Hamburg. Morgen Abend lesen die Nominierten für Leipzig im Literaturhaus. Unter ihnen ist auch eine talentierte Hamburger Debütantin.

Deutschsprachige Literatur gilt im Ausland als besonders schwer verkäuflich. Das muss gar nicht grundsätzlich gegen sie sprechen, aber wenn man sich die diesjährige Shortlist für den Leipziger Buchpreis anschaut, weiß man, warum „deutsch“ und „sperrig“ so oft zusammengedacht wird. Jeder Titel für sich ist eine, was den Stoff angeht, originelle Angelegenheit und sprachlich meist hochartifiziell. Aber in ein und dieselbe Vorauswahl gepackt, ist die Leipzig-Auslese 2018 auch eine Herausforderung. Anders ausgedrückt: Die verdienstvolle Jury – anders als die beim Deutschen Buchpreis wechselt sie übrigens nicht jährlich – setzte ein starkes Zeichen für anspruchsvolle Literatur. Am 8. März stellen alle Nominierten ihre Bücher im Literaturhaus vor.

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Unsere Favoritin ist, allein schon aus lokalpatriotischen Gründen, leicht auszumachen: Es ist dies die 1983 in Hamburg geborene Anja Kampmann. In ihrem Romandebüt „Wie hoch die Wasser steigen“ (Hanser, 23 Euro) ästhetisiert die vorher als Lyrikerin in Erscheinung getretene Autorin das Transit-Leben von Bohrarbeitern auf Ölplattformen – und erzählt gleichzeitig von der grundsätzlichen Flüchtigkeit von Heimat. Nachdem sein Freund Mátyás bei einem Unfall auf der Bohrinsel zu Tode kam, verliert Waclaw, der in dieser ruhigen, bedächtigen Erzählung manchmal auch Wenzel heißt, den inneren Zustand, der es ihm erlaubte, weiter auf den Meeren zu arbeiten.

Fortan reist er mit dem Auto durch Europa: nach Ungarn, Malta, in die Alpen, ins Ruhrgebiet und nach Polen, woher sein Vater stammt und wohin es ihn bereits einmal, in einem unendlich weit entfernten Früher, mit seiner Geliebten Milena verschlug. Dass er sich zu Mátyás sexuell hingezogen fühlte, wird angedeutet. Wie überhaupt in diesem Roman, dessen funkelnde Sprache jede Menge mit „wie“ eingeleitete Vergleiche verträgt (Malta – „der unterste Rand von Europa, sagte sie, auf dem Leute wie du und ich anstranden wie Tiere nach der Ölpest“), vieles nur angedeutet wird und gerade deshalb ein melancholischer Firnis über allem Geschehen liegt. Für Waclaw, der von Ort zu Ort reist, der Menschen hier kennt und dort, ist das Wurzelwerk unter der eigenen Existenz längst gekappt. Dies ist ein Roman über die Globalisierung, die nichts anderes ist als gleichzeitiger Ab- und Aufbau von Distanzen.

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Melancholisch ist auch Esther Kinskys Geländeroman. Er heißt wirklich so: „Hain: Geländeroman“ (Suhrkamp, 24 Euro) – prächtig! Und nur konsequent, weil Esther Kinsky, Jahrgang 1956, sich langsam, aber sicher zur ausdauernd-sten Wanderin der deutschen Literatur entwickelt. Der Vorgängerroman „Am Fluss“, mit dem sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, erforschte die Flusslandschaften Londons. Das neue von ihr begangene Gelände liegt nun in Italien; da aber abseits der Touristentrampelpfade.

Sie widmet sich läuferisch etwa Olevano Romano, einer Kleinstadt bei Rom, oder der Lagunenstadt Valli di Comacchio, gelegen im Delta des Po. Und sie denkt dabei, während sie sinnenfreudig, aber distanziert, wie man so sagt, Land und Leute erkundet, immer wieder an ihren verstorbenen Mann, später auch an ihren ebenfalls toten Vater: „Todesnachrichten sind Scheren oder scharfe Messer, die den Film der Welt durchtrennen“. Man verschwendet bei der Lektüre nur selten einen Gedanken an eine Handlung, die hier ganz offensichtlich fehlt. „Hain“ ist ein hochliterarischer Reisebericht, der es allein mit dem Reichtum der Sprache schafft, den Leser zu fesseln.

