Hamburg. Im Hamburger Winternotprogramm liegen Leid und Betrug dicht beieinander. Ein Ortsbesuch am unteren Rand der Gesellschaft.

Wenn er heute Nacht sterben müsse, sagt der Mann, sei er wenigstens randvoll dabei. Die Finger umklammern eine Flasche mit Billig-Limo und Wodka, Zigarillos glühen auf, seine Freunde wollen hineingehen, er nicht. „Morgen früh, ne“, sagt er, sie umarmen sich. Ein Industriebetrieb spuckt Dampfschwaden in die Dämmerung, die Luft beißt, minus sieben Grad. Ab jetzt muss jeder selbst wissen, wie er um sein Überleben kämpfen will.

Direkt hinter der Tür des Backsteinbaus in Hammerbrook warten bereits die Sicherheitsleute. „Die Waffen und der Alkohol müssen einfach raus aus den Taschen, sonst geht das hier nicht gut“, sagt Katrin Wollberg, eine kleine Frau mit Kurzhaarfrisur, die Chefin hier. Für Obdachlose ist das Winternotprogramm der Stadt der letzte Halt vor dem Kältetod, aber sie müssen sich dafür entscheiden und sich an die Regeln halten. Für Katrin Wollberg ist es die beste Chance, den Vergessenen der Gesellschaft zu helfen – aber auch das hat seinen Preis.

Bedürftige, Nutznießer, Pech­vögel, Gebrochene

„Uns ist völlig bewusst, dass nicht alle Menschen hier wirklich bedürftig sind“, sagt Wollberg. Manchmal sind Lügen und echte Dramen kaum zu unterscheiden, manchmal sagen auch die Regeln etwas anderes als die Menschlichkeit. Und je kälter es wird, desto mehr steht Wollberg unter Druck. Das Notprogramm müsse den ganzen Tag offen sein, fordern Wohlfahrtsträger. Jedes Angebot würde noch mehr als die derzeit etwa 2000 Obdachlosen nach Hamburg ziehen, heißt es zuweilen aus der Politik.

Bedürftige stehen vor dem Winternotprogramm an der Friesenstraße.
Bedürftige stehen vor dem Winternotprogramm an der Friesenstraße. © Michael Arning | © Michael Arning

„In Wahrheit geht es hier um ganz kleine Schritte“, sagt Wollberg. Von 17 Uhr an wird das Gebäude in Hammerbrook zu einem Schmelztiegel, in dem sich Bedürftige, Nutznießer, Pech­vögel, Gebrochene, Flüchtlinge und Kriminelle zugleich tummeln. Und in dem sich größere Probleme spiegeln als das Schicksal von einzelnen Menschen.

Einige „Bedürftige“ haben Tausende Euro dabei

Die Obdachlosen schlurfen über den grauen Flur durch den Aufenthaltsraum zur Anmeldung, es riecht nach Kunststoff und starkem Kaffee. Die meisten „Klienten“ sind Osteuropäer, gegerbte Gesichter mit Wollmütze. Einige Afrikaner tragen Kopfhörer und bleiben unter sich. Eine Frau will unbedingt sofort ein Glas Suppe warm machen, sie keift und fällt einem Wachmann vor die Füße. „Das sind die kleinen Probleme“, sagt Wollberg.

Seit dem Wintereinbruch sind täglich zehn, 15 Menschen mehr als sonst in die Unterkunft gekommen. 37 der 400 Betten werden in dieser Nacht frei bleiben. Warum einige Obdachlose die Kälte vorziehen, kann sich auch Wollberg nicht ganz erklären. Ein falsches Bild von der Unterkunft hat sicher seinen Anteil, auch Scham, der Alkohol – oder andere Schlafplätze. „Das Verhalten ist nicht immer rational, das muss man auch akzeptieren können.“

"Das ist ja keine Zooveranstaltung hier"

Sie zeigt gern die Wohnflure mit richtigen Betten und bunter Bettwäsche, getönten Fensterscheiben, „das ist ja keine Zooveranstaltung hier.“ Für alleinstehende Frauen gibt es einen Schutzbereich. Die Atmosphäre an der Friesenstraße ist deutlich näher an einer Jugendherberge als an einem Auffanglager für Katastrophenopfer. An der Rezeption gibt es ein Bett, ohne dass ein Ausweis verlangt wird.

Das Winternotprogramm an der Friesenstraße in Hammerbrook.
Das Winternotprogramm an der Friesenstraße in Hammerbrook. © Michael Arning | © Michael Arning

Noch die ganze Nacht über werden immer wieder Gestalten dort einchecken, gestaucht von der Kälte. Da stehen immer häufiger etwa Flüchtlinge, die eigentlich in Ostdeutschland untergebracht sind, aber so von Rechtsradikalen gegängelt worden seien, bis sie es nicht mehr aushielten. Nach dem Gesetz müsste man sie zurückschicken, „aber da siegt die Menschlichkeit“, sagen Mitarbeiter im Notprogramm.

Osteuropäer müssen für mafiöse Hintermänner betteln

Da sind aber auch Osteuropäer, die auf den besten Plätzen der Innenstadt betteln, für mafiöse Hintermänner. Bis zu 600 Euro an „Platzmiete“ müssen sie für ihre Schlepper abarbeiten, sagen Mitarbeiter. Abends springen sie vor dem Notprogramm aus weißen Lieferwagen und checken ein, auch das organisiert die Mafia. „Wir gehen immer von einer wirklichen Bedürftigkeit aus, auch wenn das manchmal wirklich schmerzt“, sagt Wollberg.

