Hamburg. John Neumeiers Vertrag soll noch einmal verlängert werden. Lange Engagements sind bei Choreografen nicht selten.
John Neumeier gastiert derzeit mit seiner Compagnie in Japan, und in der Hamburger Kulturbehörde wird derweil an den Modalitäten für eine Vertragsverlängerung mit ihm gearbeitet. Bekanntlich ist Neumeier ein klarer, in der Sache harter Verhandlungspartner. Erfolgt keine Einigung, wird sich einiges oder gar alles ändern. Wer käme dann überhaupt als neuer Ballettdirektor infrage? Neumeiers jetziger Stellvertreter Lloyd Riggins? Oder wäre es tatsächlich besser, wenn sich seine Fangemeinde, die der Staatsoper die märchenhafte Auslastung von gut 90 Prozent beschert, über eine weitere Spielzeit mit dem weltweit erfolgreichen Choreografen freuen könnte?
Vertrag läuft 2019 aus
Die Dauer der Überlegungen spricht dafür, dass diese Fragen nicht einfach zu beantworten sind. Wenn sein jetziger Vertrag 2019 ausläuft, wird John Neumeier 80 Jahre alt sein. Die Verlängerung birgt also ein wachsendes altersbedingtes Risiko. Da Neumeier sich bester Gesundheit erfreut, wäre das aber kein ausreichender Grund, seine Ära zu beenden. Was sagt Neumeier selbst zu einer möglichen Verlängerung? „Ob ich diesen Schritt gehen kann, hängt wesentlich davon ab, ob ich mit der Stadt eine gemeinsame Perspektive finde.“ Sein Œuvre ist in den 44 Hamburger Jahren auf rund 150 Choreografien angewachsen; er ist das Hamburg Ballett. Die Frage steht derweil im Raum, ob ein personeller Wechsel nach so langer Zeit nicht neue Impulse verlangt – wie in anderen Kulturinstitutionen auch.
Langjährige Zusammenarbeit
Blickt man ringsum, fällt ins Auge, dass auch viele andere große Choreografen lange mit der von ihnen geformten Compagnie gearbeitet haben. George Balanchine etwa blieb 35 Jahre beim von ihm gegründeten New York City Ballet. Der stets aufregend lebendige, Schauspiel-affine Choreograf William Forsythe arbeitete 30 Jahre mit seinen Tänzern in Frankfurt, Jacopo Godani, einer seiner ehemaligen Solisten, wurde 2015 sein Nachfolger. Die große Pina Bausch leitete 36 Jahre ihr Wuppertaler Tanztheater. 2009 starb sie mit 69 Jahren, und wäre sie noch am Leben, würde sie vermutlich ebenfalls weiter mit ihrer Compagnie arbeiten. Wie das Hamburg Ballett feierte auch sie international beträchtliche Erfolge.
Bis heute ist das Wuppertaler Tanztheater auf das Engste mit ihrer Schöpferkraft und ihrem Geist verbunden. Zunächst führten ihre Tänzer das Theater weiter, dann ein Interims-Chef, und 2017 wurde Adolphe Binder als Manager-Chefin installiert. Viele Pina-Bausch-Stücke sind weiter im Spielplan.
Blick nach Lausanne
Maurice Béjart nahm seine Tänzer von Brüssel mit nach Lausanne, wo er von 1987 bis zu seinem Tod 2007 blieb und auch eine berühmte Schule betrieb. Mit mehr als 1000 internationalen Gastspielen war er, zumindest was den Publikumszuspruch angeht, erfolgreich. Im nicht allzu großen Lausanne lässt sich gut betrachten, wie es laufen kann, wenn ein langjähriger Solist des Meisters nach dessen Tod das Ruder übernimmt: Gil Roman folgte Béjart. Weiterhin werden in Lausanne die Kreationen Béjarts gezeigt, zweiter Choreograf ist dort ausschließlich Gil Roman.
Der Vorteil bei einem solchen Modell ist, dass das Œuvre des Meisters lebendig und als Kulturgut erhalten bleibt und die mit dem Bewährten vertrauten Besucher weiter ins Haus strömen. Der Nachteil ist, dass die Compagnie den Mangel an neuen, kraftvollen künstlerischen Impulsen sprichwörtlich am eigenen Leib spüren kann. Dennoch sind derartige Nachfolgen nicht selten: Die Tänzerin Judith Jamison etwa übernahm die Leitung des Alvin Ailey Dance Theater in New York nach dem Tod seines Gründers. In Deutschland haben Pina Bauschs Tänzer für kurze Zeit die Compagnie weitergeführt und sechs Jahre lang nur Bausch-Stücke aufgeführt.
