Hamburg. Norddeutscher Regatta Verein wurde gegründet, um einen Ruder-Wettkampf auszurichten. Dann entdeckten die Gründer den Wind.
Der Blick oben aus dem neuen Clubhaus gibt dem Straßennamen schnell recht. „Schöne Aussicht 37“ – so lautet seit Jahrzehnten schon die Adresse des NRV, des Norddeutschen Regatta Vereins an der Außenalster. Man blickt hier weit über den aufgestauten Fluss, der sich dort so malerisch vor der Hamburger Stadtsilhouette ausbreitet und oft von weißen Segeln regelrecht übersät scheint. Segeln – das ist in Hamburg eben fast schon Breitensport. Gut 14.000 Mitglieder in knapp 70 Vereinen zählt der Deutsche Seglerverband in Hamburg. Und der größte und einer der ältesten Deutschlands ist der NRV, dem allein 2000 Segler angehören. 150 Jahre alt wird der Verein in diesem Jahr. Die Geschichte des NRV ist damit auch so etwas wie die Geschichte des Segelns überhaupt in Hamburg.
Wobei es eigentlich genauer „Freizeitsegeln“ heißen müsste. Als der NRV im November 1868 gegründet wurde, dürfte sich kaum jemand vorgestellt haben, wie viele Hamburger heute einfach nur so aus purer Freude oder Spaß am Wettbewerb mit Booten unterwegs sind. Segeln – das war Mitte des 19. Jahrhunderts eigentlich harte Arbeit auf Frachtseglern oder Fischkuttern. Nur eine kleine, eher elitäre Schicht entdeckte damals nach britischem Vorbild das „Herrensegeln“ für sich als Hobby. Man trat nicht im zerrissenen Fischerhemd an, sondern mit gebügelter Hose. Solches Segeln sei, so hieß es um 1895 im Brockhaus-Lexikon eine „Liebhaberei für vermögende Leute“.
Bürgerlicher Republikstolz
Und das war es zunächst in der Tat. Auf großen Yachten mit riesigen Segeln lieferten sich NRV-Mitglieder früher Jahre Regatten auch mit gekrönten Häuptern wie dem seebegeisterten Kaiser Wilhelm II. Man musste schon gut bei Kasse sein, um in solchen Kreisen mithalten zu können. Aber auch so etwas wie bürgerlicher Republikstolz zeigt sich in dieser NRV-Geschichte. Die Gründer nannten ihren Club Norddeutschen Regatta Verein – in bewusster Anlehnung an den gerade von Bismarck initiierten Norddeutschen Bund, der erste, aber noch sehr zarte Ansätze einer republikanischen Verfassung kannte. Und gern erzählen heute noch Vereinsmitglieder die Geschichte von Gründungsmitglied Heinrich Adolph Tietgens, der bei einem Atlantikrennen, entgegen den damaligen Gepflogenheiten, der kaiserlichen Yacht nicht den Vortritt ließ und dafür viel Ärger einstecken musste.
Allerdings hatte die eigentliche NRV-Gründung mit solchen Regatten noch nicht viel zu tun. „Zunächst war es eher das Rudern, das im Vordergrund stand“, sagt Carl Friedrich Schott. Der 71-Jährige ist so etwas wie ein inoffizieller Archivar des Vereins, seit er sich für das 125. Jubiläum tief in die Geschichte seines Vereins gegraben hatte. Als Kind schon segelte Schott auf der Yacht seines Vaters, ist ein erfolgreicher Hamburger Kaufmann, der in frühen Berufsjahren weltweit herumkam. Und natürlich ist er selbst Yachtmiteigner und begeisterter Hochsee-Segler, ein sehr typisches NRV-Mitglied wohl.
Auch die Gründer waren fast ausnahmslos Hamburger Kaufleute, die allerdings zunächst noch auf der Alster das Rudern als Herrensport betrieben, eher nebenbei besaßen einige von ihnen die ersten Hobby-Segelboote. Anlass für die Gründung war eine schlecht organisierte Ruder-Regatta. Ein neuer Verein, meinten viele, sollte das doch besser hinbekommen. Mitglieder aus drei Rudervereinen taten sich daher für eine Neugründung zusammen, allerdings schon auch mit dem Gedanken an neue Segelregatten. Und weil sie sich als eine Art Verband zur Organisation von Regatten für viele Clubs verstanden, gründeten die NRV-Urväter keinen neuen Club, sondern einen Verein und nannten ihn ganz bewusst „Norddeutscher“, wie Schott erzählt: „Die wollten sich regional nicht so abgrenzen.“ Alster gut und schön, die Hamburger Wassersportler schauten aber immer auch gern weiter.