Nur den offensichtlichsten Betrug kann die Unterkunftsleiterin sofort beenden. Nicht selten fallen angeblich „Bedürftigen“ schon am Eingang plötzlich Geldbündel aus der Tasche, manchmal mehrere Tausend Euro. „Denen sagen wir freundlich, dass sie sich eine Alternative leisten und andernfalls zum Aufwärmen in die Wärmestube gehen können“, so Wollberg.

Nach Leih- und Zeitarbeit fallen viele ins Bodenlose

Der große Aufenthaltsraum füllt sich zur Essenszeit, hinten in der Küche schmieren Freiwillige schon seit Stunden an mehreren Hundert Stullen. Im Saal sitzt Marcelo schon am Tisch, ein Lette, 37 Jahre alt, seit mehr als zehn Jahren obdachlos. „Ich habe mich damals in Hamburg verliebt“, sagt Marcelo, er redet immer in feierlichem Ton, trägt eine modische Brille, lacht viel und lallt nur leicht.

Fünf Sprachen spreche er, sagt Marcelo, er verkauft jetzt das Straßenmagazin „Hinz & Kunzt“, aber ansonsten hat noch nie ein Plan so richtig funktioniert. „Ich habe in mehreren Lagern gearbeitet, richtige Arbeit, ich kann Kommissionieren und mit einem Scanner umgehen.“ Aber die Firmen brauchten ihn nur für ein paar Monate, danach fiel er wieder auf die Straße. Dass die Obdachlosigkeit in Hamburg zunimmt, hängt wesentlich mit dem Gebaren einiger Arbeitgeber zusammen, heißt es von Beratungsstellen.

Katrin Wollberg leitet das Winternotprogramm an der Friesenstraße.
Katrin Wollberg leitet das Winternotprogramm an der Friesenstraße. © Michael Arning

Neben Marcelo nimmt „Pluto“ Platz, ein Haudegen mit Segelohren, daher der Name. Pluto sagt, er brauche jetzt einen Kaffee, morgen jähre sich der Tag zum 19. Mal, an dem seine Frau und seine Tochter starben. Seine Augen schimmern, die Runde wird ruhig. Einige Minuten später wird „Pluto“ nach Geld fragen, nur 5 Euro, bitte. Ob er wirklich seine Familie verlor, weiß niemand sicher. „Man kann selbst von einem Klienten, den man gut kennt, an zwei Tagen zwei unterschiedliche Geschichten hören“, sagen die Mitarbeiter in der Notunterkunft.

"Pluto" ist ein Pegeltrinker

Sie werden das Leben der meisten Obdachlosen kaum sprunghaft verbessern können, es geht um Grundlagen. Zucker und Fett in jeder Form werde „extrem nachgefragt“, sagt Wollberg, das sage schon viel über den Zustand der Gäste aus. „Pluto“ ist ein „Pegeltrinker“, wird auch am Abend etwas Wodkamischung aus der Plastikflasche brauchen, um nicht zu kollabieren. Katrin Wollberg schiebt ihn dann sanft für einen kurzen Schluck vor die Tür.

Eigentlich sei das Ziel, den Menschen aus der Obdachlosigkeit zu helfen, auch Plätze in festen Unterkünften sind vorhanden. Aber oft wollen die Obdachlosen nicht vermittelt werden, weil ihnen die Unterkunft nicht passe, oder sie auf der Straße sozialisiert sind. Selbst Obdachlose, die in eine richtige Wohnung umgezogen sind, legen sich zuweilen einen Schlafsack auf den Balkon und übernachten dort. „Es gibt Angst vor einem Dach über dem Kopf. Dieses Gefühl der Enge muss erst überwunden werden“, sagt Wollberg.

Bis zum späten Abend sitzen mehrere Mitarbeiter an den Beratungs­tischen, einer Handvoll Menschen konnte auch in diesem Jahr bereits aus der Obdachlosigkeit geholfen werden. Besonders aktiv gehen sie auf Menschen wie Marcelo zu, die vielleicht gar nicht obdachlos sein müssten, oder es erst vor Kurzem geworden sind. „Bei EU-Ausländern geht es oft auch darum, gemeinsam zu gucken, ob eine Rückreise das Beste ist“, sagt Katrin Wollberg.

Viele spielen Karten, hören Musik

Auch dafür steht die Stadt in der Kritik, sie dränge Menschen, das Land zu verlassen. „Wir zwingen niemanden“, sagt Wollberg. „Es bringt aber auch nichts, so zu tun, als hätten Menschen eine Perspektive in Deutschland, wenn das einfach nicht der Fall ist.“

Es wird Nacht in der Unterkunft, die meisten Obdachlosen werden wiederkommen, nicht nur morgen, sondern auch nächste Woche, selbst nächstes Jahr, wenn das Winternotprogramm erneut beginnt. Im Aufenthaltsraum haben einige die ganze Nacht gesessen, Karten gespielt, Musik gehört oder nur geradeaus gestarrt.

Am Morgen nimmt Marcelo die Bahn nach Kaltenkirchen, Straßenmagazine verkaufen, ein Bahnticket hat er nicht. „Ich spiele ,Catch me if you can‘“, sagt er und lacht. Zur Schließung um 11 Uhr sind alle Obdachlosen von selbst gegangen, freiwillig früher wieder heraus in die Kälte.

Wohin sie gehen, was sie machen, das weiß Katrin Wollberg nicht. „Sie sind jedenfalls nicht alle in den Tagesstätten und auch nicht auf der Platte.“ Aber am Abend werden sie wiederkommen, möglichst viele, hofft sie. Es sind bis zu 12 Grad minus vorhergesagt.