Hamburg. Immer mehr Menschen arbeiten im Rentenalter. Javorka Cukovic jobbt als Gebäudereinigerin, weil sie das Geld braucht.
Sie kommt zu Fuß. Wie jeden Tag. Es ist ja auch nicht weit. Aber bei dem Wetter! „Brrrr“, sagt Javorka Cukovic und zieht die Schultern hoch. Heute ist ihr der Weg lang vorgekommen. Aber da ist nichts zu machen. Ein Auto hat sie nicht. Und einen Führerschein auch nicht.
Das Gesicht tief im Schal vergraben, stapft Javorka Cukovic in schweren Stiefeln zum Pförtner und meldet sich an. Geht schnell, man kennt sie ja. Schließlich kommt sie jeden Tag, Montag bis Freitag, immer zur gleichen Zeit. Halb vier. Um 15.45 Uhr beginnt ihr Dienst. Eine Viertelstunde noch, um ihre Sachen zu holen und sich umzuziehen. Javorka Cukovic geht am Eingang vorbei, einmal quer über den Hof, bis zum Büro der Tereg Gebäudedienste GmbH. Sie meldet sich an und greift dann zu dem Beutel mit der Nummer 33. In dem Wäschesack sind ihre persönlichen Putzsachen. Der Wischmopp und die Lappen in verschiedenen Farben. Los geht’s. Ihre Schicht hat begonnen.
708 Euro Rente im Monat
Im Keller des Haupthauses zieht Javorka Cukovic ihre dicke Jacke aus, hängt sie in ihren Spind und streift sich ein kurzärmeliges T-Shirt über ihren dünnen Pullover. Die langen Ärmel schiebt sie ein Stück hoch. Gleich wird ihr warm. Gleich, wenn sie von Etage zu Etage geht und die WCs reinigt. Eine Stunde und 45 Minuten. So lange dauert ihre Schicht. Früher hat sie das jeden Tag sechs Stunden gemacht. Geputzt. Aber als sie in Rente gegangen ist, hat sie ihre Stundenzahl reduziert. Voll arbeiten – das würde sie jetzt nicht mehr schaffen. 65 ist sie – und schwerbehindert. Ihr GdB, der Grad der Behinderung, beträgt 50 Prozent. Deswegen konnte sie früher in Rente gehen.
Sie hat sich alles genau ausrechnen lassen. Genau erklären lassen, dass sie aufgrund ihrer Behinderung die Altersrente zwei Jahre früher beziehen kann – oder sogar noch früher, wenn sie Abschläge in Kauf nimmt. Das hat sie getan, die Abzüge sind gering, sagt sie. 708 Euro Rente bekommt sie im Monat. Das reicht für Miete, Strom, Telefon und Rundfunkbeitrag. Für Lebensmittel reicht es nicht. Dafür geht sie arbeiten. 360 bis 390 Euro verdient sie sich so dazu.
Manchmal hat sie 30 oder 40 Euro übrig
Je nachdem, wie viele Arbeitstage der Monat hat. Damit kommt sie über die Runden. Manchmal, wenn sie besonders sparsam ist und nichts Unvorhergesehenes passiert, hat sie am Ende des Monats sogar noch etwas übrig. 30 oder 40 Euro vielleicht. Meistens reicht das Geld aber gerade so aus. 548 Euro Miete sind jeden Monat fällig. Für 64 Quadratmeter, mit einem kleinen Balkon. Seit 26 Jahren hat sie die Wohnung schon. Im Mai wird die Miete erhöht. Auf 573 Euro. Sie weiß, das ist normal. Für andere. Für sie allerdings nicht. Die 25 Euro werden ihr an anderer Stelle fehlen.
Eine Freundin hat ihr erzählt, dass sie Grundsicherung beantragen kann. Javorka Cukovic nennt das Sozialhilfe. Juristisch mag es nicht das Gleiche sein, Grundsicherung und Sozialhilfe – für sie aber schon: Hilfe vom Staat. Und die will sie nicht. „Solange ich kann, gehe ich lieber arbeiten als zum Sozialamt.“
Jeder Tag eine Überwindung
Schwerfällig steigt Javorka Cukovic die Treppen hoch. Ein Stockwerk, dann noch eins und noch eins. Sie fängt immer oben an und arbeitet sich von dort nach unten vor. Es ist leichter, den vollen Müllsack nach unten zu tragen als nach oben. Während sie ihren Lappen im Waschbecken nass macht, erzählt Javorka Cukovic, dass sie 1970 nach Deutschland gekommen ist. Aus Serbien, das damals noch zu Jugoslawien gehörte. Sie ist noch nicht mal 18, spricht kein Wort Deutsch. Es ist schwer für sie. Die neue Sprache, die neue Umgebung, die Arbeit in einer Schlachterei, in der Produktion. Und das alles mit einem Kleinkind! Jeder Tag eine Überwindung. „Hätte am liebsten sofort aufgehört. Musste aber ein Jahr bleiben. Sonst hätte ich keine Papiere bekommen“, sagt sie. Die Sprache bereitet ihr immer noch Probleme, auch nach fast 50 Jahren.
