Sie ist die Chefin von HamburgWasser. Heiner Schmidt über eine Französin mit ausgesprochen wendungsreicher Karriere.

Bevor Nathalie Leroy in die gelben Gummistiefel mit Stahlkappe steigt, streift sie schnell noch wärmende Füßlinge über. „Ich lebe inzwischen länger in Deutschland als in Frankreich, aber an das Wetter habe ich mich noch immer nicht gewöhnt“, sagt sie und lächelt, wie um sich zu entschuldigen. Dafür gibt es nun wirklich keinen Anlass. Ein Baustellenbesuch in der Hamburger Unterwelt mitten im Winter ist ja nicht gerade ein Vergnügen: Helm auf, orangefarbene Warnweste über die dicke Jacke, dann geht es in einem ruckeligen, offenen Aufzugkorb gut 20 Meter tief in einen Schacht an der Ecke Sievekingplatz und Holstenwall. Immerhin weht hier unten der Wind nicht so eisig.

Vom Schacht aus verlaufen Rohre Richtung Alster und Elbe, Ende dieses Jahres – so ist es geplant – wird Abwasser durch sie ins Klärwerk strömen. Die Röhren haben 1,80 Meter Durchmesser und gehören damit zu den größten Sielen in der Stadt. Nathalie Leroy passt da trotz des Bauhelms locker aufrecht rein. Sie muss noch nicht mal den Kopf einziehen. Und sie kennt sich gut aus da unten, obwohl sie ja eigentlich eine „Finanzfrau“ ist, wie sie selbst sagt. Aber wenn man schon seit mehr als fünf Jahren zur Geschäftsführung von HamburgWasser gehört, dann ist einem wenig fremd in den Tausende Kilometer langen Netzen von Trinkwasserleitungen und Sielen der Hansestadt, von Mischwasserkanälen und Regenwasserrohren.

"Ich will die Spezialisten nicht von der Arbeit abhalten"

Obwohl: Besonders häufig ist die 45-Jährige nun auch wieder nicht unterwegs in den Tiefen der Stadt. Es erscheint ihr nicht notwendig. „Hier arbeiten Spezialisten. Die wissen besser als ich, was zu tun ist, und ich will sie nicht von der Arbeit abhalten.“ Nathalie Leroys Job ist es, den Überblick zu haben und die Leitlinien zu bestimmen für das städtische Unternehmen, das 1,8 Millionen Hamburger mit Trinkwasser versorgt und zugleich das Abwasser Hunderttausender Haushalte und Unternehmen entsorgt. Seit Anfang 2013 hat sie das als kaufmännische Geschäftsführerin im Duo mit Michael Beckereit getan. Als der in den Ruhestand ging und zugleich ein neuer technischer Geschäftsführer kam, ist Nathalie Leroy Anfang des Jahres zur Sprecherin der Geschäftsführung aufgestiegen und jetzt so etwas wie Hamburgs „Frau Wasser“.

„Erstmals in einer deutschen Metropole rückt eine Frau an die Spitze eines großen öffentlichen Wasser- und Abwasserunternehmens“, betonte Umweltsenator und Aufsichtsratschef Jens Kerstan (Grüne), als die Personalie Mitte vergangenen Jahres bekannt gegeben wurde. Für Nathalie Leroy sind Frauen in Führungspositionen eine pure Selbstverständlichkeit. Aber eine Französin an der Spitze eines öffentlichen deutschen Unternehmens ist eben auch noch kein Alltag. Es war ein Weg mit überraschenden Wendungen, der Nathalie Leroy dorthin geführt hat.

Nathalie Leroy war natürlich Klassensprecherin

Die ersten Lebensjahre verbrachte sie in der Nähe von Paris, dann zog die Familie in den Südwesten des Landes, in die Weingegend um Bordeaux. Nach der Schule – natürlich war sie Klassensprecherin – das Wirtschaftsstudium. „Weil ich gern Verantwortung übernehme, weil es mir Spaß macht, etwas zu bewegen und zu gestalten.“ In Frankreich ist die intensive Vorbereitung auf Führungsaufgaben ein Teil des Studiums.

Bordeaux, Nantes, schließlich für ein Jahr das spanische Bilbao sind ihre Studienorte. Dort geschieht, was dem Leben der jungen Französin die entscheidende Wende gibt: Sie lernt einen jungen Deutschen kennen – angehender Jurist – und folgt ihm nach ihrem Abschluss nach Berlin. „Es war ein Kulturschock. Ich kannte niemanden, ich konnte kein Wort Deutsch.“ Und natürlich auch: dieses Wetter!

Von KPMG zu den Babelsberger Filmstudios

Die Finanzfrau muss noch einmal auf die Schulbank, um Deutsch zu lernen, dann heuert sie bei der Beratungsfirma KPMG an, wechselt von dort auf den Posten der kaufmännischen Leiterin der Babelsberger Filmstudios. Als es dem Unternehmen wirtschaftlich schlecht geht, gehört Nathalie Leroy zu einer Gruppe von Führungskräften, die ein Management-buy-out anbietet, die Übernahme der Firma durch leitende Angestellte. Doch ein anderer Bewerber bekommt den Zuschlag. Damit ist klar: Sie muss sich einen neuen Job suchen.