HANDOUT - Aufnahmedatum/- Ort unbekannt: Das Cover des Buches „Miakro“ von Georg Klein. (zu dpa-Literaturdienst, „Die Poesie der Bohrinsel: Anja Kampmanns erster Roman“ vom 27.02.2018) Foto: Rowohlt Verlag/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über das Buch und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++
HANDOUT - Aufnahmedatum/- Ort unbekannt: Das Cover des Buches „Miakro“ von Georg Klein. (zu dpa-Literaturdienst, „Die Poesie der Bohrinsel: Anja Kampmanns erster Roman“ vom 27.02.2018) Foto: Rowohlt Verlag/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über das Buch und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++

Auffällig auf der Leipziger Final­liste: der Verzicht auf populäre Themen der erzählenden Literatur. Es ist etwa kein Liebesroman im klassischen Sinne dabei. Die Jury setzt auf die Attraktion des bisher so nicht Dagewesenen, das ist alles andere als verkehrt. Mit „Miakro“ (Rowohlt, 24 Euro) ist sogar ein Science-Fiction-Roman in der Auswahl. Und mit ihm hat der in Ostfriesland lebende Romancier Georg Klein (64) den vermutlich furchterregendsten und verstörendsten Roman des Jahres vorgelegt.

In „Miakro“ geht es um eine von heute aus betrachtet absonderliche Bürogemeinschaft, die nebeneinander arbeitet, am „weichen Glas“, durch das Bilder sonder Zahl fließen. Worum es genau geht, erfährt man nicht; wie auch sonst die dargestellte hermetische Welt rätselhaft bleibt. Die Hauptfiguren, die Nettler, Guler oder Schiller heißen, schlafen und essen im Bürotrakt. Ihre Arbeit ist so sinnentleert und entindividualisiert, dass man zum Arbeitskampf aufrufen möchte. Die Protagonisten in diesem sprachlich brillanten Roman suchen irgendwann selbst den Weg aus dem Gefängnis, während aus einer unbestimmt bleibenden Außenwelt Suchtruppen ins Innere des Bürohorrors eindringen.

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Auch sehr eigen ist Matthias Senkels retrofuturistischer Roman „Dunkle Zahlen“ (Matthes & Seitz, 24 Euro), in dem es um Computererfinder und Automatenschwärmer geht; um mathematische Genies, um den Wettkampf der Bruderstaaten. Auf verschiedenen Zeitebenen lässt der mit einer fantastischen Vorstellungskraft gesegnete Erzähler Senkel, geboren 1977, die Gestaltkraft und den Fortschrittswillen des Ostblocks aufleben.

Das Streben nach der Zahlenmaschine gießt er in eine auf Absurdität und Witz getrimmte Handlung, die einige Szenen dieses Buches zu einer tatsächlich kurzweiligen Angelegenheit machen. In der Erzählgegenwart des Jahres 1985 treffen sich die Nerds des Sozialismus zur Programmierer-Spartakiade und messen sich, wobei die kubanische Delegation schnell abhanden kommt und die Dolmetscherin Mireya sie suchen muss. Die Abenteuerhandlung ist ein weiterer Bestandteil dieses wilden Buches, das mit seinem Thema auch mithilfe des Einsatzes von Fotos oder Screenshots spielt. Man muss dennoch die Faszination für Rechner teilen, um knapp 500 Seiten mit gleichbleibendem Interesse zu lesen.

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Die in mancherlei Hinsicht spannendste Autorin auf der Liste ist Isabel Fargo Cole, eine Autorin, die 1973 in Illinois geboren wurde und seit 1995 in Berlin lebt. Sie übersetzt aus dem Deutschen ins Englische und schreibt selbst Prosa – auf Deutsch. Ihr ambitioniertes Debüt „Die grüne Grenze“ (26 Euro) erscheint im Hamburger Nautilus-Verlag und porträtiert die DDR der 1970er-Jahre. „Die grüne Grenze“ liegt am Randgebiet zum Westen, und dort leben der Schriftsteller Thomas und die Bildhauerin Editha mit Kind. Das DDR-Leben sickert auch in der Provinz in den Alltag der Bewohner, das Idyll ist immer gefährdet, zumal das des Künstlers. Die Autorin durchleuchtet ihr Milieu genau.

Lesung aller Finalisten morgen, 8.3., 19.30, im Literaturhaus (ausverkauft)