Sozialistische Studentenbund (SDS) wollte nicht einen demokratischen, sondern einen linken Staat – womit er dankenswerterweise keinen Erfolg hatte. Vom Ergebnis her kam es aber zu mehr Mitwirkung, mehr Mitbestimmung – insgesamt einer Demokratisierung. Nicht umsonst reüssierte Willy Brandt 1969 mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“. Er hat damit die positive Dynamik der Bewegung genutzt.
Ist es überspitzt zu sagen, die 1968er waren auch die Wegbereiter des Terrorismus?
Hans-Peter Strenge: Pauschal kann man das nicht sagen. Aber es gibt Biografien wie die von Ulrike Meinhof, die im bürgerlichen Blankenese lebte und für die linke Zeitschrift „Konkret“ schrieb, sich dann aber immer weiter radikalisierte, bis sie in den Untergrund ging und sich der RAF anschloss.
Nicolaysen: Zunächst einmal: Die 68er waren nur bedingt eine Massenbewegung. Zum aktivistischen Kern zählten kaum mehr als 10.000 Menschen; der SDS hatte nie mehr als 4000 Mitglieder. Einige wenige wandten sich dann später der RAF zu oder auch dem Rechtsradikalismus. Das sehe ich aber nicht in der Studentenbewegung „angelegt“, es war ein extremes Abdriften, das eben in der Bevölkerung keine Unterstützung fand. Im Übrigen ist 1968 immer noch von vielen Legenden überzogen. Wir meinen ja, dass wir viel darüber wissen. Aber treffend hat der Historiker Norbert Frei vor zehn Jahren formuliert, das deutsche 68 sei „überkommentiert und untererforscht“. Das gilt mit Abstrichen auch heute noch, selbst wenn in diesem Jahr einige Bücher erschienen sind, die weitere Quellen erschließen und neue Ansätze bieten.
Mit welchen denn?
Nicolaysen: Unser Blick auf 1968 wird durch die immer gleichen Bilder bestimmt. Wir denken an Rudi Dutschke, an die Kommune 1, an Tumulte in Berlin und Frankfurt, an rebellische Studenten usw. In ihrer Gesellschaftsgeschichte der Revolte beschreibt Christina von Hodenberg jetzt beispielsweise, dass die Frauen stärker beteiligt waren, als man gemeinhin denkt. Dabei analysiert sie nicht nur die großen politischen Aktionen, sondern auch die Veränderungsprozesse im Privaten. Und hier steht dann nicht mehr der Generationenkonflikt im Mittelpunkt, sondern der Geschlechterkonflikt.
Herr Strenge, Sie begannen irgendwann, sich für praktische Kommunalpolitik in Altona zu interessieren, und wollten im Kleinen Konkretes verändern, statt über das Große zu sprechen.
Strenge: Ich bin 1970 in die SPD eingetreten, und bei den Jusos haben wir uns zunächst mit den Grundlagen des Marxismus beschäftigt. Irgendwann fand ich das Konkrete aber spannender. In Altona ging es um die City West und die Neue Heimat, die Riesenklötze an den Rainvilleterrassen bauen wollte. Dagegen sind wir aufgestanden, mit Transparenten in der Bezirksversammlung und vielem mehr. Bald habe ich mich dabei mehr zu Hause gefühlt als im studentischen Protest.
Sie traten den Marsch durch die Institutionen an. Wen hat dieser Marsch mehr verändert – die 68er oder die Institutionen?
Strenge: Man dunkelt ja nach in seinem politischen Leben. Insofern glaube ich schon, dass die Institutionen mich verändert haben, wobei ich bei bestimmten Grundannahmen geblieben bin, zum Beispiel zu Bauwagenplätzen, zur Flüchtlingsunterbringung auch in bürgerlichen Stadtvierteln und – ja – auch zur Roten Flora. Als Altonaer Bezirksamtsleiter war ich auch für Blankenese und den Falkenstein zuständig, hatte es beispielsweise mit Baurechtsansprüchen von Menschen zu tun. Keine Frage: In den Institutionen wirst du ein Stück weit in die Realität hineingezogen.
Wird 1968 heute nicht oft auch verklärt?
Peiner: Ich bin der Letzte, der etwas verklärt. Aber wir hatten bis dahin autoritäre Strukturen, die aufgebrochen wurden. Dass es dabei auch zu Fehlentwicklungen kam und das Pendel zwischenzeitlich zur anderen Seite ausgeschlagen ist, ist doch klar. Aber in deutschen Unternehmen, in den Bildungseinrichtungen, in der Kultur und bei den Medien ist es deshalb nicht zum Chaos gekommen – im Gegenteil: Es entstand viel Kreativität, Offenheit und Aufbruch. Auch das Rollenbild der Frau hat sich damals verändert.
Pegida und AfD stehen für das Gegenteil vieler dieser 68er-Werte. Der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer fordert eine bürgerlich-konservative Wende. Kommen jetzt die Anti-68er?
Nicolaysen: Anti-68er hat es ja immer gegeben. 1968 hat auch noch in seiner 50-jährigen Nachgeschichte polarisiert und war geschichtspolitisch umkämpft. Erst allmählich werden die damaligen Entwicklungen von Nachgeborenen jetzt stärker historisiert werden. Wie gesagt: Vieles, was damals erstritten wurde, ist uns inzwischen zur demokratischen Normalität geworden. Insofern sind wir im Kern eine gefestigte liberale Gesellschaft. Aber diese Errungenschaften müssen immer wieder neu mit Leben erfüllt und auch verteidigt werden. Vielleicht müssen wir uns manchmal stärker bewusst machen, dass unsere freiheitlichen Werte hart erkämpft sind.