Das führt zur nächsten entscheidenden Wende. Nathalie Leroy wechselt von der Kreativ- in die Ver- und Entsorgungswirtschaft. In der Deutschlandzentrale des französischen Konzerns Veolia ist sie zunächst für dessen Beteiligung an der Wasserversorgung in Berlin zuständig, dann für die Finanzen der gesamten Veolia-Wassersparte in Deutschland. Schließlich der vorerst letzte Seitenwechsel: aus der Privatwirtschaft zu einem öffentlichen Unternehmen.

Das klassische Ehe-Modell – nur umgekehrt

Zwischendurch ist aus dem Paar eine Familie geworden, Nathalie Leroy Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Heute sind beide im besten Teenageral­ter. Weil die Juristenausbildung viel länger dauert als ein Wirtschaftsstudium, ihr Mann noch am Beginn der Karriere steht und Betreuungsangebote dünn gesät sind, treffen die jungen Eltern eine pragmatische Entscheidung: Der Vater kümmert sich vorwiegend um die Kinder, die Mutter verdient das Geld. „Es war das klassische Modell, nur eben umgekehrt“, sagt Nathalie Leroy. Und manche der Reaktionen darauf seien „sehr, sehr überraschend“ für sie gewesen.

Auch deshalb ist es für sie selbstverständlich, dass der Arbeitgeber HamburgWasser viel tut, damit die Mitarbeiter Beruf, Freizeit und Familie nach ihren Vorstellungen miteinander vereinbaren können. „Natürlich gibt es Home­office-Regelungen, Job-Sharing und Teilzeitmodelle auch für Führungskräfte. Das nutzen bei uns Frauen und Männer. An neuen Arbeitszeitmodellen müssen und werden wir immer weiter arbeiten.“ Es ist zugleich ein Teil der Antwort auf eine der drängendsten Fragen im Unternehmen: Wie können wir gute Leute als Mitarbeiter gewinnen? Der Bedarf ist groß: In den nächsten elf Jahren geht bei HamburgWasser etwa die Hälfte der gut 2200 Beschäftigten in den Ruhestand.

Und dann die Digitalisierung. Es wird in absehbarer Zeit Wasseruhren geben, die Verbrauchsdaten automatisch weiterleiten, es wird aber auch den intelligenten Regenwasserkanal geben, der Alarm schlägt, wenn ein Gully verstopft ist. Dann wäre die zeit- und geldraubende regelmäßige Kontrolle und Reinigung überflüssig. „Wir werden durch die Digitalisierung gewaltige Sprünge machen“, ist Nathalie Leroy überzeugt.

Nun ist so ein Sielbau gelinde gesagt etwas weniger kreativ und glamourös als die Welt der Babelsberger Film- und Fernsehschaffenden. Das sieht auch Hamburgs erste Frau Wasser so, aber sie findet „viel spannender“, was sie heute tut. „Beim Film ist man sechs, neun Monate mit einem Projekt beschäftigt, dann nie wieder. Hier bauen wir auch für die nächsten Generationen. So ein Siel muss lange halten, das ist eine viel größere Verantwortung.“

Im Urlaub entflieht sie gern dem Hamburger Wetter

Die Stadt wächst, neue Leitungen und Siele müssen verlegt und gebaut werden, zugleich kommt das Netz zunehmend in die Jahre. Vieles aus den Nachkriegsjahren muss mindestens saniert, manches schon erneuert werden. Die historische Dimension eines Projekts wie am Holstenwall wird Nathalie Leroy angesichts von Abwasserleitungen bewusst, die vor 130, 140 Jahren durch den Hamburger Untergrund getrieben wurden und noch heute genutzt werden. „Man erkennt sehr gut, wie sinnvoll damals geplant wurde. Und ich hoffe, man wird in 130 Jahren sagen, dass es gut überlegt war, was wir heute hier tun.“

Von den Akten auf ihrem Schreibtisch („Ich baue Stapel, weiß aber genau, wo ich was finde.“) in der HamburgWasser-Zentrale in Billbrook kommt sie selten vor 18 Uhr los. Ihre wasserfreien Stunden verbringt Nathalie Leroy gern in der Oper. Sie mag John Neumeiers Ballett und Konzerte, mal Klassik, mal Depeche Mode. Sport? „Das übliche: joggen, schwimmen, Yoga. Um fit zu sein, aber ohne besonderen sportlichen Ehrgeiz.“

Was sie derzeit schmerzlich vermisst, ist die Zeit fürs Lesen (Thomas Mann, Marcel Proust, die großen Russen und immer wieder „Anna Karenina“). „Ich komme leider fast nur noch im Urlaub dazu.“ Dann sind das spanische Festland und die Kanaren stark bevorzugt. „Ich brauche einfach die Sonne und die Wärme.“