Während sie mit der einen Hand einen blauen Müllsack aufhält, greift sie mit der anderen in den Papierkorb neben dem Waschbecken, holt die benutzten Papiertücher heraus und stopft sie in den Müllbeutel. Fertig, weiter. Die Zeit ist knapp. Seifenspender kontrollieren, Handtücher nachfüllen, Spiegel abwischen und Toiletten sauber machen. Mit einem rosa Lappen wischt sie ein paar Urinspritzer vom WC-Sitz. Rosa ist für die Toiletten, gelb für die Waschbecken, blau für Tische und grün für die Küche. Grün braucht sie aber nicht. Es gibt keine Küchen, die sie sauber machen muss. Nur Toiletten. Die von den Herren. „Weil nachmittags ist“, sagt Javorka Cukovic und hebt ein paar heruntergefallene Klopapierfetzen auf. Sie sind benutzt.
„Bei den Frauen isses immer sauber“
Morgens, sagt Javorka Cukovic, werde bei den Frauen und Männern geputzt. Nachmittags nur bei den Männern. „Bei den Frauen reicht das einmal am Tag, da isses immer sauber. Bei den Männern nich.“ Wenn Javorka Cukovic in einem Raum fertig ist, stopft sie ihre Utensilien in einen großen Sack, greift sich Müllbeutel sowie Wischmopp und trägt alles die Treppe herunter zum nächsten WC. Eigentlich gibt es einen Putzwagen zum Rollen, auf den sie alles packen könnte. Aber damit müsste sie den Fahrstuhl nehmen. Und das will sie nicht. Sie hat Angst vor dem Aufzug. Weil sie mal stecken geblieben ist.
Im nächsten Waschraum ist eine Toilette verstopft. Ein gefaltetes Papierhandtuch schwimmt im Wasser. „Ist doch scheiße“, sagt Javorka Cukovic. „Wer macht so was bloß?“ Sie klappt den Deckel runter und stellt die Klobürste darauf. Damit niemand mehr draufgeht. Muss sich der Hausmeister drum kümmern, sie kann da nichts machen. Sie arbeitet gerne. Den ganzen Tag zu Hause rumsitzen, ne, das könnte sie nicht. Klar guckt sie auch mal gerne Fernsehen, am liebsten Kochshows. Aber doch nicht die ganze Zeit. Sie ist froh, wenn sie nachmittags noch mal rauskommt, zur Arbeit gehen kann.
Shoppen bedeutet „Geschäfte gucken“
Manchmal, wenn sie nichts zu tun hat, zieht sie sich gut an und fährt shoppen. Naja, nicht richtig shoppen. Denn das würde ja bedeuten, dass sie was kauft. Das tut sie aber selten. Shoppen bedeutet für sie: „Geschäfte gucken“, wie sie sagt. C&A, KiK und Woolworth mag sie am liebsten. Weil die Sachen da so günstig sind und niemand komisch guckt, wenn sie die Klamotten anfasst, den Stoff prüfend zwischen den Fingern reibt. Sie mag das Gefühl auf der Haut.
Irgendwann zum Geburtstag, letztes oder vorletztes Jahr, hat ihr eine Freundin 20 Euro geschenkt. Damit sie sich etwas Schönes kauft. Javorka Cukovic hat das Geld in eine Spardose – ein Werbegeschenk der Haspa – gesteckt und nicht wieder rausgeholt. Damit sie mal etwas für den Notfall hat. Damit nicht wieder so was passiert wie mit der Brille. 160 Euro hatte die gekostet. Javorka Cukovic musste ein Jahr dafür sparen.