Ähnlich schockartig endete eine Ära am Stuttgarter Ballett, das in den 60er/70er-Jahren unter dem legendären John Cranko zum international gefeierten „Stuttgarter Ballettwunder“ aufblühte. Nach Crankos plötzlichem Tod 1973 übernahmen seine Tänzer die Leitung. Lange dabei war die Primaballerina Marcia Haydée (1976–1996), ihr folgte der Tänzer Reid Anderson, der bis heute dort Direktor ist. Weiterhin sind in Stuttgart viele Choreografien von John Cranko im Repertoire. Man ist dort stolz auf sein künstlerisches Erbe.
Schöpferkraft ungebrochen
Neumeiers Schöpferkraft ist ungebrochen. Er beherrscht die seltene Kunst, die große Bühne in immer neuen Variationen füllen zu können, kann sehr intim und berührend arbeiten. Auch seine neuesten Choreografien sind beliebt, bekamen gute Kritiken, und er bricht immer wieder zu neuen Ufern auf, wie in „Turangalîla“, wo das Orchester hinter den Tänzern saß und dadurch eine noch intensivere Beziehung zwischen Tanz und Musik möglich war. Seine Sicht auf „Anna Karenina“ besaß Intensität und Einfallsreichtum. Kompliziert wird die Entscheidung über die Zukunft des Hamburg Balletts auch, weil Neumeier die Rechte an all seinen Choreografien besitzt. „Wir wollen diesen großen, bedeutenden Werkkorpus dauerhaft in dieser Stadt halten. Es ist sehr schwer, sich Hamburg ohne John Neumeier vorzustellen“, sagte Kultursenator Carsten Brosda vor einigen Monaten in der „Welt“.
Es wäre ratsam, spannende Choreografen einzuladen
Brosda wird klar sein, dass unter diesen Vorbedingungen, egal wer wann die Direktion des Balletts übernimmt, der oder die Neue stilistisch nicht zu weit von John Neumeiers Neo-Klassik entfernt sein darf. Ein radikaler Neuanfang ist, will man Neumeiers Tanzkunst durch das Hamburg Ballett in der Stadt halten, kaum möglich. Denn wie sollte eine Compagnie, die womöglich einem ganz anderen Körpertraining, anderen künstlerischen Ideen folgt, die Ballette des Maestro tanzen, das Niveau halten?
Bewusst hat Neumeier seinen langjährigen Ersten Solisten Lloyd Riggins (48) als stellvertretenden Direktor installiert. Ob und wann er wirklich Neumeiers Nachfolger wird, steht nicht fest. Riggins kennt die meisten seiner Ballette, er ist dem Geist von John Neumeier näher als die meisten. Nur sein Potenzial als Choreograf ist bislang kaum einzuschätzen. Ende 2014 verpuffte seine folkloristische „Napoli“-Einstudierung nach Bournonville mit eigenem Mittelteil und war künstlerisch irrelevant.
Würde Lloyd Riggins, dieser eloquente, sympathische Amerikaner, tatsächlich das Hamburg Ballett übernehmen, so wäre ihm dringend zu raten, künstlerisch spannende Choreografen von außerhalb einzuladen, um mit der fantastischen Hamburger Compagnie zu arbeiten. Das wäre auch interessanter, als alte Ballette zu wichtigen Jubiläen einzustudieren (jüngst „Don Quixote“ nach Marius Petipa), wie Neumeier das in der letzten Zeit öfter mal getan hat. Diese beweisen und halten zwar das technisch exorbitant hohe Niveau der Hamburger Tänzer. Aber sonst haben sie oft nicht mehr viel zu sagen.
Vielleicht wäre auch ein extrem auf die großen Erzählungen des Balletts konzentrierter Künstler wie Manuel Legris eine Option für Hamburg. Er kennt Neumeier, ist der klassischen Tanzkunst aufs Innigste verbunden und seit 2010 Direktor des Wiener Staatsballetts. Mit ihm bekäme Hamburg einen einstigen Star der Pariser Oper ans Haus, mit dem die hiesigen Tänzer fachlich und menschlich auffallend gern gearbeitet haben. Das Opernhaus würde er wohl kaum leer spielen, und hohe Auslastungszahlen sind der unverzichtbare Ausgleich für die nicht ganz so prächtigen Zahlen des Opernbetriebs, will man eine Etaterhöhung vermeiden.
Es gibt also einige Optionen und viele Aspekte in dieser komplizierten Gemengelage. Eine Entscheidung will wohlüberlegt sein.