Hamburg. Oberflächenverliebt und hart: Die Inszenierung mit Liedern von Till Lindemann. Hänsel und Gretel verirrten sich in Rammstein.
„Hänsel und Gretel“ von den Brüdern Grimm war wohl den meisten von uns als Kind eher unheimlich. Es zählt zu den Märchen, die sich im Grunde gar nicht für eine geruhsame Gutenachtgeschichte eignen. Handelt es doch von Eltern, die ihre Kinder aus Verzweiflung in den finsteren Wald schicken, wo sich deren Schicksal in Gestalt der bösen Hexe, die es nach Menschenfleisch dürstet, zu besiegeln scheint.
Wenn nun die estnischen Theatermacher Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo sich dieses Stoffes annehmen, ist klar, dass nicht vom Blatt gespielt werden wird. Ihre jetzt im Thalia Theater uraufgeführte Version von „Hänsel & Gretel“ ist durch und durch ein Märchen für Erwachsene, ein Albtraum aus Bild, Video, Kostüm und Maske.
Till Lindemann sorgt für unheimliche Tonspur
Es ist auch ein Pop-Märchen, was daran liegt, dass Till Lindemann, Sänger von Deutschlands erfolgreichstem Musikexport Rammstein, gemeinsam mit dem schwedischen Metal-Komponisten Peter Tägtgren von den Bands Pain und Hypocrisy für eine unheimliche Tonspur sorgt. Die gemeinsam mit Jakob Juhkam und Clemens Wijers entwickelte Soundcollage ist kein klassischer Metal, sondern überwiegend sanft grollendes, düsteres Untermalungs-Material.
Lindemann selbst tritt nicht live, sondern als Märchenonkel und „Phantom“ in Videosequenzen auf. Zum ersten Mal erscheint er als schwarzer König direkt aus dem Reich der Finsternis in der Wohnung der Familie, die zwischen Trailer-Park und Eisenbahnwaggon changiert, und blickt der von Gabriela Maria Schmeide gespielten Mutter teuflisch aus dem Spiegel entgegen. Nicht nur die grotesk mit Wülsten verunstalteten Gesichter aller Akteure hängen schief, auch um den Haussegen ist es nicht gut bestellt.
Die Familie ist nicht arm, aber man hat Begehrlichkeiten. Urlaub. Bionahrung. Zweitwagen. Die Mutter wünscht ein noch geileres, ein noch begüterteres Leben. Der von Tim Porath gespielte Vater versteckt sich einstweilen hinter einer Zeitungslektüre zum Thema „Grobe Gereiztheit“. Mehr aus Gier und Konsumwahn beschließt das Paar, seine Kinder Hänsel und Gretel loszuwerden.
Ein Doppelwhopper nach dem anderen
Die Geschwister, von Kristof Van Boven und Marie Jung weitgehend pantomimisch dauerstaunend gespielt, verirren sich zurückgelassen im Wald. Und treffen auf einen anderen Trailer-Wagen, in dem Björn Meyer als Hexe dauerschlemmt. In einer wirklich grandios gezeichneten Karikatur auf den US-Lebensstil des „White Trash“ zwängt er sich einen Doppelwhopper nach dem nächsten rein und freut sich seiner Fettpolster. Es beginnt ein munteres Burger- und Kuchenfressen.
Die beiden estnischen Regisseure greifen klassische Motive des Märchens auf, um zeitgenössische Konsumkritik zu liefern: Angst, Hunger, Kannibalismus und Tod. All das vergrößern sie auf riesigen Projektionsflächen. Körper wachsen sich zu unförmigen Monstergestalten aus. Zu degenerierten Horrorfiguren, denen man auch bei Tageslicht lieber nicht begegnen möchte. Bezug genommen wird auch auf das Grimmsche Märchen „Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst“.
Hier geht es um die Gier: Das Auflehnen eines von Gabriela Maria Schmeide gespielten Vogels gegen die herrschenden Verhältnisse führt darin zum Untergang aller. Ein durchaus fragwürdiges Plädoyer für das Bewahren der als ungerecht empfundenen Zustände einerseits, das aber auch als Statement gegen den Größenwahn verstanden werden kann. Rafael Stachowiak darf als Maus – nachdem Vogel und Bratwurst gestorben sind – den verirrten Geschwistern ein paar pseudokluge Lebensweisheiten in den dunklen Wald rufen.
Ein Pop-Märchen – etwas infantil
Semper und Ojasoo haben mit dem von ihnen 2004 in Tallinn gegründeten Teater No99 bei Gastspielen europaweit für Furore gesorgt. Auch Regiearbeiten am Thalia Theater wie „Fuck your ego“ und „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ hatten Erfolg. Nun hat der „Hänsel und Gretel“-Abend nicht die Fallhöhe eines Stücks etwa von Peter Handke, dennoch ist die Welt, wie Ojasoo, Semper und Lindemann sie entwerfen, schlüssig. Das Ergebnis ist ein durchaus unterhaltendes, technisch sehr faszinierendes, am Ende aber doch ein wenig infantiles Pop-Märchenvergnügen.
Das Theater von Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper erzählt sich kaum über Sprache. Es funktioniert über körperliche Präsenz. Man leidet mit Kristof Van Boven, der am Ende des drei Stunden langen Abends vielleicht drei Sätze gesprochen hat, aber lange schwer an einem Fatsuit trägt und fast ununterbrochen essen muss. Marie Jung als Gretel ergeht es wenig besser.
Das R wird teutonisch gerollt
Und Till Lindemann, der immer wieder in Live-Spielszenen hineingeblendet wird, tut, was er am besten kann: Grimmig von der Leinwand blicken, teutonisch das R rollen und mit Anspielungen auf Inzest und Sado-Maso-Spiele auch ein paar Provokationen einstreuen. Mal würgt er im Schulmädchenlook Nudeln und Milch herunter und wieder heraus. Mal beschwört er die Freuden der Knebelung und die Magie des Blutes. Liedzeilen wie „Ich liebe die Sonne, die Sonne liebt mich nicht“ stehen in bester – eher unterkomplexer – Rammstein-Tradition.
„Hänsel & Gretel“ will modernes Musik-Theater sein und bleibt doch mehr Video-Kunst als Theatererlebnis. Oberflächenverliebt. Und zugleich die eine oder andere Wahrheit verkündend.
„Hänsel & Gretel“ weitere Vorstellungen: 22.4., 8.5., jew. 20.00, 16.5., 19.30, Thalia Theater, Karten unter T. 32 81 44 44