Hamburg. In einer E-Mail an die SPD-Abgeordneten schließt der Fraktionschef einen späteren Wechsel in das Amt aber nicht aus.

Es waren aufreibende und schwierige Tage für Andreas Dressel. Am Ende stand eine Entscheidung, die dem Vorsitzenden der SPD-Bürgerschaftsfraktion alles andere als leicht gefallen ist: der Verzicht darauf, als Erster Bürgermeister Nachfolger des scheidenden Olaf Scholz zu werden. In einer E-Mail an die SPD-Abgeordneten, die dem Abendblatt vorliegt, nimmt Dressel zu den Gründen Stellung, die zu seiner Entscheidung führten und meldet zugleich – zumindest indirekt – Ansprüche für die Zukunft an.

Dressel hat sich intensiv vor allem mit der Familie beraten

„Natürlich habe ich in den vergangenen Tagen intensiv mit der Parteiführung, aber eben vor allem auch mit meiner Familie abgewogen, ob und wie zum jetzigen Zeitpunkt auch der unmittelbare Schritt in die Position des Bürgermeisters machbar ist und ob ich diesen Schritt in einer Situation mit drei kleinen Kindern gehen kann und vor allem wirklich will“, schreibt Dressel, der seinen Verzicht auf das Amt des Bürgermeisters mit seiner familiären Situation begründet hatte. Dabei spielt auch eine Rolle, dass seine alleinstehende 79 Jahre alte Mutter plötzlich und unerwartet schwer pflegebedürftig geworden ist.

„Es hat mich in diesem Zusammenhang sehr berührt, dass mir das sehr viele zugetraut haben – aber letztlich ist das vor allem eine höchstpersönliche Entscheidung, die ich zu respektieren bitte“, schreibt der SPD-Politiker weiter. Gerade in der SPD-Fraktion war die Unterstützung für Dressel als Scholz-Nachfolger besonders groß gewesen.

Umweg vereinbart

Bemerkenswert ist an Dressels Worten allerdings, dass er „zum jetzigen Zeitpunkt“ nur den „unmittelbaren Schritt in die Position des Bürgermeisters“ ausschließt. Einen möglichen Umweg an die Senatsspitze zu einem späteren Zeitpunkt haben Parteiführung und Landesvorstand jetzt sogar vereinbart: Dressel soll als Finanzsenator in die rot-grüne Landesregierung wechseln.

Der Noch-Fraktionschef sieht darin offensichtlich auch einen möglichen Zwischenschritt auf dem Weg zu höheren Aufgaben, denn er schreibt an seine Fraktionskollegen: „Dabei ist zu berücksichtigen, das ich schon lange den mit Olaf Scholz verabredeten Plan hatte, in der zweiten Hälfte dieser Wahlperiode aus dem Amt des Fraktionsvorsitzenden, das ich seit sieben Jahren bekleide, in das Amt eines Senators zu wechseln, auch um bislang fehlende Erfahrungen in der Leitung einer wichtigen Behörde zu sammeln.“

Für die Leitung der Behörde am Gänsemarkt („Das wichtigste Ressort im Senat“) sieht sich Dressel gut vorbereitet. „Ich könnte meine parlamenta­rischen Kenntnisse aus allen Politik­bereichen mitnehmen und dabei an vieles anknüpfen – z. B. habe ich selbst gemeinsam mit Grünen und FDP 2013 die Schuldenbremse für die Hamburger Verfassung entworfen und dort verankert, die weiterhin Orientierungsrahmen für uns alle ist“, schreibt Dressel.

Warum das späte Nein?

Dennoch: Der SPD-Fraktionschef hatte über Wochen als Favorit für die Scholz-Nachfolge gegolten. Auch die meisten Sozialdemokraten waren von der Entscheidung für Finanzsenator Peter Tschentscher als neuen Ersten Bürgermeister am Freitag völlig überrascht worden. Nicht wenige fragen sich daher, warum Dressel so spät abgewunken hat, zumal sich seine familiäre Situation nicht kurzfristig verändert hat.

Selbst als sich am Donnerstagabend der vergangenen Woche der engste Führungskreis der SPD traf, um die Bürgermeister-Frage zu entscheiden, waren einige Teilnehmer überrascht, als Dressel seinen Verzicht dort erklärte. Sicher ist, dass sich der Fraktionsvorsitzende in den zurückliegenden Wochen mit vielen Wünschen und Forderungen nicht zuletzt von Parteifreunden für den Fall konfrontiert sah, dass er Bürgermeister würde.

Stark konsensorientiert

Vielleicht ist Dressel, der ein stark konsensorientierter Politiker ist, deutlich geworden, dass er als Bürgermeister viele enttäuschen müsste. Aus der SPD ist auch der Hinweis zu hören, dass die schlechten aktuellen Umfragewerte Dressel beeindruckt haben sollen. Vielleicht haben diese Aspekte auch dazu beigetragen, dass Dressel erst zögerte und dann verzichtete.

Olaf Scholz hat, anders als es sonst sein Stil war, die parteiinterne Diskussion weitgehend laufen lassen. Auch bei dem Treffen im Rathaus am Donnerstagabend sprach sich Scholz nicht für einen Kandidaten oder eine Kandidatin aus – auch Sozialsenatorin Melanie Leonhard zählte zum Kreis der möglichen Aspiranten. Allerdings hatte Leonhard schon früh deutlich gesagt, dass sie nicht zur Verfügung steht – ebenfalls wegen ihrer familiären Situation.

Olaf Scholz: „Wir sollten niemanden überreden“

Allerdings betonte Scholz, dass ein Bürgermeister „Nervenstärke“ benötige. „Er muss das Amt auch wollen. Wir sollten da niemanden überreden“, sagte der Noch-Bürgermeister. Wer wollte, konnte das auf Dressel beziehen. Er wäre wohl Bürgermeister geworden, wenn er gewollt hätte. Tschentscher hingegen hatte intern deutlich werden lassen, dass er gegebenenfalls bereitstünde ...

In der Sitzung des SPD-Landes­vorstands schlugen am Freitagabend die Wellen hoch. Der SPD-Mitte-Chef
Johannes Kahrs, der sich offenbar auf Dressel eingestellt hatte, versuchte energisch den Mitte-Politiker Dirk Kienscherf als neuen Fraktionschef und Teil des Personalpakets durchzusetzen, das auch Leonhard als neue Parteichefin einschließt. Das aber misslang.

Dressel ist nach den dramatischen Stunden erst einmal für ein paar Tage nach Föhr gereist – mit der Familie selbstverständlich.