Irgendwann war der Rücken kaputt
Auf dem Weg zum nächsten WC kommen ihr ein paar Männer entgegen. Sie machen Scherze, verabschieden sich voneinander. Sie haben Feierabend, frei. Javorka Cukovic noch nicht. Eine Stunde noch. Es ist ihr letzter Tag. Ab morgen hat sie Urlaub, drei Wochen lang. Seit sie schwerbehindert ist, stehen ihr fünf Tage mehr Urlaub zu. 32 Tage insgesamt. „Die Firma is echt korrekt“, sagt sie und nickt heftig mit dem Kopf. Ja wirklich, das sagt sie nicht nur so. Sie hatte auch schon ganz andere Arbeitgeber in ihrem Leben. Bei denen die Bezahlung schlecht war und die Arbeitsbedingungen. Unbezahlte Überstunden, Nachtschicht, miese Arbeitsplätze.
Mehr als 30 Jahre lang hat sie in einer Matratzenfabrik gearbeitet, Bezüge genäht. Acht Stunden mit gesenktem Kopf, kein Wunder, dass der Rücken da irgendwann kaputt war. „Sollte operiert werden“, sagt Javorka Cukovic und verzieht das Gesicht. Nee, nee, das kam für sie überhaupt nicht in Frage.
Den Sohn lange nicht gesehen
Sie hat einfach weitergemacht, immer weiter. Bis die Firma pleitegegangen ist, sie arbeitslos wurde. Sieben Monate lang. Himmel! Da will sie gar nicht mehr dran denken. Dieses Rumsitzen, nutzlos fühlen. Und das mit Mitte 40 gerade mal. Sie ist froh, dass eine Bekannte sie schließlich bei Tereg untergebracht hat. Was sollte sie auch sonst schon machen. Es ist keine Frage. Es ist eine Feststellung. Schließlich hat sie ja nie was gelernt.
Gleich, auf dem Heimweg, wird sie noch ein paar Sachen kaufen, für die lange Fahrt. Brot, eine Gurke, ein paar Karotten. Ein bisschen billigen Aufschnitt, verpackt. Sie fährt zu ihrem Sohn nach Serbien. Ist lange her, dass sie ihn zuletzt gesehen hat, fast ein Jahr. Öfter ist das einfach nicht möglich, sagt sie. 180 Euro kostet die Fahrt mit dem Bus. Wenn sie Donnerstagmorgen um 10.00 Uhr losfährt, ist sie etwa Freitagnachmittag da. Beim Zoll dauert es meistens lange, manchmal bis zu sechs Stunden, sie kennt das schon. Einmal in ihrem Leben ist sie geflogen. Da hatte sie vielleicht Angst! Macht sie nicht wieder. Die lange Busfahrt stört sie nicht. Sie hat ja Zeit.
Die Heimat ist ihr fremd geworden
Manchmal überlegt sie, ob sie vielleicht ganz zurückgehen sollte nach Serbien. Von ihrer Rente könnte sie da gut leben, sich vielleicht sogar selbst versorgen, so wie ihr Schwiegervater das tut. Mit ein paar Hühnern, einem Gemüsegarten. Und das mit 90 Jahren! Aber sie lebt schon zu lange in Deutschland. Die Heimat ist ihr fremd geworden. Und ihr Sohn irgendwie auch. 15 war sie gerade mal, als sie ihn bekommen hat. „War damals so“, sagt sie und zuckt mit den Achseln. Das tut sie immer, wenn ihr die Worte fehlen.
Sie spritzt WC-Reiniger in die Toilette und bearbeitet das Klo energisch mit der Bürste. Abspülen, fertig, das nächste. Und das nächste. Bücken, putzen, aufrichten, weiter. Runter, rauf, runter, rauf. Manchmal, wenn ihr der Rücken nach der Arbeit weg tut, nimmt sie eine Ibuprofen oder zwei. Das hilft. Sie richtet sich auf, wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Vor ein paar Tagen war sie beim Friseur und hat sich die Haar färben lassen, blond. Sie sind schon lange grau. 40 Euro hat sie bezahlt. Ein- oder zweimal im Jahr gönnt sie sich das.
