Hamburg/Bremen. Trotz Matthiae-Mahl: Wer als Hamburger wissen will, wie Tradition wirklich geht, muss zur Schaffermahlzeit nach Bremen.
„Backbord – Steuerbord – mittschiffs.“ Dreimal habe ich mit meinem Gegenüber angestoßen, die Kommandos möglichst synchron rufend. Dann kommt für den Novizen der heikelste Teil der zehnstündigen (!) Schaffermahlzeit. Jeder nimmt einen kräftigen Schluck Seefahrtsbier aus seinem silbernen Kelch, so will es das Ritual. Jetzt nur langsam und vorsichtig ansetzen, damit sich die bräunlich-sämige Flüssigkeit nicht über den Frack ergießt, den hier die meisten tragen.
Nur zur Schaffermahlzeit stellt die Beck’s-Brauerei das süße, alkoholfreie Malzbier her, das früher an Bord gegen Skorbut ausgeschenkt wurde. Der Geschmack ist – ziemlich gewöhnungsbedürftig. Unfallfrei geschafft. Dann der zweite Gruß: „Backbord – Steuerbord – gute Reise“ – dabei ein fest-freundlicher Blick in die Augen meines Pendants, und schon reichen wir die Humpen weiter. Alle trinken übrigens aus den selben Kelchen. Allzu zimperlich darf man bei der Schaffermahlzeit in der Oberen Rathaushalle zu Bremen also nicht sein.
Historisches Ambiente hebt die Stimmung
Wenn die rund 400 Gäste am heutigen Freitagabend zum Matthiae-Mahl 2018 den Großen Festsaal des Hamburger Rathauses betreten, dann hat die alte Stadtrepublik gewissermaßen Gala angelegt. Das Ratssilber ist aufgetragen, die langen Tische sind festlich gedeckt, das historische Ambiente hebt die Stimmung, und zum richtigen Zeitpunkt erklingt Tafelmusik, die Georg Philipp Telemann einst eigens für das Matthiae-Mahl komponiert hat. Auch Menschen mit wenig Sinn für Traditionen sind da einen Moment lang beeindruckt.
Und doch: Verglichen mit der Schaffermahlzeit, immer am zweiten Freitag im Februar, nimmt sich Matthiae doch reichlich zeitgemäß aus. Und das liegt nicht nur daran, dass Frauen in Hamburg – anders als in Bremen – selbstverständlich als Gäste teilnehmen. Es liegt auch schon einige Jahre zurück, dass eine Senatorin für Stirnrunzeln und Schweißausbrüche beim Hamburger Protokoll sorgte, weil sie darauf bestand, mit ihrer Partnerin zu kommen. Was übrigens geschah.
Skurril wirkende Rituale
Während die Hamburger im Wesentlichen einen historischen Rahmen zu gutem Essen und (hoffentlich) anregenden Reden bieten, halten die Bremer an etlichen, heute durchaus skurril wirkenden Ritualen fest. Wer als Hamburger also wissen will, wie Tradition wirklich geht, muss nach Bremen reisen. Das heißt, wenn er denn darf. Die Teilnahme ist wie ein Sechser im Lotto, denn man ist nur einmal im Leben Gast des Schaffermahls. An drei langen Tischen und einem Ehrentisch querab nehmen in jedem Jahr 100 kaufmännische Schaffer (Frack, schwarze Weste und schwarze Fliege), 100 Kapitäns-Schaffer in Uniform sowie 100 Gäste (Frack, weiße Weste und weiße Fliege) Platz.
Kaufmännischer Schaffer wird man ebenfalls nicht einfach so: Bremer Unternehmer können sich um diese Ehre nicht bewerben, man wird gefragt ... Drei neu aufgenommene Mitglieder müssen in jedem Jahr das Mahl ausrichten – von 50.000 Euro pro Schaffer ist die Rede. Für die Kapitäne, ist der Zugang zum Brudermahl nicht so teuer.
Sehr enges Zeitkorsett
Die sechs Gänge und zwölf Reden sind nur mit sehr engem Zeitkorsett zu absolvieren. Die Menüfolge dieses „Dinner für 300“ ist der Überlieferung folgend stets gleich. Serviert werden eher deftige Bremer Spezialitäten wie Stockfisch, Braunkohl mit Pinkel und Maronen sowie Rigaer Butt. Ach, ja. Servietten gibt es nicht. Stattdessen liegen an jedem Platz ein paar Blätter Löschpapier, die sich glücklicherweise als weicher Zellstoff herausstellen. Damit wird das Besteck nach jedem Gang gereinigt. An Bord gab es früher schließlich auch nicht zu jedem Gang ein neues Besteck ...
Nun wäre es falsch anzunehmen, mit der Schaffermahlzeit würde der Blick nur auf eine glorreiche, aber eben vergangene hanseatische Epoche gerichtet. Die Reden der Schaffer holen Aktualität und Realität in die alte Ratshalle. Es sind zum Teil mutige Reden – auf „Deutschland und den Bundespräsidenten“ etwa mit einer scharfen Abgrenzung gegen die AfD. Oder auf „Bremen und den Senat“, wenn demselben die Leviten gelesen werden. Aber nichts ohne Ritual: Nach jeder Rede springt die ganze Festgesellschaft auf und antwortet auf ein „Hepp, hepp, hepp“ des Vorsängers mit Stentor-Stimme mit einem vielkehlig-kräftigen „Hurra“.
Blauer Dunst
Wenn der letzte Gang abgeräumt ist, werden lange Tonpfeifen gereicht, und bald füllt sich der historische Raum mit blauem Dunst – politisch korrekt ist auch das nicht, aber sei’s drum. Während der Hamburger Senat die „wohlgesonnenen Mächte“ zum Matthiae-Mahl einlädt, betonen die Bremer Schaffer die Verbundenheit von Kaufleuten und Seefahrern, die die Waren jener in die Welt transportieren. Die Hamburger bezeichnen Matthiae, seit 1356 historisch belegt, als „das älteste noch begangene Festmahl der Welt“. Die Bremer sprechen feinsinnig von der Schaffermahlzeit als dem „ältesten fortbestehenden Brudermahl der Welt“. In diesem Jahr wurde es zum 474. Mal begangen. Nur in Kriegszeiten fiel es aus. Die Hamburger fingen zwar früher an, aber die Tradition geriet auch über Jahrzehnte in Vergessenheit.
Ein bisschen Wandel muss sein: Wenn die Bremer Schaffer bald auch noch mehr Frauen zulassen, gilt für die Zukunft umso mehr der Wunsch: „Backbord – Steuerbord – gute Reise“.