Hamburg. Der Intendant der Salzburger Festspiele über die Bedeutung der Elbphilharmonie und die Gefahr, das Publikum zu unterfordern.

Markus Hinterhäuser, seit letztem Sommer Intendant der Salzburger Festspiele, ist nicht nur auf den ersten Blick extrem unauffällig, er spricht leise und wohltemperiert und fein abgewogen. Letzteres gilt auch für seine Programmgestaltung, die dem wichtigsten Sommer-Festival der Welt eine spannende, inspirierende neue Ausrichtung gab. „Auch Erwartbares kann einen Stachel haben“, umschrieb er sein Sortiment. Hinterhäuser war und ist auch Pianist; in der vergangenen Woche kam er für eine „Winterreise“ mit Matthias Goerne in die Elbphilharmonie. Am Morgen danach ist vor dem Rückflug noch Zeit für ein Gespräch darüber, was sich durch das Konzerthaus getan hat, was zu tun ist und was man lassen sollte.

Wie hat sich für Sie, aus Sicht der Musikstadt Salzburg, die Musikstadt Hamburg verändert?

Markus Hinterhäuser: Salzburg ist ja, freundlich ausgedrückt, dominiert von den Festspielen. Die haben eine immense Tradition, 2020 ist der 100. Festspiel-Geburtstag. Hamburg hat jetzt, wie eine Abschussrampe, die Fertigstellung der Elbphilharmonie. Dadurch gibt es auch Charme und Anziehungskraft des Neuen, diese spektakuläre Architektur, ein Haus für Konzerte. Und ich finde bemerkenswert, dass man trotz der Vor­geschichte Kraft und Mut gefunden hat, das durchzuziehen. Obwohl ich das Wort wirklich nicht gern benutze: dass auch eine Art von Kultur-Tourismus entsteht. Leute kommen in großer Zahl, ­dazu gehört auch der Elbphilharmonie-Besuch. In Wien sind Staatsoper oder Musikverein immer mitgedacht, aber das hat etwas historisch Gesetztes. Hier hat man das Gefühl, dass eine unmittelbarere Energie mit im Spiel ist.

Mit dem Etikett ,Musikstadt‘ wird hier gern umgegangen, als wäre das ein Regierungsauftrag. Dabei ist es ein Prozess.

Hinterhäuser: Stimmt. Das kann man nicht ausrufen und nicht in eine Verfassung ­hinein­schreiben. Das braucht Zeit. Man sollte vorsichtig sein: Auch durch den spektakulären Bau eines Konzerthauses kann man eine Stadt nicht zur Musikstadt erklären. Aber man kann definitiv ­sagen, dass Mut zu einer kraftvollen Aussage sich wirklich auszahlt und, ganz blöde gesagt, auch rechnet. Wenn man eine Hardware baut, braucht man auch eine Software. Hier ist das in ziemlich eindrucksvoller Art gelungen.

Aber so weit, dass Sie von Salzburg aus neidisch wären, ist es nicht, oder?

Hinterhäuser: Ich persönlich habe nicht die geringste Fähigkeit, Neid oder Eifersucht zu verspüren. Es gibt aber auch keinen Grund. Salzburg ist ein sehr einzigartiger Ort für die Zusammenkunft von Menschen, um an einem bestimmten Tag in einen Saal zu gehen und Musik zu hören. Diese Verabredung ist kostbar. Es gibt dort eine Art Heimatgefühl. Das hat man jetzt auch hier in Hamburg: Man spürt wirklich, dass dieser Saal Teil dieser Stadt ist.

Welchen Eindruck macht das hiesige Programmangebot auf Sie?

Hinterhäuser: Dass es doch sehr richtig ist. Eine sehr gute Balance zwischen Erwartbarem und Dingen, die das Format des Nichtganz­erwartbaren haben, und die werden mit Publikum geflutet, was sehr schön ist. Ein Intendant kann da eine sehr gute Statik herstellen zwischen dem, was ­ohnehin funktioniert, und dem, was deutlich mehr vom Publikum verlangt.

