Hamburg. In Billstedt können sich Patienten kostenlos über Krankheiten und Behandlungen informieren. Warum der Gesundheitskiosk revolutionär ist.

„Sieben-Minuten-Medizin“ – das ist das unschöne Schlagwort für die Behandlung von Patienten in einer Praxis. Diese durchschnittliche Dauer, die Ärzte an Zeit aufbringen können, ehe der nächste „Kunde“ wartet, wird mit Recht kritisiert. Die Ärzte stöhnen ohnehin über eine leistungsfeindliche Bezahlung, über zu viele Patienten pro Tag, zu wenig Zeit für den Einzelnen. Am Ende bleibt der Kranke mit vielen Fragen allein und googelt sich den Rest. Wie mag es da erst denen gehen, die kaum deutsch sprechen, im medizinischen Vokabular nicht zu Hause sind oder auch mit Doktor Google ihre Pro­bleme haben?

Dr. Gerd Fass (Orthopäde in Mümmelmannsberg) und Dr. Jens Stadtmüller (Kardiologe in Billstedt) haben diese Patienten zuhauf. Und sieben Minuten? Oft sind es noch weniger, die sie faktisch manche Patienten sehen. Deshalb haben sich beide wie 40 weitere Hamburger Ärzte im bundesweit einzigen Gesundheitskiosk engagiert, der Ende September in der Fußgängerzone am Billstedter Einkaufszentrum eröffnete.

Erste Bilanz nach vier Monaten

Hier kann jeder hin, der seinen Arzt nicht versteht oder die Schluckanweisungen für die Medikamente, den Blutdruck in den Griff bekommen will oder einfach nur den Stress mit seinen körperlichen Folgeerscheinungen. Die Beratung ist kostenlos. Der Gesundheitskiosk wird von den Krankenkassen AOK Rheinland/Hamburg, der Barmer und der DAK getragen, Geld kommt auch aus dem Innovationsfonds der Bundesregierung. Und seine Bilanz kann sich nach vier Monaten sehen lassen.

1200 Gespräche zwischen 45 und 60 Minuten wurden geführt, vornehmlich auf Deutsch, Türkisch, Polnisch, Farsi sowie in anderen Sprachen. Der Patient, der bei Beraterin Azize Pamukbasanoglu war, kann seinen Sohn wieder in die Schule schicken, wenn er zur Krebsbehandlung geht. Er hat jetzt verstanden, wie das Verfahren funktioniert. Und die Patientin, die von ihrem Arzt mit dem ambitionierten Ziel von 17 Kilo Gewichtsabnahme in den Kiosk geschickt wurde, hat nun einen verständlichen Plan.

Sechs von zehn „Kunden“ des Gesundheitskiosk sind Deutsche aus dem Stadtteil. Hier hat jeder Zweite einen Migrationshintergrund, jeder dritte Haushalt mit Kindern wird von Alleinerziehenden gemanagt, und es gibt deutlich weniger Ärzte als im Rest Hamburgs.

In den Praxen von Fass und Stadtmüller hat die überwiegende Zahl der Patienten nicht Deutsch als Muttersprache. Da kommt einer in Fass‘ Praxis und sagt das Zauberwort „Rücken“. Bis erfasst ist, wo genau es zwickt, welche Voruntersuchungen es gab, welche bisherigen Behandlungen, was jetzt passieren muss, wie der Patient bei der Heilung mitmachen kann – das dauert. Dr. Fass sagt: „Morgens ist der bei mir, nachmittags beim Kollegen und am Wochenende dann in der Klinik.“ Das übliche Doktor-Hopping des unverstandenen Patienten.

Da das alles viel Zeit beansprucht und hohe Kosten verursacht, kann der Orthopäde den Kranken nun mit einem weißen „Formular“ an den Kiosk in der Möllner Landstraße „überweisen“. Ein selbst gebastelter weißer Zettel ist das, völlig neu für das bürokratisierte deutsche Gesundheitswesen.

Ärzte fühlen sich durch das Angebot entlastet

„Das entlastet uns Ärzte ungemein“, sagt der Kardiologe Stadtmüller. Beim nächsten Arztbesuch hat der Patient Unterlagen dabei, einen Fragenkatalog und eventuell eine leise Ahnung, was mit ihm geschieht. „Bei den Patienten ist furchtbar viel Angst zu spüren“, so Stadtmüller. „Andere glauben, chronischer Bluthochdruck sei eine vorübergehende Krankheit, die mit 100 Tabletten gegessen ist.“

Und dem Pilotprojekt Gesundheitskiosk ist noch etwas geglückt, das seit über zehn Jahren Milliarden Euro verschlungen hat und bis heute nicht die Ergebnisse liefert, die in Billstedt zu bestaunen sind: eine digitale Datenübertragung vom Arzt zum Patienten.

Die elektronische Gesundheitskarte, die jeder beim Arzt einlesen lässt, kann auch im Jahr 2018 nicht mehr, als den Namen, die Krankenkasse und ein (nicht geprüftes) Foto des Versicherten zu zeigen. In Billstedt können sich die Patienten mit einer eigenen App („Lifetime“) die Daten vom Arzt auf ihr Handy ziehen, auch Laborwerte und Röntgenbilder. Diese Daten sind nur beim Arzt und beim Patienten. Das ist für deutsche digitale Verhältnisse eine Revolution.

Doch die Ärzte müssen ihre Kollegen überzeugen, warum es sich lohnt, beim Gesundheitskiosk mitzumachen. Viele stöhnen über die geringe Zahl an Privatpatienten und verlegen einen neuen Praxissitz lieber nach Eppendorf oder Winterhude. Hier sehen die Projektbeteiligten auch die Hamburger Politik gefordert.

Die Krankenkassen profitieren vermutlich langfristig vom Hamburger Gesundheitskiosk. Er spart Zeit und Kosten, vermindert die Bürokratie und kann nach Einschätzung von AOK-Vorstand Matthias Mohrmann bundesweite Leuchtturmwirkung entfalten, wenn messbare Erfolge vorliegen: „Wenn das in Hamburg-Billstedt klappt, warum nicht auch in Duisburg-Marxloh und anderswo?“

6,3 Millionen Euro für drei Jahre

Der Gesundheitskiosk erhält als Gesamtprojekt in drei Jahren insgesamt 6,3 Millionen Euro. Davon geht aber nur etwa jeder vierte Euro direkt in den Laden, der Rest in Gesundheitsprogramme, die Weiterbildung der sieben Mitarbeiter und die Begleitforschung. Das meiste Geld kommt vom Innovationsfonds der Bundesregierung, der mit dem Versorgungsstärkungsgesetz eingerichtet wurde. Jeder dritte Kunde kommt zum wiederholten Mal in den Gesundheitskiosk. 18 Praxen und 42 Ärzte sowie 18 Pflegeanbieter sind Partner der „Gesundheit für Billstedt/Horn“. Mitinitiator des Projekts ist der HNO-Arzt Dr. Dirk Heinrich aus Horn, der auch der Vorsitzende der Vertreterversammlung in der Kassenärztliche Vereinigung Hamburg ist. Das UKE begleitet das Projekt wissenschaftlich.