Bald schon prägte das Segeln den neuen Verein. Mitgründer Tietgens, ein Kaufmann und Reedersohn, hatte sich früh in New York eine schnelle Yacht gekauft – eine Rennmaschine, würde man heute sagen, die er auf einem Frachtsegler an die Elbe holte. Andere Kaufleute zogen nach, die Schiffe wurden größer, die Regatten anspruchsvoller. Elbe, Nord- und Ostsee – das waren die großen Reviere mit norddeutschem Anspruch. Der NRV initiierte beispielsweise die Kieler Woche. Aber auch auf der Alster wurde immer gesegelt. Dann aber kamen der Erste Weltkrieg, die Revolution und die Inflation, die viele Werte vernichteten. Das Segeln mit kleineren Booten auf Alster und Elbe prägte in diesen Jahren dann eher das Regattageschehen, erzählt Schott. Bald wurden die Schiffe aber wieder größer, und man segelte auch wieder über den Atlantik.
Kleinere Boote traten in Vordergrund
Ähnlich die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. England als Besatzungsmacht konfiszierte größere Yachten, kleinere Boote traten in den Vordergrund. Zum Beispiel das offene Kielboot „Drachen“, das von 1948 bis 1972 olympisch war und als „Königsklasse“ bezeichnet wird. „Drachen“ werden heute noch im NRV viel gesegelt. Etliche Geschichten und Anekdoten ranken sich um diese wechselvolle Vereinsgeschichte. Schott kann viele davon erzählen: Von Vereinsmitgliedern, oft klangvolle Hamburger Namen, die mit kaufmännischem Geschick dazu beitrugen, dass der Norddeutsche Regatta Verein wieder aufblühen kann nach solchen Krisenjahren. Beim Aufbau der im Krieg zerstörten Vereinsvilla zum Beispiel. Oder von den zahlreichen internationalen Kontakten, die man hatte und sowohl geschäftlich als auch sportlich pflegte. Sie halfen auch, dass deutsche Segelsportler nach der Nazizeit bald wieder bei internationalen Wettbewerben vertreten waren.
In den vergangenen Jahrzehnten schließlich weitete der Verein sein sportliches Engagement weiter aus, wurde bei Förderung und Training von Talenten professioneller. Bei Meisterschaften sind NRV-Mitglieder oft vorne dabei, sei es auf schnellen Jollen oder bei Regatten auf hoher See. Und seit Gründung des NRV Olympic Teams durch den heutigen NRV-Kommodore Gunter Persiehl nach den olympischen Spielen in Sydney stehen NRV-Segler noch häufiger als früher auf dem Siegertreppchen bei Olympischen Wettbewerben. Der Nachwuchs dazu wird in der großen Jugendabteilung ausgebildet, es gibt zudem „Schnuppersegeln“ für Jugendliche und Kooperationen mit Schulen. Der NRV heute – das sei eben eine „traditionsreiche Seglerschmiede mit fantastischem Netzwerk“, sagt ein junger Segler begeistert, der bei der Jubiläums-Hochseeregatta zwischen Europa und Karibik mitsegelt.
Moderne und Tradition vereint
Moderne und Tradition vereint: Dem Norddeutschen Rrgatta Verein kann man nach wie vor nur auf Empfehlung beitreten. Auch auf angemessene Kleidung bei festlichen Anlässen legt man hier Wert. Doch längst hat sich der Verein weit zur Stadt geöffnet und ist kein kleiner Zirkel mehr. In der weißen Vereinshausvilla, die vor einigen Jahren nach einem Kabelbrand 2010 neu gebaut wurde, spürt man noch immer etwas von der alten Noblesse, die diesen Sport einst prägte. Segeln auf der Alster mag ein Vergnügen vieler geworden sein. Aber an der Schönen Aussicht ist es immer noch ein ganz besonderes.