Die Salzburger Festspiele sind im Sommer fünf Wochen lang Ausnahmezustand. Hier ist der Ausnahmezustand ganzjährig die ­Regel. Für Programmplaner grandios.

Hinterhäuser: Die zeitliche Begrenzung bei uns hat einen großen Charme. Wir und andere große Festivals sind ja nicht berühmt, weil es Metropolenfestivals sind, sondern weil sie in der entscheidenden Dialektik zwischen einer großzügigen Öffnung zur Welt und der vorhandenen ­Intimität stattfinden. Hamburg ist keine Metropole, aber eine große, wichtige, tolle Stadt.

Wie sehen Ihre Rahmenbedingungen in Salzburg aus?

Hinterhäuser: 225.000 Karten, 62,5 Millionen Euro Etat, ein Viertel ist öffentlich. Wir haben Sponsoren und sind in allerhöchstem Maß vom Kartenverkauf abhängig.

Wenn man hier auf Festivalideen herumdenkt, glaubt man, es müsse günstig zu haben sein und soll sich umgehend etablieren.

Hinterhäuser: Weder das eine noch das andere stimmt. Etablieren heißt, dass es tief in das ­Bewusstsein eindringt. Das braucht Zeit. Die Salzburger Festspiele gibt es jetzt 98 Jahre. Ich glaube nicht, dass man solche Dinge wie eine Planwirtschaft konzipieren kann, da braucht es auch Geduld. Wenn man vorschnell den Stöpsel zieht, dann, weil sich Dinge vermeintlich nicht rechnen. “Warum machen wir das alles, wenn doch nur eine überschaubare Menge von Publikum kommt?“ – das finde ich als Argumentation ziemlich trostlos.

Eine hier gern genommene Argumentationsrichtung: „An der Adresse Elbphilharmonie rechnet sich Kultur, also ist Kultur wohl doch nicht so schlecht.“

Hinterhäuser: Vollkommen zu kurz gedacht. Aber wir müssen uns auf etwas einigen: Kultur, die Musik, über die wir jetzt sprechen – das sind keine Massenphänomene, sondern Minderheitenprogramme …

Da kommt sofort der Eliten-Vorwurf um die Ecke.

Hinterhäuser: Das macht nichts. Wir brauchen den Respekt vor dem, was es ist. Ein Schönberg-Streichtrio ist nicht dazu geeignet, Zehntausende anzusprechen. Auch eine Mahler-Sinfonie, auch eine Monteverdi-Oper nicht. Wir müssen die Kostbarkeit dieser Dinge akzeptieren. Das sind große Geschenke an die Menschheit. Das lässt sich nicht mit einem Rotstift aus der Welt schaffen und nicht mit einer trostlosen Argumentation verkleinern.

„Es gibt mittlerweile Festivals an jeder Pfütze, die gut sind, wo gute Leute spielen“, ­haben Sie einmal gesagt.

Hinterhäuser: Ich habe im letzten Sommer, meinem ersten als Festspiel-Chef, etwas Großartiges gemerkt: dass es eben nicht reicht, einfach eine Folge hoffentlich ­gelungener Veranstaltungen anzubieten, sondern dass man damit eine Forderung formulieren muss, die nicht pädagogisch ist und nicht einengend, die aufrichtig sagt: Es ist nicht leicht. Eine Mozart- oder Beethoven-Sinfonie ist nicht leicht. Nehmt das wahr, vertraut uns, und ihr werdet sehr bereichert sein. Wir sehen euch nicht als Kreditkarten auf Beinen, wir wollen eine Auseinandersetzung. ­Jeder, der für Salzburg eine Karte kauft, verdient Respekt. Ich bin ja nicht der Türsteher der Festspiele, ich bin der ­Intendant.

Wie müsste man hier einen Festspielgedanken aufsetzen, der Bestand haben kann?