Die Mutter war eine Fremde
Sie möchte gut aussehen, wenn sie zu ihrem Sohn fährt. Ist schwer für sie, darüber zu sprechen. Er war ja noch so klein, vier oder fünf. Da hat sie ihn abgegeben. „Wollte lieber mit seiner Oma zurück nach Serbien gehen, als hier bei mir in Deutschland zu bleiben“, sagt sie. Sie kann das verstehen, wirklich. Schließlich hat sich ihre Schwiegermutter um den Kleinen gekümmert, während sie gearbeitet hat. Sie zuckt mit den Achseln. Ging eben nicht anders, als sie damals alle zusammen nach Deutschland gekommen sind. Solange sie hier waren, war ja auch alles gut. Aber dann hat die Schwiegermutter Deutschland verlassen – und der Kleine ist mit. Er wollte nicht bei seiner Mutter bleiben, die nie zu Hause war. Sie war eine Fremde für ihn. „Mein Gott, das war schwer!“
Javorka Cukovic klickt ihren Feudel auf den Klapphalter und fängt an, den Boden zu wischen. Vor der Tür des Waschraums schiebt sie Sandkörner, Papierfetzen und Haare zu einem kleinen Haufen zusammen, kniet sich nieder und hebt alles mit einem Papierhandtuch auf. Es ist ein gebrauchtes, aus dem Müllsack. Wäre ja schade, ein neues zu nehmen.
Sie kauft nur bei Aldi oder Lidl
Sie spart. Kauft nur bei Aldi oder Lidl, die sind bei ihr um die Ecke, da kann sie zu Fuß hin. Zu Penny müsste sie mit dem Bus fahren. Das würde dann extra kosten. Nach den Ferien will sie sich darum kümmern, dass sie ein G in ihren Behindertenausweis bekommt. G steht für erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Für Menschen, die Wegstrecken nur mit Schwierigkeiten bewältigen können. Wenn sie ein G hat, kann sie kostenlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Das würde ihr helfen.
Am Monatsanfang bekommt sie ihre Rente. Doch bis zum nächsten 1. des Monats reicht das Geld nie. Zum Glück zahlt Tereg pünktlich, um den 15. herum. 10,30 verdient sie pro Stunde. 1,46 Euro mehr als den Mindestlohn. Sie ist in der niedrigsten Lohngruppe des Gebäudereiniger-Handwerks.
Fünf Stunden Arbeit für 54 Euro
Fünf Stunden muss sie arbeiten, bis sie die 54 Euro zusammen hat, die sie jeden Monat am dringendsten benötigt. Nicht für Lebensmittel. Sondern für eine Versicherung. Eine Sterbeversicherung. Sie will, dass ihre Familie abgesichert ist, wenn es so weit sein sollte. Damit niemand auf den Kosten sitzen bleibt. Sie weiß schließlich, was das alles kostet. Vor ein paar Jahren ist ihr Mann gestorben. Da hat sie gesehen, wie teuer eine Beerdigung ist. Sie schnalzt mit der Zunge.
Macht ihr nichts, darüber zu sprechen. Sie haben sich schon vor langer Zeit getrennt. Deswegen bekommt sie auch keine Witwenrente. Manchmal fragt sie sich, ob sie heute noch mal so handeln würde. An das Geld hat sie damals gar nicht gedacht, heute schon. Aber trotzdem! „War keine Liebe mehr, nur noch Streit“, sagt sie. Ging einfach nicht mehr. Daran hätte auch das Geld nichts geändert.
Etwas Besonderes zu Ostern
Sie ist im Keller angekommen. Die letzte Toilette. „So, meine Klos, jetzt seht ihr mich drei Wochen nicht“, sagt sie und lacht. Sie hat meistens gute Laune. Warum jammern? Für Ostern hat sie sich etwas Besonderes vorgenommen. Sie wird an ihre Spardose gehen. Etwas für die Mädchen kaufen. Ihre Enkelkinder. Na ja, eigentlich sind es ja schon ihre Urenkelkinder. Aber Javorka Cukovic nennt sie nur ihre Enkel. Oder „die Mädchen“. Sechs und neun Jahre alt.
Das Wichtigste in ihrem Leben. Sie wohnen gleich um die Ecke. So ein Glück. Zweimal in der Woche machen sie etwas zusammen. Gehen auf den Spielplatz oder so. Irgendwohin, wo es nichts kostet. Die Zeit mit ihnen entschädigt sie für die verlorenen Jahre mit ihrem Sohn. Sie weiß noch nicht, was sie für die Mädchen kauft. Vielleicht ein paar Schokoeier. Egal was, Hauptsache, sie macht den beiden eine Freude. Dass sie dafür an ihre Notfallreserve geht ... Sie winkt ab. Das ist es wert.
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