Hinterhäuser: Das ist kaum zu sagen, dafür kenne ich die Gegebenheiten nicht gut genug …

Festspiel-Pläne

Der kleinste gemeinsame Nenner Brahms wäre arg einfach.

Hinterhäuser: Das gibt’s auch in Mürzzuschlag in der Steiermark … Ich finde aber auch, dass die Frage, Hamburg als Festivalstadt zu etablieren, nicht wirklich wichtig ist, weil man hier mit der Elbphilharmonie und anderen Dingen gewaltige Möglichkeiten hat. Wenn man das plant, braucht es nicht noch mal eine Dimension mehr. In einigen Jahren wird man seine Schlüsse ziehen, wie man perspektivisch denkt, was eine Musikstadt Hamburg ausmachen könnte. Das ist ja keine Unternehmung auf ein, zwei oder fünf Jahre. Man kann in einer Saison sehr viele hochinteressante Einheiten schaffen, und deren Attraktivität ist durch die Faszination der Elbphilharmonie gesichert. Auch dort geht es ja in letzter Konsequenz um Kunst. Und Kunst braucht Form.

Ein beliebtes Argument gegen all das ist, dass man von der Krise der Klassik spricht.

Hinterhäuser: Entschuldigung, aber das ist ein vollkommener Stuss. Die Klassik beschreibt Krisen, aber sie ist nicht in der Krise. Man sollte das auch nicht so mantraartig wiederholen. Sonst stellt sich irgendwann die Stimmung ein, dass es wirklich so sei. Man tut den Menschen, die eine leidenschaftliche Liebe dazu haben, nichts Gutes damit. Dann kommt ­irgendwann die Frage nach politischer Berechtigung. Das ist nicht ungefährlich.

Wie würden Sie jemanden, der sich als Kulturbanause bezeichnet, die Notwendigkeit des Umgangs mit Kultur erklären?

Hinterhäuser: Schon mal damit, dass er kein Kultur­banause ist.

In Hamburg hören Sie ständig und oft mit entschuldigendem, betretenem Unterton „Aber ich kenne mich ja gar nicht aus …“

Hinterhäuser: Musik ist die abstrakteste und eigentlich auch die melancholischste Kunst: Wenn ein Klang da ist, verschwindet er auch. Und er kommt nie wieder, nie! Musik wurde geschrieben, um sich mitzuteilen. Und sie teilt sich nicht nur Experten mit. Die Unmittelbarkeit dieser kommunikativen Kraft läuft auf einer anderen Ebene ab. Ein Schubert-Lied ist auch sehr einfach, dafür muss man sich nicht entschuldigen.

Das heißt auch: Man kann als Programmplaner keinen schlimmeren Fehler begehen als den, sein Publikum zu unterfordern.

Hinterhäuser: Man kann definitiv nichts Schlimmeres machen.

In diesem Sommer ist Generalmusikdirektor Kent Nagano nach längerer Abwesenheit, wieder im Salzburger Opern-Angebot, mit Henzes „Bassariden“. Ist das der Beginn einer neuen Achse von der Elbe zur Salzach?

Hinterhäuser: Ich mag ihn sehr, erwarte mir sehr viel von diesen „Bassariden“ und würde mir wünschen, dass wir noch mehr gemeinsame Projekte finden.

Ihr Vertrag in Salzburg läuft bis 2021, der Vertrag von Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter endet ebenfalls 2021. Weil Sie auch in Kiel großgeworden sind, schwärmen Sie gern vom Wasser …

Hinterhäuser: (lacht) Das können sie mir jetzt zu 200 Prozent glauben: Erstens bin ich ganz glücklich in Salzburg, zweitens habe ich absolut null Interesse, mir Gedanken über meine vermeintliche Zukunft zu machen. Ich habe eine sehr anstrengende Gegenwart. Es gibt einen wunder­baren Satz von James Joyce, den ich nicht ganz unkokett manchmal auf mich anwende: Ich bin ein Mann mit einer großen Zukunft hinter mir.